Читать книгу: «Das Präsidium», страница 3

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Für die langen Fahrten brauchte er einen zuverlässigen Beifahrer, mit dem er sich am Steuer abwechseln konnte. Und blöd wie er war, hatte er sich seinen alten Kumpel Zoran dafür ausgesucht. Und natürlich für ihn gebürgt ...

Maik drückte die Zigarette an der mit Graffitis beschmierten Glaswand aus und machte sich an den Abstieg. Am Anfang hatte er jedes Mal einen Drehwurm bekommen, wenn er die Wendeltreppe zu schnell hinuntergepoltert war. Unten angekommen, war er dann wie ein Betrunkener mit dem Kopf gegen eine der massiven Querstreben getaumelt und hatte sich die eine und andere üble Beule zugezogen.

Heute machte er langsam, auf halber Höhe saß eine Taube im Gebälk und gurrte ihn an.

»Scheißvieh«, zischte Maik, es kam ihm so vor, als lache die Luftratte ihn aus, weil er so naiv gewesen war, seinem Jugendfreund Zoran zu vertrauen.

Sie waren im Stadtteil Frankfurter Berg aufgewachsen und hatten beide das gleiche Problem: Ihre Namen weckten falsche Vorstellungen. Zoran war kein Jugo und Maik kein Ossi. Er war zwar in Thüringen geboren, aber mit seiner hessischen Mutter schon im zarten Alter von zwei Jahren nach Frankfurt gekommen. Auch das hatten die beiden Jungs gemeinsam: alleinerziehende Mütter, die mit ihren Söhnen heillos überfordert waren.

Mit Zoran hatte er damals im Viertel Automaten geknackt und war nachts in Wasserhäuschen eingestiegen, und als sie erwischt und vom Jugendgericht verknackt wurden, hatte er mit ihm zusammen Sozialstunden abgeleistet. Später hatten sie sich aus den Augen verloren. Maik war nach der Hauptschule (und ein paar abgebrochenen berufsvorbereitenden Maßnahmen und Lehrstellen) ein paar Jahre beim Bund hängengeblieben, hatte später im Sicherheitsdienst und als Türsteher gearbeitet und nebenbei immer mal was vertickt, Hehlerware an den Mann gebracht, mit weichen Drogen gedealt, Autos der gehobenen PS- und Preisklasse ›überführt‹, die bei Nacht und Nebel den Besitzer wechselten.

Dann kam der Job als Kurierfahrer und ausgerechnet da war ihm Zoran wieder über den Weg gelaufen – der gute alte Zoran, nicht besonders helle in der Birne, aber einer, auf den man sich immer verlassen konnte. Zumindest hatte er das bis vor rund 24 Stunden geglaubt.

Der alte Teil des Präsidiums war ein Konstrukt aus endlosen Fluren, Zimmerfluchten und Treppenhäusern, die einem die Orientierung raubten, wenn man zum ersten Mal hier war. Mittlerweile fand sich Maik notfalls auch nachts mit einer kleinen Taschenlampe zurecht, wenn er auf den Wegen blieb, die ihm vertraut waren. An einem Sommertag wie heute schien die Sonne durch die hohen Fenster und ließ die Staubkörner auf den Fluren in der Luft tanzen. Die zugemüllten und von Unkraut überwucherten Innenhöfe wirkten dann wie verwunschene Oasen, die einen lockten und gleichzeitig abstießen.

Maik machte sich auf den Weg in den Neubau des Präsidiums, der über einen brückenartigen Verbindungsgang vom alten Gebäude aus zu erreichen war. Hier war die Feuchtigkeit teilweise schon so tief ins Mauerwerk eingedrungen, dass in manchen Zimmern farnartige Pflanzen zwischen den Bodenplatten hervorwuchsen und grüner Schimmel großflächig die Außenwände bedeckte. Einige der Zimmer im zweiten Stock waren jedoch in passablem Zustand, hier hingen sogar noch die alten Büroschilder der entsprechenden Kommissariate vor den Büros.

Maik betrat das Büro, in dem er die Nacht verbracht und seinen Rucksack zurückgelassen hatte. Vom Fenster aus sah er auf die Mainzer Landstraße herunter, Autos fuhren vorbei, Menschen bevölkerten die Bürgersteige, eine Ampel sprang auf Rot, der Verkehr stockte. Ein LKW bremste abrupt ab und der tiefergelegte Sportwagen hinter ihm wechselte rasant die Spur.

Der Klingelton seines Handys ließ ihn zusammenzucken. Bisher hatte er alle Anrufe unbeantwortet gelassen, aber er wusste, dass er früher oder später rangehen musste.

»Ja?«, meldete er sich, und der Anrufer sagte genau das, was Maik erwartet hatte.

»Er hat Scheiße gebaut, ja, ich weiß, aber ...«

Der Anrufer ließ ihn nicht ausreden. Sie hatten den BMW am Osthafen gefunden. Natürlich ohne die Ware. Sie hatten Zoran in einem Puff im Bahnhofsviertel aufgestöbert, er war ihnen aber entkommen. Offenbar hatte er sogar einen seiner Verfolger erschossen, aber wohl auch selbst etwas abbekommen. Ob er wisse, wo sein Kumpel jetzt stecken könne?

Maik dachte fieberhaft nach, aber ihm fiel nur die kleine heruntergekommene Hochhauswohnung im Niederräder Mainfeld ein, in der Zoran zuletzt gehaust hatte, aber so doof, sich dort zu verstecken, war noch nicht einmal Zoran. Er versprach dem Anrufer trotzdem, dort als Erstes zu suchen.

»Ich finde ihn, okay? Ich bring das wieder in Ordnung, garantiert, ich brauche nur ...«, sagte Maik, aber der Mann schnitt ihm erneut das Wort ab.

Maik ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und atmete erschöpft aus.

»Eine Woche«, hatte der Anrufer gesagt und aufgelegt.

***

»Hier entlang geht’s zu den Mädels, Kumpel.« Der Typ, der rauchend im Hauseingang lehnte, zwinkerte Thomas zu.

Offenbar war er etwas zu lange stehen geblieben und wirkte jetzt wie ein schüchterner Freier, dabei war er nur verwirrt. Thomas schüttelte den Kopf.

»Dann halt nicht«, knurrte der Typ, warf seine halbgerauchte Zigarette auf die Straße und verschwand wieder im Haus.

Thomas sah auf den Schlüssel in seiner Hand. Was machte er da eigentlich? Was war denn nur in ihn gefahren? Noch konnte er umkehren und ... und was?

Der Mann im Klo war jedenfalls tot. Der stellte keine Forderungen mehr. Der Wirt würde ihn früher oder später finden und die Polizei rufen. Thomas dachte an die Waffe. Noch nie in seinem Leben hatte jemand mit einer Waffe auf ihn gezielt. Einer scharfen Waffe. Thomas bekam sofort wieder weiche Knie, wenn er daran dachte.

Wieder sah er auf den Schlüssel in seiner Hand. Was auch immer in diesem Schließfach war, es konnte nichts Gutes sein. Vielleicht war es aber auch nur ein Sack mit Schmutzwäsche oder die Habseligkeiten eines kleinen Milieugangsters. Oder aber doch ein Koffer voller Geld? Quatsch, dachte er, so etwas gibt es nur im Fernsehen.

Er konnte immer noch zur Polizei gehen, eine Aussage machen, alles erklären. Er war in Panik geraten und abgehauen, dafür mussten die doch Verständnis haben. Dafür wurde man doch nicht gleich irgendwie belangt. Die Situation war schließlich auch alles andere als gewöhnlich.

Während er noch darüber nachdachte, was er der Polizei erzählen würde (und was eher nicht), war Thomas die Taunusstraße weiter in Richtung Hauptbahnhof gegangen. Er nahm die Rolltreppe zur B-Ebene hinunter und dann den Aufgang zur Bahnhofshalle auf der gegenüberliegenden Seite. Aus den Geschäften und Stehcafés kamen Reisende und sahen gehetzt auf die große Anzeigetafel an der Stirnseite der Halle. Thomas folgte den Hinweisschildern zu den verwinkelten Wänden mit den Schließfächern. Er verglich die Schlüsselnummer mit den Türreihen und fand das entsprechende Fach ohne Probleme.

Er wartete, bis ein langhaariger Rucksacktourist seine sieben Sachen in einem großen Bodenfach verstaut hatte und er zumindest für einen kurzen Moment allein war. Durch die Fenster im oberen Drittel fielen Sonnenstrahlen in den schmucklosen Raum mit den zerkratzten Spinden, vor dem Bereich mit den Schließfächern befand sich ein Durchgang nach draußen zum Bahnhofsvorplatz. Hier würde man wohl nie gänzlich unbeobachtet sein.

Thomas zögerte. Ein Gedanke durchzuckte ihn: Gab es hier eigentlich Überwachungskameras? Er sah sich um, konnte aber nirgends etwas entdecken, auch entsprechende Hinweisschilder waren ihm nicht aufgefallen. Dann rief er sich zur Ordnung. Er verhielt sich ja schon selbst wie ein Krimineller, dabei konnte er das, was er in dem Schließfach fand, später immer noch zur Polizei bringen.

Genau das würde er auch tun. Und mit diesem Vorsatz öffnete Thomas das Fach.

Eine blaue Adidas-Sporttasche mit Reißverschluss und Trageriemen befand sich im Inneren. Thomas atmete einmal durch, dann nahm er sie heraus. Sie war nicht besonders schwer. Wechselwäsche, ein Kulturbeutel, ein Paar Schuhe, vom Gewicht käme das hin. Beinahe hätte er gelacht. Trotzdem war er nicht so leichtsinnig, die Tasche hier zu öffnen.

Der Toilettenbereich im Hauptbahnhof war zahlungspflichtig, aber dafür sauber. Er warf einen Euro in den Automaten an der Schranke und betrat den gefliesten Raum, der gerade von einem dunkelhäutigen jungen Mann im weißen Kittel geputzt wurde. Der Junge hatte Audiostöpsel in den Ohren und lächelte beseelt bei der Arbeit. Thomas schloss sich in einer der rundum dichten Kabinen ein. Schon wieder eine Toilette, dachte er, setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel und sah auf die Tasche zwischen seinen Beinen. Er zog den Reißverschluss auf und fand mehrere durchsichtige Päckchen mit weißem Pulver.

Wenn man von dem Joint absah, an dem er im Spätsommer 1993 kurz nach dem Abitur zweimal gezogen hatte, hatte Thomas keinerlei Erfahrung mit Drogen, außer natürlich mit Alkohol. Aber dass es sich bei der weißen Substanz in der Tasche nicht um Backpulver handelte, war ihm sofort klar. Kokain oder Heroin wahrscheinlich. In den Krimis, die er sich manchmal mit Petra ansah, befeuchteten die Ermittler oder Dealer immer einen Finger, nahmen ein paar Körnchen auf und konnten dann am Geschmack feststellen, um welche Droge es sich handelte und ob sie verschnitten oder rein war. Aber dazu musste man ja zumindest eine theoretische Idee haben, wie das Zeug schmeckte.

Thomas zog den Reisverschluss der Tasche wieder zu und hob sie an. Sie kam ihm jetzt schwerer vor als vor ein paar Minuten, als er noch nicht gewusst hatte, was sich darin befand. Vier, vielleicht fünf Kilo, schätzte er. Was kosteten fünf Kilo Kokain? Auch davon hatte er keine Ahnung. Und davon, wie und an wen man so etwas verkaufte auch nicht. Musste er auch nicht.

Thomas verließ Kabine und Toilettenbereich und kehrte in die Bahnhofshalle zurück. Es war ein merkwürdiges Gefühl mit einer Tasche voller Drogen in der Öffentlichkeit herumzulaufen. Er wusste, dass es am Nordausgang des Bahnhofs am Gleis 24 einen Stützpunkt der Bundespolizei gab. Auf einmal hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben, wusste aber nicht was. Thomas blieb abrupt stehen und dachte nach. Menschen hasteten an ihm vorbei, ein Kleinkind stolperte über einen Trolley, legte sich der Länge nach hin und begann zu plärren, die Mutter zog die Kleine schimpfend wieder auf die Beine. Jemand rempelte ihn von hinten an, ohne sich zu entschuldigen.

Etwas fehlte, aber er kam nicht darauf, was es war. Thomas schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war er einfach überreizt.

Eine Zwei-Mann-Streife kam ihm entgegen. Er überlegte, sie anzusprechen, ließ es dann aber sein. Auf der großen Anzeigetafel wurden gerade die nächsten Zugabfahrten aktualisiert. Die S-Bahn nach Hause ging in einer Minute. Thomas starrte noch einen Moment auf die Anzeige, dann ging er langsam in Richtung Gleis 1 davon. Wenn die Bahn schon weg war, würde er die Tasche zur Polizei bringen, wenn nicht ...

Die S7 stand abfahrbereit, als Thomas am Bahnsteig ankam. Er betätigte den Drücker an der Außenseite des ersten Waggons und die Tür öffnete sich, er machte einen Schritt hinein und stand im Eingangsbereich des Abteils. Hinter ihm zischte die Türverriegelung und der Zug setzte sich fast augenblicklich danach mit einem Ruck in Bewegung, so als habe sie nur noch auf ihn gewartet.

Thomas musste sich am Gepäckfach über ihm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Als die S-Bahn unter der Bahnhofsüberdachung ins Freie rollte, stand er immer noch wie betäubt zwischen den Sitzreihen, die Sonne im Gesicht und eine Tasche voller Kokain zwischen den Füßen.

***

Zorans Wohnung befand sich im achten Stock eines Hochhauses im Niederräder Mainfeld. Maik war schon einige Male hier gewesen und hatte nach Alkohol- oder Drogenabstürzen auch manchmal bei Zoran übernachtet. Als er am späten Nachmittag dort ankam, wehte ein auffrischender Wind, der Sommer schien ausgerechnet über die Feiertage eine Pause einlegen zu wollen.

Auf dem gefliesten Boden im Eingangsbereich des Hochhauses lag ein Packen verschnürter Gratis-Zeitungen. Eine Reihe mit Briefkästen auf der einen Wandseite, eine Klingelanlage mit Namensschildchen auf der anderen. Maik steckte die flache Hand so tief wie möglich in Zorans Briefkastenschlitz und fand die mit Klebeband an der Rückwand befestigten Ersatzschlüssel.

Der Fahrstuhl wartete schon, er stieg ein und drückte den Knopf für das achte Stockwerk, die Türen schlossen sich und der Aufzug setzte sich in Bewegung.

Auf der Etage roch es nach Essigreiniger. Eine anonyme Tür reihte sich an die andere. Vor Zorans Wohnung blieb er stehen und lehnte sich mit dem Ohr gegen das Türblatt. Von drinnen war nichts zu hören. Er drückte auf den Klingelknopf an der Wand neben der Tür, hörte es in der Wohnung schellen und trat einen Schritt zurück.

»Der ist nicht da!«, hörte Maik jemanden sagen, fuhr erschrocken herum und sah einen alten Mann in Hausschuhen vor einer offenen Tür am anderen Ende des Flurs stehen. Der Nachbar hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah lauernd zu ihm herüber. »Schon seit Tagen ist der nicht da.«

»Ach ja?«

»Ja, seit Tagen. Den kriegt man eh kaum zu Gesicht. Und den Flur putzt er auch nicht. Sind Sie ein Freund von dem?«

»Ich ... bin von den Stadtwerken«, erwiderte Maik und wusste, dass der Alte ihm kein Wort glaubte. Sein Rucksack und der zusammengerollte Schlafsack lehnten an der Flurwand.

»So, so, von den Stadtwerken also, na dann ...« Der Alte zog sich wieder in seine Wohnung zurück. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, hörte Maik, wie der Mann von innen zweimal abschloss.

In Zorans Wohnung roch es nach kaltem Rauch und Schweißfüßen. Maik öffnete das Wohnzimmerfenster und ließ frische Luft herein, Regenwolken schoben sich vor die Sonne über der Frankfurter Skyline am anderen Mainufer.

Die kleine Wohnung war spärlich möbliert: ein niedriger Wohnzimmertisch, eine durchgesessene Couch, eine schäbige Pressspan-Kommode auf der ein Fernseher stand. Brandlöcher im Teppich, ein überquellender Aschenbecher, leere Bierdosen.

In der Küche stapelte sich schmutziges Geschirr in der Spüle, auf einem alten Wirtshaustisch in der Ecke standen noch mehr leere Bierdosen und eine halbvolle Flasche Jim Beam. Maik schraubte den Verschluss ab, roch an der Öffnung, dann nahm er einen kräftigen Schluck. Der Whisky brannte im Rachen, verbreitete aber sofort angenehme Wärme in seinem Bauch. In Zorans Kühlschrank fand er eine Flasche Cola light, ein paar Eier und Tomaten sowie einen Schnippel Wurst und eine Packung Weißbrot.

Dann fiel ihm etwas ein.

Maik kehrte ins Wohnzimmer zurück, zog die Couch von der Wand und kippte sie um. An der Unterseite war ein kleines Päckchen mit mehreren Lagen silbernem Panzerband festgemacht. Er entfernte das Klebeband und fand die Pistole, die sich Zoran vor ein paar Monaten auf dem Schwarzmarkt in Tschechien gekauft hatte. Eine russische Makarow, 9 Millimeter.

Maik ließ das Magazin aus dem Griff der Waffe gleiten. Acht Schuss, das sollte eigentlich genügen. Er hatte ohnehin nicht die Absicht, damit zu schießen, aber da er nicht wusste, was die nächsten Tage bringen würden, war es sicher keine schlechte Idee, auf alles vorbereitet zu sein. Außerdem war es immer noch möglich, dass Zoran hier auftauchte.

Maik ging mit der Pistole in der Hand zur Wohnungstür, schloss ab und ließ den Schlüssel stecken. Die Wolken über Frankfurt hatten sich verdichtet und als er die Waffe im Wohnzimmer auf den Tisch legte, besprenkelten dicke Regentropfen das Fenster.

Er wusste, dass es unklug war, hier zu bleiben, aber er wollte nicht noch eine Nacht im alten Präsidium verbringen. Die Aussicht, in einem richtigen Bett schlafen zu können, war einfach zu verlockend. Im Schlafzimmer zog er Zorans Bettzeug ab und legte seinen Schlafsack auf die Matratze.

Am Abend saß er vor dem Fernseher, die Pistole neben sich auf dem Sofa. Er hatte die Reste aus dem Kühlschrank gegessen und den Whisky getrunken. Unten an der Straße gab es eine Tankstelle, an der er sich noch mit etwas Proviant und Zigaretten hätte versorgen können, aber er wollte nicht, dass ihn der neugierige Nachbar ein- und ausgehen sah.

In einer der Schubladen hatte er etwas Tabak, Blättchen und sogar ein bisschen Gras gefunden und sich daraus einen krummen Joint gedreht. Bis gegen halb elf zappte er sich durch die Programme, dann legte er sich in Unterwäsche, aber mit der Pistole in Griffweite, ins Bett und fiel schnell in einen unruhigen Schlaf, aus dem er mehrmals vollkommen desorientiert erwachte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, die Nacht hier zu verbringen. Er glaubte schon, überhaupt nicht mehr richtig zur Ruhe zu kommen, als er in den frühen Morgenstunden doch noch in einen tiefen, traumlosen Schlaf versank, aus dem ihn gegen halb zehn der Klingelton seines Handys weckte.

Der Mann schwieg noch einen Moment, nachdem Maik sich gemeldet hatte, dann berichtete er ansatzlos von Zorans Tod und dass die Polizei die Leiche seines Freundes in einer Kneipe im Bahnhofsviertel gefunden habe.

»Mit heruntergelassenen Hosen auf dem Scheißhaus«, knurrte der Anrufer und Maik spürte, wie ihm schlecht wurde. Das Koks sei aber immer noch nicht aufgetaucht, fügte der Mann hinzu, er habe also noch eine Chance.

Chance, dachte Maik. Du hast keine Chance, also nutze sie. Zoran musste das Koks versteckt haben, so viel war klar – aber wo?

Er stieg aus dem Bett und dachte beim Duschen darüber nach. Ihm fielen einige mögliche Verstecke ein, aber irgendwie glaubte er nicht recht daran, dass er dort die Tasche finden würde. Als er sich abtrocknete, fiel ihm siedend heiß noch etwas ganz anderes ein: Wenn die Bullen Zoran gefunden hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie seine Identität herausbekamen, und das würde sie auf direktem Weg hierher ­führen ...

Maik beeilte sich damit, in seine Klamotten zu kommen, packte seine Sachen und verließ die Wohnung. Er fuhr mit dem Aufzug nach unten und trat vor den Wohnblock, als er einen Streifenwagen um die Ecke biegen sah.

Aus sicherer Entfernung beobachtete er, wie die Beamten ausstiegen und im Haus verschwanden.

Samstag, 8. Juni 2019

Es hatte keinen Sinn: Die Blase drückte, er musste aufstehen, ob er wollte oder nicht.

Benny versuchte, die Augen nur so weit zu öffnen, wie es unbedingt nötig war, und taumelte aus dem Bett. Fast wäre er über seine Mutter gestolpert, die im Flur kniete und sich die Laufschuhe schnürte.

»Dir auch einen guten Morgen!«, rief sie ihm aufgesetzt fröhlich hinterher, als er wortlos im Bad verschwand.

Er erledigte, was zu erledigen war, und wollte möglichst schnell wieder zurück in sein Zimmer, wurde aber im Flur erneut von seiner Mutter aufgehalten, die sich auf dem Treppenabsatz zu ihm umdrehte.

»Wir müssen mal reden, ja?«

»Hm.«

»Hast du mich verstanden?«

Benny hob kurz die Hand, als Zeichen, dass er verstanden hatte, und war schon fast wieder in seinem Zimmer, als seine Mutter ihm den Weg abschnitt und sich zwischen ihn und die Tür schob.

»Ich habe gefragt, ob du das verstanden hast?«

»Ja, habe ich, jetzt lass mich in Ruhe!«

»Benny, es ist deine Zukunft, dein Leben!«

»Ich bin müde, jetzt lass mich doch ...«

»Benny ...«

»Was?«

Seine Mutter holte tief Luft, als wolle sie zu einer längeren Rede ansetzen, sagte dann aber nur: »Ich weiß nicht mehr, was ich mit dir machen soll ...«

»Am besten nix«, brummte Benny, schob sich an ihr vorbei in sein Zimmer und schloss die Tür. Er spürte, dass seine Mutter noch eine Weile draußen im Flur stand, dann hörte er, wie sie schließlich die Treppe hinunterging und das Haus verließ.

Später würden sie ihn mal wieder zum gemeinsamen Gespräch in die Küche rufen. Seine Mutter würde reden und sein Vater ihr in allem zustimmen. Wie er das hasste. Die Einigkeit der besorgten Eltern. Dabei war es noch gar nicht so lange her, da war ein Gespräch zwischen seinen Eltern überhaupt nicht möglich, entweder sie schrien sich an oder sie schwiegen sich aus. Dazwischen gab es nichts.

Lasst euch doch scheiden, hatte er damals oft gedacht und nichts dabei empfunden. Dann hatte er die Schule geschmissen und damit zumindest vorübergehend die Ehe seiner Eltern gerettet, denn auf einmal gab es etwas, in dem sie sich wieder einig waren, nämlich, dass ihr Sohn dabei war, sein Leben gegen die Wand zu fahren.

Vielleicht tat er das ja auch wirklich. Keine Ahnung. Er würde jedenfalls jetzt nicht darüber nachdenken.

Benny legte sich wieder ins Bett, konnte aber nicht mehr einschlafen. Er hatte in der Nacht lange mit einem älteren Urbex­er aus Nordhessen gechattet, der schon im ganzen Bundesgebiet Lost Places erforscht und eine Website mit unglaublichen Fotos aufgesetzt hatte. Benny wollte von ihm gern ein paar Tipps und hatte einige der Fotos, die er in der alten Schule gemacht hatte, hochgeladen, um zu beweisen, dass es ihm ernst war. Der Urbex­er gab sich beeindruckt, war aber auch schnell auf den rechtlichen Aspekt der Sache zu sprechen gekommen, man mache sich in den meisten Fällen ja zumindest des unbefugten Betretens und des Hausfriedensbruchs schuldig, keinesfalls dürfe man gewaltsam irgendwo eindringen oder etwas zerstören. Es gebe daher Regeln für das Erkunden von Lost Places, die sich alle Urbexer freiwillig auferlegten. Er gehe mal davon aus, dass Benny diesen Code kenne und das Schulgebäude offen zugänglich gewesen sei.

Klar doch, das war alles sauber, hatte Benny zurückgeschrieben, und sich sofort dafür geschämt. Bei der Sache in der alten Schule hatte er so ziemlich gegen jede Regel des Urbex-Codes verstoßen, die ihm bekannt war ...

Der verwinkelte Bau der alten gymnasialen Oberstufe am Wasserturm stand bereits seit längerem leer. Es war auch schon mit den ersten Entkernungsarbeiten begonnen und das Mobiliar herausgeschafft worden, in spätestens zwei Jahren würde das Gebäude komplett abgetragen sein. Die alte Schule hatte es Benny angetan, er wollte da unbedingt noch mal rein und Fotos machen, bevor alles abgerissen wurde.

Auf der Party seines Kumpels Jonas hatte er ein bisschen damit angegeben, dass er in der Urbexer-Szene aktiv sei und so getan, als habe er die alte Schule schon erkundet, wohl wissend, dass er damit bereits gegen eine der Urbex-Regeln verstieß, die lautete, dass verlassene Orte geheim bleiben sollten. Gut, der Leerstand der Schule war allseits bekannt, das milderte den Verstoß etwas, aber er hatte eben auch gelogen und gehofft, dass ihn keiner beim Wort nehmen würde. Sie standen draußen am Kelleraufgang und rauchten, von drinnen dröhnten die Bässe und manchmal kam einer rausgerannt, um ins Gebüsch zu kotzen. Riesenstimmung, und das schon kurz vor Mitternacht.

Leon und Finn waren jedenfalls gleich auf seine Geschichte angesprungen und Jonas’ älterer Bruder Marlon auch – der hatte die ganze Zeit nur wenig dazu gesagt, stand aber auf einmal mit zwei Stabtaschenlampen vor dem Keller.

»Wir gehen da jetzt rein, Benny zeigt uns wie«, verkündete Marlon und sah alle der Reihe nach an. Leon und Finn jubelten, der fortgeschrittene Alkoholkonsum hatte sie offenbar unternehmungslustig gemacht.

Scheiße, dachte Benny, jetzt musste er Farbe bekennen.

»Also, ich ...«, begann er und sah, wie sich Marlons Mund zu einem spöttischen Lächeln verzog. »Ja, also, so richtig drin war ich eigentlich noch gar nicht, ist ja alles zu ...«

Leon und Finn stöhnten enttäuscht auf und verdrehten die Augen, aber Marlon sah ihn nur amüsiert an und sagte: »Das hab ich mir schon gedacht, Bennylein, aber weißte was? Ist egal!«

»Wie jetzt?«

»Wirste schon sehen, hol mal deine Kamera, wir treffen uns in einer halben Stunde aufm Schulhof. Das wird die Nacht deines Lebens, sag ich dir ...«

Benny wollte abwiegeln, traute sich aber nicht. Marlon war einer, mit dem man es sich nicht verscherzen wollte. Es kursierten Geschichten, dass er illegale Rennen fuhr, Sachen vertickte und gute Kumpels bei den Hells Angels hatte. Wahrscheinlich war das meiste davon Mist, aber sicher konnte man sich da nie sein. Außerdem würden Finn und Leon überall herumerzählen, dass er ein Angeber und Feigling sei, wenn er jetzt nicht mitmachte.

Als er wenig später vor dem alten Schulgebäude ankam, teilten sich Leon und Finn gerade eine Dose Bier und rülpsten wild herum. Unauffällig verhielten sich die beiden jedenfalls nicht, aber der Gebäudekomplex lag abseits am Bahndamm und nachts kam hier eigentlich niemand her.

Benny sah die dunkle Fensterfront des zweistöckigen Gebäudekomplexes vor sich aufragen und fragte sich, wie er sich in dem verwinkelten Bau zurechtfinden würde. Sein Vater hatte hier vor gefühlten tausend Jahren noch sein Abitur gemacht, aber er selbst war nie in dem Gebäude gewesen, sondern schon in den Neubau am Groß-Gerauer Bahnhof gegangen, wenngleich er es dort nicht lange ausgehalten hatte. Ein Krachen, als ginge Glas zu Bruch, riss ihn aus seinen Gedanken. Das Geräusch hörte sich in der Dunkelheit unnatürlich laut an.

»Was war denn das?«

»Ich glaube, Marlon hat den Schlüssel zur Schule gefunden«, sagte Finn, und Leon brach in hysterisches Gelächter aus.

Benny schloss die Augen. Urbexer verschaffen sich niemals gewaltsam Zutritt zu einem Lost Place. So viel dazu.

Eine Taschenlampe flammte in der Dunkelheit auf, der Lichtschein tanzte auf und ab, als wolle er sie herbeirufen. Marlon stand um die Ecke, rauchend an eine Mauer gelehnt. Er hatte eine der hinteren Türen bei den Physikräumen aufgebrochen, die in den Stahlrahmen eingelassene Scheibe war dabei gesplittert.

Das Erste, was Benny auffiel, war der Geruch. Nasser Beton, der immer noch ein bisschen nach Schule roch, nach Kunststoffteppichboden und verbrauchter Luft. Während sich Benny mit seiner Taschenlampe in die alte Aula vortasten und Fotos machen wollte, verteilten sich die anderen auf den Fluren und fingen sofort an zu randalieren. Er hörte ihre Stimmen laut in den leeren Gängen widerhallen, ihre Schritte knallten auf dem nackten Betonboden. Etwas wurde aus der Wand gerissen und gegen eine Tür geschleudert. Jemand lachte.

Urbexer zerstören nichts, Vandalismus ist tabu, dachte Benny, das lief alles nicht so, wie er es sich erhofft hatte. Aber was sollte er machen?

Langsam tastete er sich im Schein der Taschenlampe voran, manche Türen und Zugänge waren verschlossen, er musste sehen, wie weit und wohin er kam. Er gelangte im ersten Stock in ein paar der alten Klassenräume, leuchtete die Winkel aus, fotografierte, hier hingen teilweise noch Tafeln, Kabel kamen bündelweise aus den Wänden. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber irgendwann wurde ihm bewusst, dass er von den anderen schon lange nichts mehr gehört hatte. Vielleicht waren sie in einem anderen Trakt oder auf einem höhergelegenen Stockwerk zugange, er rief ihre Namen und bekam keine Antwort. Mit einem Mal beschlich ihn die Angst, irgendwo in der Dunkelheit könnte sich ein Loch unter ihm auftun, vielleicht hatte man hier und da ja schon Bodenplatten entfernt ...

Das Erkunden eines Lost Places kann sehr gefährlich sein. Daher achten wir vor Ort strengstens auf unsere Sicherheit, er kannte den entsprechenden Abschnitt des Urbexer-Codes sogar auswendig. Die Sache wurde ihm nun doch langsam unheimlich. Er tastete sich vorsichtig zurück ins Erdgeschoss und begab sich zum Ausgang. Er fand die aufgebrochene Tür, atmete auf und trat ins Freie, wo bereits die Polizei auf ihn wartete.

Eine schlaflose Rentnerin hatte mit ihrem kleinen Hund eine nächtliche Gassi-Runde gedreht und dabei den Schein ihrer Taschenlampen im Gebäude gesehen. Die anderen waren allerdings rechtzeitig verschwunden. Die Polizei wusste zwar, dass er nicht allein gewesen war, kannte aber keine Namen. Zumindest so lange nicht, bis seine Mutter ihn am nächsten Tag gezwungen hatte, sie preiszugeben. Schließlich habe er die Tür nicht aufgebrochen und randaliert habe er auch nicht, ob er dafür wirklich die Verantwortung übernehmen wolle? Für etwas, dass er nicht getan habe? Ob er glaube, das würde ihm von seinen Kumpels gedankt werden?

Ein paar Tage nach seiner Aussage hatte er eine WhatsApp-Nachricht von Jonas bekommen, dass Marlon total angepisst sei. Jonas hatte ihm empfohlen, sich von seinem Bruder in der nächsten Zeit lieber fernzuhalten. Und Leon und Finn sollte er alsbald besser auch nicht über den Weg laufen ...

Am meisten zugesetzt aber hatte ihm die Reaktion seines Vaters, wenn man es denn überhaupt eine Reaktion nennen konnte. Zuerst war er noch froh darüber gewesen, dass sein Alter in jener Nacht auf dem Polizeirevier keine großen Worte gemacht, sondern ihn einfach ausgelöst und mit nach Hause genommen hatte. Aber im Auto, spätestens daheim, da hätte er doch was sagen müssen. Irgendetwas. Egal was. Benny wollte ihm ja alles erzählen, es erklären, aber er brauchte ein Wort seines Vaters, um anfangen zu können. Doch sein Vater schwieg, so wie er in letzter Zeit immer schwieg, als ginge ihm das alles am Arsch vorbei.

Wenn sein Vater zu wenig redete, dann redete seine Mutter eindeutig zu viel. Und meistens zum falschen Zeitpunkt. Zum Beispiel, wenn sie einen am Samstagmorgen wachquatschte wie jetzt gerade.

Benny hörte, wie die Tür zum Elternschlafzimmer geöffnet wurde und sein Vater über den Flur tappte. Einen Moment war es still, dann hörte er das Rauschen der Klospülung. Kurz darauf klopfte es an seiner Tür. Benny zog sich die Decke über den Kopf.

***

Thomas Danzer klopfte noch einmal, dann öffnete er zögerlich die Tür einen Spaltbreit und spähte ins Zimmer seines Sohnes. Er hatte ihn vorhin mit Petra streiten gehört, aber jetzt schien er wieder zu schlafen. Leise schloss er die Tür und kehrte noch einmal ins Schlafzimmer zurück.

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