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»Weshalb drei?«, wunderte sich de Breukelen. »Magnete besitzen nur zwei Pole.«

Stevenson lächelte anerkennend. »Gut mitgedacht. Aber wir benötigen drei Pole, um Dreidimensionalität zu erzeugen. Das funktioniert sogar bei gedruckten Karten, wenn auch nicht optimal. Sie werden durch ein dreidimensionales Modell der Umgebung steuern können.«

De Breukelen war beeindruckt. Sollte Stevenson recht behalten, war dies revolutionär.

»Ein Denkballon!«, murmelte er andächtig. »Künstliches Denken. Kein Wunder, dass Lady Summer Ihnen die Erlaubnis gab. Wir sind stolz auf die Queen. Sie besitzt Zweifachexpansionsdampfmaschinen und die wunderbarsten, exzentergesteuerten Radschaufeln. Rohrpost in jeder Kabine … aber das!«

Stevenson legte einen rot gefärbten Kippschalter um.

»Wollen Sie es testen?«

De Breukelen reichte ihm eine Karte des Seegebietes um Greenock bis hinunter zum Firth of Clyde.

Stevenson lächelte. »So vorsichtig? Die Kapazität reicht für sehr viel mehr …«

De Breukelen hob entschuldigend beide Hände. »Überzeugen Sie mich, dann werde ich Ihrem Denkballon mehr zu futtern geben, als er verdauen kann.«

Vorsichtig legte Stevenson die Karte in die Mitte der drei Pole zwischen eine Eisen- und eine Kupferplatte, etwa fünf Zentimeter darüber. Sie waren über eine Zahnradschiene in der Höhe verstellbar. Es knisterte, dann zuckten bläuliche Elmsfeuer über die Platte und über die Karte.

In diesem Augenblick kam es zur Katastrophe. Ein Blitz fuhr aus den Gewitterwolken in die Halle hinab und schlug in die vier Spannungsabnehmer. Weißes Licht und Donner tobten sich gleichzeitig aus. Die Kabel leiteten den Strom ins Schiff. Zehn Millionen Volt und hunderttausend Ampere – eine Hölle aus Energie. Hölzernes Bersten und metallisches Kreischen drang durch den Lärm der Werft. Dazu etwas wie ein Schrei.

Hoffentlich sind die Schaufelräder unbeschädigt!, schoss es de Breukelen durch den Kopf. Geblendet taumelte er zurück und klammerte sich dann krampfhaft ans Steuerruder. Es stank. Ozon lag in der Luft. Zerschmetterte Sauerstoffmoleküle, die sich zu ihren abartigen Dreierkonstellationen verbanden. Rauch von brennendem Holz und der erstickende Geruch von glühendem Metall mischten sich darunter.

De Breukelen rang nach Luft. Er hustete. Seine Haut, besonders die Fingerspitzen kribbelten widerwärtig.

Nur langsam kehrte das normale Bild der Welt zurück. Der Steuermann blinzelte.

Alan Stevenson war verschwunden. Aufgelöst. Verkocht. Vaporisiert.

Der Glasballon hatte sich dunkel verfärbt, als habe sich von innen Ruß an die Hülle angelagert, schwarz wie das Innere eines Krematoriums.

Die einzige Spur von Stevenson war ein undeutlicher, grünlicher Schatten auf der Eisenplatte: ein Handabdruck.

29. April 1920

Cairngaan, Wigtownshire, nördlich des Mull of Galloway

15:07 Uhr

Das Schiff stampfte und rollte. Wellen und Brecher schlugen gegen den Rumpf. Gischt spritzte und in den wilden, heulenden Böen ging jedes Wort unter.

Sie hält sich gut!, dachte de Breukelen beeindruckt. Raddampfer wie die Queen waren naturgemäß sehr viel stabiler und leistungsfähiger als die historischen Vorgänger, aber Hochseeschiffe waren sie nicht. De Breukelen hatte von einem französischen Schiffsbauer gehört, der das ändern wollte, aber die Robur würde erst in einigen Jahren gebaut werden können. Noch beschäftigte man sich in Saint-Nazair, in den Chantiers de l'Atlantique, den Atlantikwerften, mit den enormen Schwierigkeiten der Rumpfkonstruktion. Ob man dann allerdings einen Transatlantikverkehr würde aufbauen können, wie man seit der Ankunft von John Scott hoffte, bezweifelte er. Scott war von Greenock nach Saint-Nazair gegangen und hatte das Ingenieurswissen mitgenommen.

Es bleibt spannend … aber auf jeden Fall sind die Franzosen im Hintertreffen, dachte er zufrieden. Hätten vielleicht bei ihrem Cognac bleiben sollen.

Gordon MacKeldeys Schwindsucht hatte sich verschlimmert, nachdem ein Brecher den Mann durchnässt hatte. Das eiskalte Wasser des Firth of Clyde war Gift für ihn. De Breukelen gab ihm noch einige Wochen, maximal ein Vierteljahr. Dass der Tod MacKeldeys Namen ausgesprochen hatte, wusste jeder, der ihn ansah.

»Muir Éireann … zum Teufel damit!«, knurrte De Breukelen verbittert. »Kann was Gutes dabei rauskommen, wenn die verdammten Iren mit drinstecken? Irische See … ich lach mich tot! Aber für das verdammte Sauwetter wär's eine Erklärung.«

Es war kurz nach drei Uhr nachmittags, aber so dunkel, wie zur Mitternacht. Ein Blitz zuckte weißviolett quer über den Himmel und beleuchtete die Küste, die für De Breukelens Geschmack viel zu nahe kam. Sie standen auf der Höhe von Wigtownshire, am Leuchtturm von Cairngaan, genauer gesagt des Mull of Galloway.

Außer dem Leuchtturm gab es dort nichts zu sehen und in diesem Moment machte das Leuchtfeuer keine Ausnahme. Mehr als ein müdes Flackern drang nicht durch Nebel, Wolken und Regen.

De Breukelen fluchte wie ein Rohrspatz. Er konnte sich vorstellen, wie Lady Summer und ihre Mutter, deren Gesundheit ohnehin angegriffen war, in ihrer Kabine durchgerüttelt wurden. Die Eignerin hatte sie gegen die Empfehlung des Kapitäns an Bord gebracht, zusammen mit ihrer eigenen Krankenschwester. Einem aparten, dunkelhaarigen Ding namens Ann, das bereits eine halbe Stunde nach dem Auslaufen intensive Bekanntschaft mit der Reling gepflegt hatte. De Breukelen hatte sich zwar amüsiert, aber doch Mitleid mit ihr gehabt. Grün stand der Schwester nicht besonders.

»Immerhin haben die Fische ein wenig profitiert«¸ murmelte De Breukelen. »Jedem das seine …«

Die Queen kämpfte sich mit ihren beinahe siebenunddreißig Metern Länge durch eine wüste Strömung.

Hältst dich gut, Kleine!, dachte der Steuermann.

Die Meldungen aus dem Maschinenraum waren beruhigend. Die beiden Dampfmaschinen taten ihren Dienst ohne Wenn und Aber. Allerdings ging das Zischen der Ventile im Lärm des Unwetters unter.

»Das wär’ etwas für den Cousin dieses versponnenen Ingenieurs gewesen. Ein richtiges Abenteuer«, sagte er leise. Er dachte häufig an den Unglücklichen, der den Unfall mit seinem Leben bezahlt hatte. Später hatte er erfahren, dass Alan Stevenson tatsächlich mit dem bekannten Schriftsteller Robert Louis Stevenson verwandt gewesen war. Auch er war jung gestorben: mit nur vierundvierzig Jahren … ausgerechnet an der Schwindsucht.

Kein gutes Omen!, schoss es ihm durch den Kopf, denn dass MacKeldey den Sommer noch erleben würde, glaubte keiner.

Der Steward brachte ihm einen starken Kaffee und goss, so gut er konnte, einen üppigen Schuss Whisky dazu. Er kannte De Breukelen lange genug.

»Wie sieht’s aus auf meinem Schiff?«, fragte Kapitän Van Royen, als er die Brücke betrat. Wasser rann von dem dicken Wachstuchmantel zu Boden und bildete eine Pfütze.

Montgomery Cliff rieb sich den kurzen, dunklen Bart und packte die Flasche in eine Tasche. Der Steward blieb diskret, so gut er konnte. »Kunigunde hat einige Kunden«, sagte er. »Die Lady allerdings hält sich ausgezeichnet.«

Van Royen lächelte schmal und zog die Mütze ab, die trotz des Wachstuchs klitschnass war. »Unsere Krankenschwester tut ohne Frage ihr Bestes«, sagte er. »Unser Doc hingegen wird hauptsächlich sich selbst kurieren, denke ich.«

Jetzt grinste der Chefsteward. »Das kann man so sagen. Aber ich fürchte, sein Spezialvorrat an Absinth wird unter diesen Umständen nicht lange halten … Er hat noch vor dem Ausdocken eine Lieferung aus Val-de-Travers, Neuchâtel an Bord schaffen lassen. Diese Fee ist besonders grün …«

»Prost!«, kommentierte De Breukelen trocken.

»Unser Maschinist macht sich auf jeden Fall keine Sorgen«, sagte Montgomery Cliff. »Wie er so schön sagte, schnurren seine zwei Lieblinge wie zufriedene Kätzchen.«

»Gute Nachricht«, sagte Van Royen und griff nach De Breukelens Becher. Der verzog das Gesicht, als der Kapitän einen großen Schluck nahm und dann die Stirn runzelte. »Ich hoffe, sie haben die Sauferei im Griff, De Breukelen. Wir sind in Ihren Händen.«

Der Steuermann winkte ab.

Ein Blitz fuhr in die Blitzableiter. Man hatte Stevensons Konstruktion nicht abgebaut, dafür war keine Zeit geblieben. Der Blitzschlag, der den Ingenieur getötet hatte, hatte auch Schäden an der Queen verursacht, deren Behebung sehr viel dringlicher gewesen war. Jetzt war De Breukelen froh darüber.

Mit einem Mal war es hell auf der Brücke. Ein rötlicher Schein drang aus dem geschwärzten Glasballon.

Der Steward ließ die Kaffeekanne fallen.

»Was zum Henker …«, keuchte Van Royen.

De Breukelen ließ das Steuerruder nicht los, obwohl ihm danach war.

Der rote Schein intensivierte sich, bis er die Farbe von arteriellem Blut angenommen hatte.

»Sehen Sie …«, stotterte der Steward und deutete auf den Glasballon. Die haarfeinen Wolframdrähte glühten, aber das war nicht das Schlimmste. Im Innern des Ballons formte sich ein Gesicht. Ein pausbäckiges, schreiendes Gesicht.

»Stevenson!«, entfuhr es De Breukelen. »Seine Maschine hat ihn gespeichert …«

Dann zerbarst das Glas und überschüttete die drei Männer mit spitzen, scharfen Scherben. De Breukelen fühlte etwas Warmes von seiner Stirn laufen. Ein Brecher zwang ihn, sich auf die Steuerung des Schiffes zu konzentrieren.

Van Royen schickte Cliff nach unten, zu Doktor Gunter von Stolzenfels. De Breukelen hoffte, dass der Arzt nicht zu betrunken sein würde. Die Scherbe, die in Cliffs Wange steckte, sah nicht gut aus.

»Das war tatsächlich Stevenson, oder?«, fragte Van Royen dann mit rauer Stimme. »Sie haben ihn ebenfalls gesehen?«

De Breukelen nickte verbissen. »Eindeutig.«

»Ist er … jetzt tot? Endgültig?« Van Royen hatte sich verkrampft. Der Vorfall musste den beherrschten Mann enorm verunsichern. Aber De Breukelen war ehrlich genug zuzugeben, dass es ihm kein bisschen besser ging.

»Ich weiß es nicht«, sagte er. Er deutete auf ein leichtes, rötliches Flackern, das über einige Metallbeschläge huschte. »Aber mein Gefühl sagt mir, dass das nicht das Letzte war, was wir von Mister Stevenson gesehen haben.«

Als die Queen einige Tage später Brest erreichte, wusste es bereits jeder an Bord. Die Steampunk Queen hatte ein neues Besatzungsmitglied. Den Geist des unglücklichen Alan Stevenson …



Christian Künne: Thalassas salzige Tränen

Eines Nachts starb das Meer

von einem Ufer zum andern,

sich faltend, schrumpfend,

ein Mantel, den man fortnimmt.

Der Tod des Meeres, Gabriela Mistral

19. Mai

Marseille im Rücken nehme ich die Steampunk Queen in Augenschein, suche nach den Schatten zwischen den Decks und betrachte die verzerrten Bildnisse der Schaufelräder auf dem Schiffsrumpf, die durch das Licht der Hafenlaternen erzeugt werden. Groteske Mäuler mit spitzen Zähnen.

Das Rasseln der Industrieanlagen ergänzt das Bild, es fehlen nur die aufsteigenden Rauchschwaden. Die Kessel der Steampunk Queen scheinen noch nicht voll angeheizt zu sein, das Dröhnen der Dampfmaschinen ist abwesend. So bleiben nur die Schattenbilder und der Trug des Schiffs. Mein Zuhause für die nächsten Tage, unfreiwillig, aber notwendig.

Ich nehme meinen Koffer in die Hand und mache mich auf den Weg zur Gangway. Unten wartet ein Mitglied der Mannschaft, wünscht: »Bon soir!«

Ich nicke nur und reiche ihm meine Fahrkarte. Auf Nachfragen nenne ich ihm einen Namen für die Passagierliste: »Kelvin Potamoi.« Er spielt keine Rolle, ich nutze ihn nur für die Kreuzfahrt.

»Die Begrüßung der Passagiere hat erst vor wenigen Minuten begonnen.« Mit einem Lächeln gibt er mir meine Fahrkarte zurück.

Ich nicke wieder und spreche dann doch ein paar Wörter, als er einen Kabinenjungen herbeiwinken will. »Danke, mit dem Koffer werde ich allein fertig.« Dann laufe ich die Gangway hinauf an Deck der Steampunk Queen.

Das Begrüßungszeremoniell interessiert mich nicht, so wende ich mich gleich ins Innere des Schiffs und suche nach meiner Kabine. Die Beschilderung ist verständlich und der Teppich auf den Fluren verschluckt meine Schritte.

So finde ich schnell und unauffällig meine Kabine, öffne die Tür und trete in das geräumigste Zimmer einer zweiten Klasse, das ich je gesehen habe. Doch die moderne und verspielte Einrichtung kann nur für einen Augenblick meine Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Ich werfe den Koffer auf das Bett und schlüpfe aus meinem Mantel, der neben dem Koffer landet. Mit einem leichten Seufzen balle und öffne ich die Fäuste. Fast scheint mir, als würde Dampf aus ihnen entweichen. Doch das ist nur Einbildung. Das Zischen rührt woanders her.

Ich knie mich vors Bett und ziehe den Koffer heran, lasse die Verschlüsse aufklappen. Ich öffne den Koffer und hebe vorsichtig den mechanischen Würfel heraus. Er ist kaum größer als meine Faust, aber schwer. Fein gearbeitete Platten zeichnen sich unter den Verzierungen ab, ein komplexer Schließmechanismus hält den Würfel in seiner Form.

»Hallo, Thalassa«, flüstere ich.

Der Würfel ist mehr als ein mechanisches Kunstwerk. Er ist ein Behältnis. Vielleicht eher ein Gefängnis. Dort drin ist das Meer selbst. Die mediterrane See, ihr Geist, ihre Seele. Thalassa.

Zwischen den feinen Platten des Würfels quillt ein Tropfen hervor. Es ist eine ihrer salzigen Tränen. Mit dem Daumen streiche ich sie weg und führe ihn zu den Lippen. Koste die Träne. Schließe die Augen bei diesem salzigen Geschmack. Schließe die Augen, um ihre Bilder in mich aufzunehmen.

20. Mai

Ich war für wenige Minuten an Deck, doch wurde von der Geschwätzigkeit einer älteren Dame ins Innere verjagt. Die Sonne verursachte ohnehin Kopfschmerzen und von der Reling aufs Meer zu blicken, war nicht sonderlich erbauend.

Mir ist jedoch klar geworden, dass ich mich hier an Bord der Steampunk Queen unauffällig einfügen kann. Meine verschrobene Persönlichkeit und meine Unkenntnis sozialer Gepflogenheiten fallen hier nicht ins Gewicht. Ein Blick auf die Passagiere und die Mannschaft hat mir diese Erkenntnis gebracht.

Am Morgen ist die Leiche der Schiffseignerin von Bord gebracht worden. Der erste Tod, bevor die Überfahrt überhaupt beginnt. Zu kümmern scheint das keinen. An Bord wird ausschweifend die Freizeit genossen und einige der Passagiere unternehmen einen Ausflug zur Île d’If in die alte Gefängnisanlage.

Ich nehme den Würfel zur Hand, wische die hervorquellende Träne ab und koste ihren Geschmack. Ein Gefängnis für das Meer. Ja, ein Gefängnis, so muss ich es wohl nennen.

Ich habe sie eingesperrt. Es war eine lange Suche, bis ich sie fand. Thalassa mir nach all den Mühen in die Falle ging. Nicht weit von hier, in der Stadt Marseille, im Delta der Rhone stieg sie aus einem der Etang der Camargue, der Marschlandschaft zum Mittelmeer. Halb durchsichtig, den gehörnten Kopf stolz erhoben, angstfrei auf mich blickend. Und dann war da der Würfel, entfaltet zu ihren Füßen, auf den sie trat, der sich schloss, sie in sich aufnahm und einsperrte. Die unbestechliche Mechanik arbeitete wie vorgesehen.

Jetzt ist sie hier, meine Thalassa, und reist einmal über das Meer, über sich selbst. Von Nord nach Süd, von West nach Ost. Der Weg, um sie zu bändigen. Mich ihrer Macht zu bedienen.

Ich höre das Ausflugsboot, diesen leicht stotternden Dampfmotor. Die Ausflügler haben die Gefängnisinsel verlassen und kehren zurück.

»Du musst nicht auf einem kargen Felsen ausharren«, flüstere ich und weiß, dass ihr Dasein in dieser Kabine, in diesem Würfel, so nah dem Meer, wenige Meter über der Oberfläche, vergleichbar mit einem Ausharren auf der Felseninsel ist. Ein lichtloser Kerker, das Geräusch schlagender Wellen.

21. Mai

Wir erreichen Genua und ich blicke aus dem Bullauge auf die historienreiche italienische Stadt. Demonstranten brüllen uns lautstark ihre Parolen entgegen. Es liegt der widerliche Gestank eines politischen Umsturzes in der Luft.

Die Regeln ändern sich, der Rahmen ändert sich. »Das gilt auch für dich.« Ich habe den Würfel in der Hand und stelle mir Thalassa vor, ihre ungreifbare Form, nun eingeschlossen. Nur ihre Tränen treten hervor, langsam, aber stetig. Ich trinke sie, jede einzelne, und die Bilder gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Und mehr noch.

Das Bullauge ist geschlossen, und doch nehme ich jedes einzelne Wort der Faschisten dort im Hafen wahr. Ich rieche den Rauch, der auf und über der Stadt liegt, höre die Dampfwagen, wie sie durch die Straßen stampfen.

Das Schiff selbst hat sich verändert, auch hier gibt es neue Regeln, eine neue Situation. Diebe, die durch die Flure schleichen, Spione und Mörder, Ermittler und solche, die sich dafür halten. Ich höre sie alle in der Nacht, neben dem Rauschen der Postzylinder in den Rohren, das Stampfen der Kolben der Maschinen, das Zischen entweichenden Dampfs. Und das Umpflügen des Meeres durch die Schaufelräder, rhythmisch, aber nicht weniger aufwühlend.

Es ändert sich alles, im Kleinen wie im Großen. Draußen sind die italienischen Faschisten und greifen alsbald nach der Macht. Auf dem Schiff wird der Dekadenz gefrönt, auf den Tod angestoßen und deutlich gemacht, dass auch hier auf der Steampunk Queen etwas unter der Oberfläche brodelt. Es schreit nach Umsturz. Die Dampftechnik schützt nicht, sie blendet.

»Altes vergeht«, flüstere ich dem Würfel zu und Thalassa vergießt eine weitere Träne. Mein Umsturz wird kommen, der der anderen wird dagegen klein sein.

22. Mai

Eine weitere italienische Stadt ist erreicht. Faschistische Demonstranten bleiben uns in Neapel erspart. Ich bleibe an Bord, bleibe in meiner Kabine an der Seite Thalassas, und doch erkenne ich mit einem Blick, wie anders Neapel im Vergleich zu Genua ist.

Die Stadt hängt Jahrzehnte hinterher, der Fortschritt hat kaum Einzug gehalten. Da verwundert es nicht, dass heute ein Ausflug nach Pompeji geplant ist. Dort ist das Alte konserviert, frühere Leben, eingeschlossen in Asche.

»Das Alte vergeht«, wiederhole ich. Aber es verschwindet nie vollständig.

Ich nehme den Würfel und betrachte ihn von allen Seiten. Er ist für die Ewigkeit konstruiert. Thalassa wird in ihm konserviert. Doch im Gegensatz zu den veraschten Bewohnern Pompejis ist Thalassa noch sehr lebendig. Sie kann um ihr Schicksal weinen.

Ich warte mittlerweile auf jede Träne, die zwischen den Platten hervorquillt, kann es nicht mehr erwarten, sie auf der Zunge zu schmecken. Ihr Bild steht klar vor meinen Augen. Sie ist nicht länger durchsichtig, sondern hat eine klare Kontur. Ihre Form zeichnet sich gegen die anderen Elemente ab. Sie steht vor dem Himmel, sie steht vor der Erde, sie steht vor dem Feuer.

Sie steht vor dem Feuer.

25. Mai

Die Passagiere und die Mannschaft nehmen mich nicht mehr wahr. Sie sehen mich nicht, wenn ich mich zwischen ihnen bewege. Sie hören meine Worte nicht, doch ich spreche sowieso wenig. Ich fließe unsichtbar wie teilnahmslos zwischen ihnen, in den wenigen Momenten, wenn ich meine Kabine verlasse.

Nur der mechanische Mann sieht mich noch, blickt mich mal traurig, mal gehetzt an. Aber wir sprechen nicht, halten nicht voreinander inne.

Wir liegen vor Tunis, Nordafrika, und einige der Passagiere haben sich zu den Ausgrabungsstätten von Karthago aufgemacht. Die mythische Stadt, hingeschlachtet und verschlissen.

Eine Sagenstadt. Und an Bord der Steampunk Queen Sagengestalten. Thalassa in ihrem Würfel ist dagegen normal. Die Technik hat die Magie abgelöst, aber das Sagenhafte ist geblieben.

Das Schiff schwebt über dem Wasser, die Dampftechnik lässt uns immer schneller die Welt erobern und sogar künstliches Leben erschaffen. Der mechanische Mann lässt mich darüber nachdenken, wie echt ich selbst eigentlich noch bin.

Ich scheine mich in der Realität zu verzerren. Thalassa, die Sagengestalt, gefangen in der sagenhaften Technik des Würfels. Es ist eine Veränderung, eine Umkehrung gar.

Ich nehme es an, dieses Opfer, jetzt nach der ersten Nord-Süd-Passage. Seit heute weine ich selbst.

28. Mai

Wo, Malta, ist deine stählerne Zunge? Du bist unter fremder Herrschaft in die Bedeutungslosigkeit versunken. Es legt sich eine Traurigkeit auf mein Gemüt, die umso schwerer wiegt, als ich den Motor des Ausflugsboots vernehme.

»Wie bedeutungsvoll wirst du noch sein«, flüstere ich und streichle den Würfel. Wir weinen gemeinsam, Thalassa und ich. Nur ich allein schmecke beide Tränen.

Ich bin noch ausgezehrter als zuvor, entrücke dieser Realität weiter. Glaube ich, kann es aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich fühle die Bewegungen des Meeres durch den Schiffsrumpf, das Zittern des Wassers, ausgelöst von den Dampfmaschinen, die die Steampunk Queen vorwärts schieben. Das alles spüre ich überdeutlich.

Vor einigen Tagen habe ich den Apparat gesehen, der Bilder einer parallelen Welt zeigt. Die Magie benötigen wir nicht mehr, es wird deutlicher und deutlicher. Dabei spreche ich mich für sie aus, nun, da sie langsam und stetig in mich einsickert.

Malta, ich sehe eine andere Realität ohne diesen Apparat, wo du deine stählerne Zunge gespitzt hast, dein stählerner Arm weit reicht und gewaltige Dampfmaschinen deine Inseln durch das Meer schieben. Oder ist es Trug?

»Thalassa, sag mir, wie bewegen sich die Inseln auf dir?«, flüstere ich und falle in einen unruhigen Schlaf.

1. Juni

Meine Gedanken wandern ein Labyrinth hinab, haben keinen Faden, der sie wieder hinausführt. Die Steampunk Queen liegt wieder in einem Hafen, auf Kreta, denke ich. Ich höre die Dampfmaschinen einer Stadt, die Dampfmaschinen der Schiffe, alles trägt sich fort durch das Meer, weiter über den Schiffsrumpf in meine an die Wände gepressten Hände.

Da, Zahnräder, die ineinandergreifen. Ist der mechanische Mann noch an Bord? Oder ist es der Schachapparat? Der Projektor, der Bilder einer anderen Welt zeigt? Ist es das Schiff selbst, das große Uhrwerk, das es am Leben hält? Die Dampfgrammofone, die mechanische Musik spielen?

Ich nehme den Würfel, flüstere sinnfreie Worte zu Thalassa. Feine Mechanik verschließt das Innere. Die Platten liegen artig aneinander. Eine Träne quillt hervor. Sie hat den Weg hinausgefunden. Ich nehme sie auf die Fingerspitze und diese in den Mund. Es schmeckt salzig. Ein blauer Abgrund in der Mitte des Labyrinths.

3. Juni

Wir ankern vor einem kleinen Küstenort. Zypern, denke ich. Durcheinanderredende Menschen, ein stotternder Dampfmotor. Das Ausflugsboot startet. Ich liege auf dem Bett, halte den Würfel an meine Brust und stütze mich auf den einen klaren Gedanken, der mir bleibt. Ich bin noch hier.

Die West-Ost-Querung ist beendet. Es bleibt nur noch eine Station übrig. »Thalassa, bald ist es vorbei.« Ich weiß nicht mehr, was das bedeutet.

Ich sehe eine Figur, die den Schaumkronen der Wellen entsteigt. Sie öffnet sich und lächelt freundlich. Ist sie es? Sie sieht so anders aus. Nein, nein, die Tochter entsteigt hier dem Meer. Aphrodites Lächeln wandelt sich zur Anklage. Ihre Augen sagen, dass es nun keine Liebe für mich mehr geben wird.

Meine Finger liegen auf der Schließmechanik des Würfels und ich kann sie gerade noch davon abhalten, sie zu betätigen. Ich kann Thalassa nicht freilassen. Trotz aller Anklagen.

Nein, nicht mehr lang. Morgen, morgen gehe ich wieder an Land, verlasse dieses verdammte Schiff. Was wollte ich?

4. Juni

Es ist Abend und ich geh kurz nach dem Anlegen von Bord. Verlasse die Steampunk Queen, werfe einen letzten Blick auf die Schaufelräder, auf die Schornsteine und spüre dem Vibrieren der Dampfmaschinen nach. Ich bin erholter als in den letzten Tagen.

Das Meer ist gequert und ich beeile mich, mit schnellen Schritten den Hafen von Alexandria zu verlassen und einen ruhigen Abschnitt am Meer zu suchen.

Alexandria, früherer Leuchtturm des Wissens, vergangen, hinfortgespült. Wie mein Wissen fortgespült wurde, zuerst in Tränen angereichert, dann von ihnen erstickt.

Die Tränen sind versiegt. Der Würfel liegt schwer in meiner Hand. Ich glaube, es ist alles auf mich übergegangen. Aber nun will ich es nicht mehr. Es ist nicht das, was es sein sollte. Ich kann das Meer nicht aufnehmen. Ich will es nicht.

Ich will den Würfel öffnen. Mit einem Handgriff ist der Schließmechanismus gelöst und der Würfel faltet sich auseinander. Das enthaltene Wasser beginnt, eine Form zu bilden, richtet sich auf, zeigt Konturen, ein Gesicht und schließlich steht Thalassa vor mir.

»Verzeih«, flüstere ich und weiß, dass es kein Verzeihen geben wird, kein Verzeihen geben kann.

Sie tritt einen Schritt zurück. Ich trete einen Schritt vor. Der Würfel faltet sich. Blaue Unendlichkeit.

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