Читать книгу: «Das Präsidium», страница 2

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Maik sah sich noch einmal um. An der Tankstelle fuhr ein Mercedes vor, ein Typ im grauen Anzug, dessen Bauch über den Hosenbund quoll, stieg aus und tankte. Auf dem eingezäunten Spielplatz vor der Raststätte standen zwei Frauen in Jeans und Sneakers und unterhielten sich, während ihre Kinder auf den im Boden verschraubten Wackelgeräten herumturnten. Einer der Busfahrer lehnte am verglasten Eingangsbereich des Restaurants und las Nachrichten auf seinem Handy. Keine Spur von Zoran und dem BMW.

Maik ging rauchend vor der Mülltonne auf und ab. Als er die zwei vor sich hin dampfenden Kaffeebecher sah, holte er aus und schlug sie vom Deckel herunter, einer fiel unspektakulär ins Gras, aber der andere Becher flog ein Stück durch die Luft, schlug dann auf dem Picknicktisch auf und verspritzte seinen Inhalt über der Platte. Ein alter Mann in beiger Popeline-Jacke und Gesundheitsschuhen, der gerade dabei war, umständlich aus einem Opel Zafira zu steigen, sah entsetzt zu ihm herüber.

Maik holte erneut das Prepaidhandy hervor und tippte die entsprechende Kurzwahltaste. Er berichtete kurz, was passiert war, und legte auf, bevor der Mann am anderen Ende der Leitung etwas sagen konnte, dann machte er sich mit geschultertem Rucksack auf den Weg zum LKW-Parkplatz. Der alte Mann hatte sich wieder in sein Auto zurückgezogen, umklammerte mit beiden Händen das Lenkrad und verfolgte Maiks Abgang mit ängstlichem Blick durch die Windschutzscheibe.

Er hatte gerade einen Trucker gefunden, der bereit war, ihn bis Frankfurt mitzunehmen, da klingelte das Handy. Maik drückte den Anruf weg und schaltete das Gerät aus.

***

Thomas Danzer nahm die spätere S-Bahn, um auf der Heimfahrt nicht schon wieder Steffen in die Arme zu laufen. Er ärgerte sich immer noch über die Einladung zum Grillen. Steffen und Tatjana hatten mit Petra doch schon alles entschieden, bevor man ihn überhaupt gefragt hatte. Seit geraumer Zeit hatte er den Eindruck, von allen nur noch vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Und ihm fehlte die Kraft, sich dagegen zu wehren, weil er jeden Tag damit beschäftigt war, eine Scheinwelt aufrechtzuerhalten, in der er nach wie vor einen Arbeitsplatz hatte und Geld verdiente. Heute Morgen mit Steffen, das war verdammt knapp gewesen. Dabei würde sein Versteckspiel in den nächsten Wochen ohnehin auffliegen, wenn sein Gehalt ausblieb und die Schadensersatzforderungen eintrudeln würden. Bis dahin, so hatte er sich eingeredet, würde ihm schon etwas einfallen, aber mit jedem Tag, der verging, wurde ihm klarer, dass das wohl Wunschdenken war.

Die S-Bahn setzte sich in Bewegung und verließ den Hauptbahnhof. Thomas fiel der Selbstmörder wieder ein, der sich am Morgen vor die Regionalbahn geworfen hatte. Dieser Ausweg stünde ihm ja immer und jederzeit offen, dachte er und erschrak, wie sehr ihn dieser Gedanke beruhigte.

Am Bahnhof in Groß-Gerau Dornberg stieg er aus und lief durch das Gewerbegebiet nach Hause. Die Häuser am Ortsausgang waren durch eine hohe Hecke von der Gernsheimer Straße, die hier nahtlos in die B44 überging, abgetrennt. Gegenüber lag die Fasanerie und hinter den Häusern floss der Landgraben.

Thomas betrat den kühlen Hausflur und ließ Sakko und Tasche an der Garderobe zurück. In der Küche nahm er sich ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es und trank an die Spüle gelehnt zwei große Schlucke direkt aus der Dose. Auf dem leeren, blankpolierten Küchentisch lag ein Zettel: Bin zum Yoga und danach noch was trinken mit den Mädels. Warte nicht auf mich.

Thomas nahm noch einen Schluck Bier. Sie warteten schon lange nicht mehr aufeinander, es gab dafür keinen Grund.

Sie hatten das Haus, sein Elternhaus, damals nach ihren Wünschen umgebaut. Nachdem seine Mutter gestorben und sein Vater ins Altenheim gezogen war, hätte er den alten Kasten am liebsten verkauft, aber Petra hatte ihn überredet, in die Immobilie zu investieren, eine neue Heizanlage ein- und den Keller auszubauen. Das Haus bekam ein neues Dach und die Fassade wurde frisch angelegt, nach hinten zum Landgraben hin wurden bodentiefe Fenster eingesetzt und eine neue Terrasse aufgeschüttet. Die Innenräume wurden verbreitert, Zwischenwände eingerissen, eine neue Küche installiert. Und als alles fertig war ...

Thomas trank die Dose mit mehreren großen Schlucken leer, er hatte gar nicht bemerkt, wie durstig er zuvor gewesen war. Er überlegte, sich mit einem zweiten Bier auf die Terrasse ins Abendlicht zu setzen, wollte sich aber zuerst noch umziehen. Er stieg die Treppe hinauf und zog oben im Schlafzimmer die Anzugshose und das verschwitzte Hemd aus, schlüpfte in Shorts und T-Shirt und ging barfuß zurück in den Flur. Vor der Tür seines Sohnes zögerte er, klopfte dann aber doch. Als sich Benny auch nach dem zweiten Klopfen nicht meldete, öffnete Thomas vorsichtig die Tür und spähte ins Zimmer.

Durch die breiten Panoramafenster im ersten Stock konnte man die Bäume sehen, in denen jedes Jahr Störche ihre Nester bauten und auf den umliegenden Feldern und am Landgraben auf Nahrungssuche gingen – nicht, dass Benny sich dafür interessiert hätte, er saß lieber, so wie jetzt, bei heruntergelassenen Jalousien vor seinem PC und sah sich Videos von leerstehenden Fabriken und Lagerhallen an. Thomas stand in der offenen Tür und sah den gekrümmten Rücken seines Sohnes. Über den Bildschirm flimmerten verwackelte, dunkle Aufnahmen. Er klopfte erneut ans Türblatt, aber auch jetzt reagierte Benny nicht, erst da fielen ihm die Kopfhörer-Stöpsel in seinen Ohren auf. Natürlich.

Thomas stand noch eine Weile so da, beobachtete seinen Sohn und dachte daran, wie er ihn vor zwei Wochen nachts auf der Polizeiwache abgeholt hatte und wie sie schweigend nach Hause gefahren waren. Er wusste, dass er in dieser Nacht noch mit ihm hätte reden müssen, aber Benny schwieg und er fand mal wieder nicht die richtigen Worte, Vaterworte, also schwieg er auch.

Das Reden hatte Petra am nächsten Tag übernommen und sie hatte Benny auch dazu gebracht, die Namen der anderen Jungs zu nennen, die dabei gewesen waren. Sie war mit ihm zur Polizei gefahren, wo ihr Sohn seine Aussage ergänzte. Als sie wieder nach Hause kamen, verschwand Benny sofort auf sein Zimmer. Als Thomas fragte, wie es gelaufen sei, sah Petra ihn mit ihrem ›Das-wäre-dein-Job-gewesen-Blick‹ an und schüttelte nur den Kopf.

Vielleicht, dachte Thomas jetzt, wäre heute ja ein guter Abend, um endlich mal mit Benny zu reden, aber dann schloss er doch nur leise die Tür und ging wieder nach unten.

Nach der dritten Dose Bier war es draußen immer noch nicht ganz dunkel. Thomas saß, die Beine von sich gestreckt, auf der Terrasse und spürte die Restwärme des Tages in den Steinplatten unter seinen nackten Fußsohlen. Es gab Momente, in denen er tatsächlich vergaß, dass er nicht nur arbeitslos und verschuldet war, sondern sich wahrscheinlich auch bald vor Gericht würde verantworten müssen. »Rechtliche Schritte behalten wir uns natürlich vor«, hatte sein Chef gesagt. Er war um den Schreibtisch herumgekommen, hatte Thomas in die Augen gesehen und den Kopf geschüttelt: »Mein Gott, Danzer, was haben Sie sich nur dabei gedacht?«

Ja, was hatte er sich dabei gedacht? Vielleicht, dass er wenigstens einmal im Leben das Richtige tun wollte. Er hatte jemandem, der unverschuldet in Not geraten war, geholfen, das war alles.

Er würde jedenfalls als Banker nie wieder eine Anstellung finden. Vielleicht konnte er sich irgendwann als Versicherungsmakler und Vermögensberater selbstständig machen. Trotzdem: sie würden alles verlieren. Petra würde ihn verachten, was sie wahrscheinlich sowieso schon tat, und der Junge ...

Thomas sprang auf. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er war schon auf dem Weg in die Küche, um sich die vierte Dose Bier zu holen, überlegte es sich aber anders und ging stattdessen ins Wohnzimmer an die kleine Vitrine, in der er seinen Whisky aufbewahrte. Er goss sich zwei Fingerbreit Chivas Regal in einen Tumbler und kehrte auf die Terrasse zurück. Dort schien es schlagartig dunkel und auch kühler geworden zu sein. Er zog sich das alte Sweatshirt über, das in der Campingbox auf der Terrasse lag und das er normalerweise nur zur Gartenarbeit trug, dann legte er sich in den Liegestuhl.

Der Stuhl war gut gepolstert, das Shirt wärmte und der Whisky, den er in kleinen Schlucken trank, machte ihn angenehm müde und schwer. Er dachte noch daran, dass er keinesfalls hier draußen einschlafen durfte, dann fielen ihm auch schon die Augen zu.

***

Zoran lag im rötlichen Licht des Bordellzimmers auf dem Doppelbett und wartete. Er war nur noch mit einem knappen schwarzen Sport-Slip bekleidet und wurde langsam unruhig.

»Hey«, rief er, »jetzt mach aber mal, dass du beikommst, ja?«

Zoran schob die beiden herzförmigen Kissen beiseite, lehnte sich auf die angewinkelten Ellenbogen und starrte die Badezimmertür an, hinter der das Mädchen, mit dem er sich handelseinig geworden war, vor einer gefühlten Ewigkeit verschwunden war.

»Hey, hörst du mich?«

Das kleine Miststück antwortete nicht. Zoran sprang auf und hämmerte gegen die Tür.

»Du hast es aber ganz schön eilig«, hörte er sie hinter der Tür kichern. »Ich komme ja gleich, Süßer.«

Zoran grunzte unwillig und wanderte halbnackt in dem kleinen Zimmer herum. Er schob eine der roten Blenden vor dem hohen Altbaufenster ein Stück zur Seite und sah nach unten. Die Taunusstraße lag im künstlichen Licht der Peepshows und Bordelle, Autos parkten am Straßenrand, auf dem Gehsteig die für einen Freitagabend übliche Mischung aus Partygängern, Freiern und Kanaken.

Als er hörte, wie sich hinter ihm eine Tür öffnete, drehte er sich lächelnd um, eine Hand im Schritt.

Der erste Schlag gegen die Brust warf ihn auf das Bett. Zoran war schnell wieder auf den Beinen, aber nicht schnell genug: der zweite Schlag ging ins Gesicht und schickte ihn gleich wieder auf die Matratze. Er spürte, wie seine Unterlippe anschwoll und hob abwehrend einen Arm vor die Augen.

»Lass erstmal mal gut sein«, hörte er jemanden sagen und nahm den Arm langsam wieder herunter.

Der Typ, der ihn geschlagen hatte, war klein und kompakt, dabei etwas überspeckt. Er trug einen schlecht sitzenden schwarzen Anzug, das zerknitterte weiße Hemd darunter bis zur Brust aufgeknöpft. Zoran schätzte den Angreifer auf Mitte vierzig, er hatte kurzes graues Haar und kleine Schweinsäuglein. Der andere Typ, der gesprochen hatte, trug den gleichen billigen Anzug, war aber schlank und einen Kopf größer als sein Kumpel. Die beiden wirkten wie eine billige, bösartige Version der Blues Brothers.

Die Tür zum Badezimmer wurde geöffnet und das Mädchen kam heraus. Sie hatte sich einen weißen Bademantel über die schwarze Spitzenunterwäsche gezogen und sah fragend von einem der Männer zum anderen.

»Verpiss dich«, sagte der Große, nachdem er sie einen Moment lang gemustert hatte. Der kleine Kompakte behielt die ganze Zeit über Zoran im Blick.

»Der hat aber noch nicht bezahlt«, sagte das Miststück kühl.

Zoran schnaubte: »Es ist ja noch nichts passiert!«

»Das wird es heute auch nicht mehr«, sagte der Große. »Raus jetzt.«

»Scheiße«, zischte das Mädchen, zog sich den Bademantel enger vor der Brust zusammen und stöckelte aus dem Zimmer.

Der Typ, der ihn geschlagen hatte, sagte etwas in einer Sprache, die Zoran nicht verstand. Es hörte sich wie eine Frage an.

»Er will wissen, wo du herkommst«, übersetzte der Große.

»Vom Frankfurter Berg«, sagte Zoran, und die beiden Kerle sahen sich an und brachen in Gelächter aus.

»Zoran vom Frankfurter Berg also? Ja?«

Der Name mal wieder, dachte Zoran. Wie oft hatte ihn der schon in die Scheiße geritten. Den slawischen Vornamen verdankte er seinem serbischen Vater, der sich aber kurz nach seiner Geburt vom Acker gemacht hatte. Seine Mutter, ein Frankfurter Mädchen durch und durch, hielt sich danach von Jugos fern, aber er hatte seinen Balkan-Namen weg.

Der kleine Kompakte versuchte es erneut auf Serbokroatisch, zumindest glaubte Zoran, dass es das war. Er schüttelte den Kopf, wischte sich etwas Blut vom Mund und sagte: »Tut mir wirklich leid, Kumpel, aber mit mir musst du deutsch reden.«

Der Kompakte machte ein beleidigtes Gesicht und sagte nichts mehr. Sein Partner sog scharf die Luft ein, als hätte er auf einmal Schmerzen bekommen.

»Hör mal, du solltest nicht so auf den Gefühlen meines Freundes hier herumtrampeln, er wollte nur freundlich sein.«

Zoran betastete seine immer noch dicker werdende Lippe und sagte nichts. Ein Schneidezahn wackelte.

»Also mein Freund Vito hier«, fuhr der Große fort, »war als junger Mann da unten im Krieg, da hat er ... naja, ich will es mal so sagen: Er hat bestimmte Sachen gelernt.«

Vito sah Zoran mit gespielter Freundlichkeit an und lächelte. Im nächsten Moment spürte er dessen Finger rechts und links an seinem Hals nach etwas tasten. Die Berührung war sanft, fast zärtlich, zumindest so lange, bis er den entscheidenden Punkt gefunden hatte. Vito nickte kurz, dann drückte er zu und augenblicklich bekam Zoran keine Luft mehr. Er glaubte, ersticken zu müssen, riss die Augen auf und öffnete den Mund in dem vergeblichen Bemühen, so besser atmen zu können. Der Mann ließ ihn noch einen Moment lang zappeln, dann verringerte er den Druck und Zoran bekam wieder etwas besser Luft. Es fühlte sich allerdings an, als müsse er durch einen Strohhalm atmen. Zoran versuchte, sich möglichst wenig zu bewegen, aus Angst, den Kerl damit zu provozieren. So musste sich Waterboarding anfühlen, dachte er, nur ohne Wasser.

»Alle Theorie ist grau«, sagte der Große achselzuckend. »Eine praktische Demonstration macht doch immer gleich viel mehr Eindruck, nicht wahr?«

Vito zog seine Finger zurück und Zoran schnappte nach Luft.

»Und jetzt bringst du uns das, was du gestohlen hast.«

Der Große begann Zorans Klamotten, die auf einem Stuhl vor dem Bett lagen, nach Waffen abzusuchen und warf ihm dann ein Teil nach dem anderen zu.

»Anziehen!«

Zoran versuchte, Zeit zu gewinnen. Er zog sich extrem langsam an und dachte währenddessen über einen Ausweg nach. Als er gerade umständlich in seine Jeans stieg, spürte er Vitos Hand auf seiner Schulter.

»Ein kleiner bisschen schön schneller ... bitte?«, radebrechte der Mann vom Balkan und lächelte Zoran dabei auf eine Art und Weise an, die keinen Zweifel daran ließ, dass er ihm ansonsten auch gern helfen könnte.

Sie dirigierten ihn aus dem Zimmer und über einen spärlich beleuchteten Flur ins hintere Treppenhaus. Die Wände waren kahl und der Teppichboden abgetreten, ein grün-weiß beleuchtetes Schild über ihren Köpfen wies auf den Notausgang hin.

»Du gehst vor«, sagte der Große. Zoran spürte, wie Vito ihm den Lauf einer Pistole in den Rücken stieß.

Sie gelangten in einen düsteren Hinterhof. Hier standen Mülltonnen unterhalb einer Mauer, die das Grundstück begrenzte. Rechts ein Kellerabgang, links um die Hausecke herum war eine Einfahrt, die auf die Taunusstraße mündete.

Der Große sah um die Ecke und winkte sie heran. Er drehte sich im Halbdunkel um und fragte: »Also, Zoran vom Frankfurter Berg, wo müssen wir hin?«

Zoran holte schon Luft, um zu antworten, als etwas aus der Dunkelheit hinter ihnen hervor gesprungen kam. Der Große wich erschrocken zurück, aber Vito fuhr herum und riss die Pistole hoch. Zoran dachte nicht nach, sondern handelte: Er packte Vitos ausgetreckten Arm, entriss ihm die Pistole, drehte sich ein Stück von ihm weg und drückte ab. Der Schuss dröhnte unnatürlich laut durch den Hinterhof. Die Katze entwischte durch die Hofeinfahrt, der kompakte Balkankrieger riss den Mund auf und fiel auf die Knie.

Zoran hielt die Waffe in der Hand und starrte sie an, als könne er nicht glauben, was er soeben getan hatte. Eine Schrecksekunde lang schien alles stillzustehen, dann rannte er los.

Er sprang auf eine der Mülltonnen und erreichte den First der Mauer, dann fiel ein weiterer Schuss und gleichzeitig erhielt Zoran einen Schlag in den Rücken, der ihn über die Mauer warf. Er fiel in einen Busch, dessen Zweige sich unter seine Jacke und das T-Shirt schoben und ihm Bauch und Rücken zerkratzten. Der Busch bremste seinen Sturz, trotzdem verlor er beinahe das Bewusstsein, als er auf der anderen Seite der Mauer in der Dunkelheit aufschlug. Zoran sog Luft ein, seine Lungen brannten, Tränen schossen ihm in die Augen, dann lag er still. Es roch nach Erde und Müll und verdorbenem Essen. Er riss die Augen auf, sah im Haus gegenüber ganz weit oben verschwommen ein Licht angehen. Er wartete, ohne zu wissen worauf, hörte einen Hund bellen und jemanden nach der Polizei rufen, dann war wieder alles still. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, aber es ging nicht, sein Rücken fühlte sich an, wie in der Mitte auseinandergebrochen. Zoran musste husten, er brachte einen Schwall warmen Sirups hervor, spuckte ihn aus und hatte auf einmal den metallischen Geschmack von Blut in seinem Mund. Erst jetzt begriff er, dass der Große ihn in den Rücken geschossen hatte. Er hörte ein Martinshorn ganz weit weg. Es schien sich zu nähern, dann wieder zu entfernen. Das Licht in einem der oberen Stockwerke im Gebäude gegenüber erlosch, und Zoran schloss die Augen.

Freitag, 7. Juni 2019

Thomas erwachte, weil die Vögel zwitscherten und ihm kalt war. Er blinzelte in die Sonne, die über den Feldern aufging und erste Strahlen auf die Terrasse warf. Verwundert stellte er fest, dass ihn irgendwer in der Nacht zugedeckt haben musste. Er löste sich aus der Decke, setzte sich auf und massierte seinen schmerzenden Rücken mit den Händen. Die Terrassentür stand offen und aus dem Haus duftete es nach Kaffee.

Petra erschien mit einem schiefen Grinsen im Gesicht im Türrahmen und kam zu ihm heraus. Sie trug ihre Joggingklamotten, war noch etwas außer Atem und ihr Gesicht vom Laufen erhitzt.

»Guten Morgen, ausgeschlafen?«

Thomas schloss die Augen und schüttelte den Kopf.

»Hast es gestern Abend wohl nicht mehr ins Bett geschafft, nachdem du dir hier einen angesoffen hast.« Sie riss die Arme in die Höhe und beugte sich dann tief hinunter, bis ihre Fingerspitzen den Boden berührten.

»Ich hab gar nicht so viel getrunken, war nur total müde ...«

»Wie auch immer«, entgegnete Petra, erhob sich wieder und streckte die Arme der Sonne entgegen.

»Hast du mich zugedeckt?«

»Wer sonst.«

»Hm, Danke ...«

Petra sagte nichts, sondern fuhr mit ihren Stretching-Übungen fort.

In der Küche stand noch Kaffee auf der Warmhalteplatte. Thomas nahm eine Tasse aus dem Schrank und schenkte sich ein. Einer der letzten kleinen Genussmomente in seinem Leben: Der erste Schluck Kaffee am Morgen.

Er fühlte sich wie gerädert, wahrscheinlich hatte ihm allerdings das Schlafen auf dem Liegestuhl mehr zugesetzt als die drei Dosen Bier und der doppelte Whisky.

Petra kam herein mit ihren Sportschuhen in der Hand. Sie löste geschickt das Haargummi an ihrem Hinterkopf und schüttelte die halblangen blonden Haare. Ihre Wangen waren immer noch gerötet. Thomas sah, wie sich ihre kleinen straffen Brüste unter dem engen Funktionsshirt abzeichneten, als sie sich zu ihm drehte.

»Du denkst dran, dass wir morgen Abend verabredet sind?«

»Ja, klar, tut mir leid, Steffen war mal wieder ...«

»Alles gut, immer noch besser, als mit dir hier allein herumzuhocken.«

Thomas holte Luft, um etwas zu entgegen, aber dann fiel ihm nichts ein, was er darauf hätte sagen können.

»Ich gehe duschen«, sagte Petra, mehr zu sich selbst als zu ihm, und ging nach oben.

Thomas sah auf die Uhr am Herd. Heute würde er zur Sicherheit zwei Züge später nehmen. Nach dem Duschen würde Petra sich in ihr kleines Büro unterm Dach zurückziehen, wo sie sich um die Buchhaltung ihrer Kunden kümmerte, sie hatte sich vor kurzem selbstständig gemacht und suchte noch nach Auftraggebern. Bis jetzt hatte sie lediglich eine kleine Buchhandlung, eine freiberufliche Kosmetikerin und einen Homöopathen als Kunden, die ihr alle persönlich bekannt waren und daher Vorzugspreise bekamen. Die Kosten für den Dachausbau waren damit auf absehbare Zeit jedenfalls nicht zu finanzieren. Thomas spürte ein Stechen in der Brust und schüttete den Rest des bitter gewordenen Kaffees in die Spüle.

Die Vormittage in Frankfurt verbrachte er meist im Kino oder im Museum. Manchmal saß er auch stundenlang in einem Café und tat so, als lese er die Rundschau. Im Grunde aber tat er nichts, er ging irgendwo hin, saß herum und wunderte sich, wie schnell dabei die Zeit verging. Natürlich grübelte er. Manchmal meinte er, einen Ausweg aus seiner Lage gefunden zu haben, der sich aber stets als Hirngespinst entpuppte.

An diesem Freitag machte er mal wieder einen langen Spaziergang die Mainpromenade entlang, überquerte den Holbeinsteg auf die Sachsenhäuser Seite des Mains und kaufte sich eine Karte fürs Städelmuseum, wo man sich bereits fieberhaft auf die große van Gogh-Ausstellung im Herbst vorbereitete. Er verbrachte zwei Stunden in der aktuellen Ausstellung und als er das Museum wieder verließ, hätte er nicht sagen können, was er gesehen hatte. Sein Kopf war prallvoll und vollkommen leer zugleich. In seinem dunklen Anzug, der gestreiften Krawatte und mit der weinroten schweinsledernen Dokumententasche kam er sich mittlerweile wie verkleidet vor. Er war den Pennern und Junkies, die ihn im Bahnhofsviertel manchmal um Kleingeld anpumpten, doch schon näher als seinen alten Kollegen, deren bevorzugte Bistros und Restaurants er zur Lunchzeit geflissentlich mied.

Ziellos wanderte er durch die Stadt und landete schließlich um die Mittagszeit in einer Pilsstube in der Elbestraße, die schon am Vormittag geöffnet hatte. Hierher würde sich garantiert niemand aus den Bankentürmen verirren.

In dem engen, düsteren Gastraum roch es nach Zigaretten und abgestandener Luft. An der Theke saß eine aufgedunsene, grellgeschminkte Frau unbestimmten Alters vor einem leeren Cognacschwenker, sie hob kurz den Kopf, als Thomas hereinkam, und musterte ihn ungeniert. In der Ecke gegenüber saß ein mageres Männchen in einem ausgeleierten Trainingsanzug auf einem Barhocker und drückte scheinbar wahllos auf die Knöpfe eines Spielautomaten. Der Wirt hinter der Theke war ein kleiner Glatzkopf mit Hängebacken und einem verblassten Adler-Tattoo auf dem Hals.

»Na? Gibste einen aus?«, fragte die Frau an der Theke und klopfte mit dem Fingernagel gegen ihr Glas.

»Lasse emol den Mann in Ruh, Ellie, sonst fliegste raus!«, griff der Wirt sofort ein, bevor Thomas etwas entgegnen konnte.

Die Angesprochene schnaubte und zündete sich eine Zigarette an. Der Mann am Spielautomat drehte sich kurz zu ihnen um und grinste, bevor er sich wieder den rotierenden Scheiben und blinkenden Lichter zuwandte. Der Automat begann eine Melodie zu spielen, dann stand alles still.

»So ’ne Scheiße«, maulte der Mann und suchte in der Tasche seiner Jogginghose nach Kleingeld.

Okay, dachte Thomas, das hier war dann doch noch ein wenig unter seinem Niveau, aber trotzdem setzte er sich. Ein Aschenbecher mit Kümmerling-Werbung war der einzige Schmuck auf der zerkratzten Tischplatte vor ihm. Er suchte den Blick des Wirts, der hinter den Tresen gebeugt gerade eine Lade mit gerippten Äppelwoi-Gläsern aus der dampfenden Spülmaschine hob.

»Biersche odder liewer Äppler?«

Thomas wollte eigentlich gar keinen Alkohol trinken, bestellte aber ein Pils. Der Wirt nickte, stellte die Gläser ab und begann mit dem Zapfen.

Die Frau an der Theke murmelte etwas vor sich hin, der Spielautomat dudelte seine Melodien, das magere Männchen fluchte, von dem sonnigen Tag draußen bekam man hier drin nichts mit. Thomas fragte sich, was Petra wohl sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Und Benny. Oder Steffen ...

»Zum Wohl.« Der Wirt stellte das große Bier auf den Tisch und sah ihn einen Moment aus seinen traurigen Augen an, dann schlurfte er zurück zum Tresen. Er wechselte ein paar Worte mit der Frau, die kurz darauf die Kneipe verließ.

Thomas trank sein Bier. Mit jedem Schluck schmeckte es besser. Da er noch nichts gegessen hatte, spürte er fast augenblicklich den Alkohol, ein leichter Schwindel erfasste ihn, der nicht gänzlich unangenehm war. Der Mann am Spielautomat gab schließlich auf und rutschte vom Hocker. Er legte ein paar Münzen auf die Theke und ging. Jetzt war Thomas der einzige Gast.

Als er sein Bier getrunken hatte, kam der Wirt an seinen Tisch, um das leere Glas abzuräumen. »Noch eins?«

Thomas schüttelte den Kopf, bezahlte und fragte nach den Toiletten. Der Wirt steckte das Trinkgeld danklos ein und deutete mit dem Daumen hinter sich zu einem schmalen Durchgang.

In dem gekachelten Flur roch es nach Klosteinen. An einem Ende des Ganges stand eine Tür offen, die auf einen Hinterhof hinausführte, am anderen befanden sich die Toiletten. Thomas öffnete die Tür der Herrentoilette und der Klosteingeruch steigerte sich derart, dass ihm fast schlecht wurde. Er fühlte sich taumelig und musste sich einen Moment an der Wand abstützen. Im Spiegel über dem Waschbecken sah er sein Gesicht, er hatte vergessen, sich heute Morgen zu rasieren. Er wollte einen Schluck Wasser trinken, ekelte sich aber vor dem verdreckten Wasserhahn. Zu allem Überfluss regte sich jetzt auch noch sein Darm.

Gegenüber der Pissrinne gab es eine einzige Klokabine, deren Tür aber geschlossen war.

Thomas drückte die Klinke herunter und war mit einem Schlag wieder vollkommen nüchtern.

Der Mann, der mit heruntergelassener Hose auf der Toilette saß, richtete eine Pistole auf Thomas, er sah den Lauf direkt auf seine Körpermitte zielen, reflexartig hob er die Hände.

»Nicht ... nicht schießen ... bitte ...«

Der Mann gab ein Stöhnen von sich. Die Pistole in seiner Hand zitterte. Seine Jeans und die Unterhose lagen ihm als zerknautschter Haufen um die Knöchel. Mit der freien Hand fuhr sich der Mann über die Brust, er trug ein blutverkrustetes Poloshirt, auch seine Hände waren voller Blut.

»Brauchen Sie Hilfe?«

Der Mann verzog sein Gesicht, es sah fast so aus, als versuche er zu lachen. Er griff in die Brusttasche seines Shirts und holte etwas heraus, hielt es zwischen seinen Fingern, dann versuchte er, sich die Hosen hochzuziehen, kam aber, als er die Unterhose schon halb über dem Hintern hatte, ins Straucheln und stürzte zwischen Kabinenwand und Toilettenschüssel, die Waffe rutschte ihm aus der Hand und fiel auf den gefliesten Boden, der Kopf sank ihm auf die Schulter, dann lag er ganz ruhig.

Thomas nahm langsam die Arme herunter. Er stand einen Moment vollkommen reglos. Durch das kleine geöffnete Fenster über dem Pissoir hörte er jemanden lachen, eine Autotür wurde zugeschlagen, ein Motor angelassen, dann war alles wieder still.

Der Mann sah jetzt fast so aus, als würde er schlafen, nur der verdrehte Körper und die weit aufgerissenen Augen passten nicht dazu. Thomas hatte noch nie zuvor eine Leiche gesehen, aber er wusste, dass dieser Mann definitiv tot war. Er musste dem Wirt Bescheid sagen. Die Polizei rufen. Er würde als Zeuge vernommen und vielleicht sogar vor Gericht zitiert werden. Er würde ...

Thomas sah sich um, er war ganz allein mit dem Toten. Er trat einen Schritt zurück. Auf dem Boden vor der Kloschüssel lag etwas. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein Schlüssel. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, dass er zu einem der Schließfächer im Hauptbahnhof passen könnte. Thomas hatte im letzten Frühjahr einmal Wechselkleidung für den Abend dort deponiert, als seine Abteilung einen feuchtfröhlichen Ausflug mit dem ›Ebbelwei-Express‹ unternommen hatte. Er würde den Schlüssel der Polizei übergeben und ihnen sagen müssen, dass er ihn aufgehoben hat, wegen der Fingerabdrücke natürlich. Er würde ...

Thomas steckte den Schlüssel ein, dann schloss er die Kabinentür hinter sich und verließ den Toilettenbereich. Aus dem Gastraum war nichts zu hören außer dem gelegentlichen Gedudel des Glücksspielautomaten. Die Tür am Ende des Flurs zum Hinterhof war immer noch mit einem Keil blockiert und stand weit offen.

***

Maik kam nur selten hier herauf. Die Gefahr, von der Straße aus gesehen zu werden, war einfach zu groß.

Seit er vor zehn Jahren auf der Flucht vor einem seiner Betrugsopfer zum ersten Mal im Gebäudekomplex des alten Polizeipräsidiums gewesen war, hatte sich einiges verändert. Waren es am Anfang meistens Junkies und Obdachlose, die sich nachts im Gebäude herumtrieben, kamen nun richtige kleine Banden auf der Suche nach Kupfer und anderem verwertbarem Metall und lieferten sich mit den Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes ein Katz-und-Maus-Spiel. Maik kannte sich mittlerweile so gut in dem alten Kasten aus, dass er sowohl den einen als auch den anderen erfolgreich aus dem Weg gehen konnte. Der Bau war jedenfalls ideal für jemanden, der kurzzeitig von der Bildfläche verschwinden musste, und das hatte er in den vergangenen Jahren immer mal wieder tun müssen, aber wohl noch niemals so dringend wie im Moment.

Die Wendeltreppe im Dach des alten Präsidiums führte in die verglaste Kuppel des Turms, von der aus man auf einen Umlauf treten konnte und an klaren Tagen wie heute einen schönen Blick über Frankfurt hatte. Unter den Dachsparren und zwischen den von Tauben zugeschissenen Verstrebungen stand im Sommer die Hitze, aber sobald man oben aus dem Turm trat, war die Luft frisch und ließ einen aufatmen. Maik hielt sich von der Brüstung fern, lehnte sich an die Kuppel und zündete sich eine Zigarette an. Unter ihm rauschte der Verkehr über die Ebert-Anlage und in der Ferne erhob sich der Ginnheimer Spargel vor einem wolkenlosen, tiefblauen Himmel. Die Sonne spiegelte sich in den verglasten Hochhausfassaden gegenüber, es war ein herrlicher Frühsommertag – und Maik saß bis zum Hals in der Scheiße.

Die Kurierfahrten kreuz und quer durch Deutschland und oft auch darüber hinaus waren in den letzten 12 Monaten zu seiner Haupteinnahmequelle geworden. Er kannte seine Auftraggeber nicht, er kannte nur ständig wechselnde Kontaktleute und deren Namen, die garantiert nicht ihre richtigen waren. Man kommunizierte sowieso fast nur über Prepaidhandys. Meistens fuhr er Drogen, manchmal Diebesgut, selten auch Waffen. Die Bezahlung war extrem hoch, das Risiko aber auch. Wenn er erwischt würde, gäbe es kein Netz und niemanden, der ihn raushauen könnte.

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9783955424275
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