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Читать книгу: «Die Industrielle Revolution», страница 3

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2.2 Textilindustrie

In dieser später so genannten „Take-Off-Phase“ wurden in der britischen Textilindustrie, die sich zum wichtigsten Motor des industriellen Fortschritts bis in die 1830er Jahre entwickelte, ebenfalls bahnbrechende technische Geräte vorgestellt. Interessant ist hier, dass der wichtigste Rohstoff, die Baumwolle, in Großbritannien selbst nicht vorhanden war. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde sie in kleinen Mengen und zu hohen Preisen überwiegend aus Asien importiert. Die Menschen trugen vor allem Kleidung aus Wolle und Leinen, was sich erst änderte, als die Stoffherstellung in Großbritannien seit den 1770er Jahren mechanisiert wurde. Seit dem späten 18. Jahrhundert wurde immer mehr Baumwolle in sehr guter Qualität aus Nordamerika importiert. Anbau und Ernte

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dort wurde durch Sklavenarbeit preiswert gehalten. Die zunehmende Stärke der Textilien verarbeitenden Industrie in Großbritannien basierte auf technischen Fortschritten in der Spinn- und Webtechnologie, die eine rasche und vor allem billige Verarbeitung der Baumwolle zu Stoffen erlaubte.

Das 1733 von John Kay (1704 – 1780) im nordenglischen Bury konzipierte flying shuttle (Fliegendes Schiffchen) erhöhte die Arbeitsgeschwindigkeit mechanischer Webstühle ganz erheblich und wird im Allgemeinen als eine der Schlüsselinnovationen betrachtet, die die Industrielle Revolution ermöglichten. Auf traditionellen Webstühlen schob ein Weber das den Faden transportierende Schiffchen per Hand durch die alternierend geöffneten Kettfäden. Übertraf ein Stoff die Spannweite zweier Arme, waren zudem zwei Weber nötig, um das Schiffchen hin- und her zu bewegen. Kays mit einer Spindel versehene, an beiden Enden durch abgerundete Metalleinsätze verstärkte und auf Rollen laufende Schiffchen wurde dagegen durch ein Seilzugsystem, das ein Weber mit einer Hand bedienen konnte, mit großer Geschwindigkeit durch die Kettfäden „geschossen“. Mit der anderen Hand konnte der Weber die Kettfäden alternierend bewegen. So waren auch breite Stoffbahnen von einem Arbeiter in viel kürzerer Zeit zu weben. Nachteilig war lediglich, dass solche Hochgeschwindigkeitsschiffchen sich bei Fehlfunktionen selbständig machen und Arbeiter verletzen konnten. Problematisch war außerdem, dass bald nicht mehr genug gesponnene Fäden zur Verfügung standen, um solche Webstühle betreiben zu können. Aufgrund des großen Produktivitätszuwachses verloren zahlreiche Weber ihre Arbeit. Kay selbst konnte von seiner Erfindung nicht profitieren, ganz im Gegenteil. Wiederholt musste er sein Patent vor Gericht gegen Nachahmungen verteidigen, und 1753 griff ein Mob aus arbeitslosen Webern sein Haus an. Kay flüchtete nach Frankreich, wo er vergeblich versuchte, seine Erfindung populär zu machen, bevor er schließlich verarmt starb.

Es dauerte über drei Jahrzehnte, bevor die Spinntechnologie durch mehrere zentrale Innovationen das Weben wieder einholen konnte. Der aus Blackburn, einem der Zentren der Textilherstellung, stammende Spinnereibesitzer James Hargreaves (1720 – 1778) konstruierte in den späten 1760er Jahren eine revolutionäre Spinnmaschine, die den Beinamen

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Spinning Jenny erhielt und vermutlich nach der Tochter eines Kollegen benannt wurde. Waren zuvor bis zu zehn Spinner nötig, um einen Weber mit Fäden zu versorgen, kehrte die mittels Muskelkraft betriebene halbautomatische „Jenny“ das Verhältnis um, denn die Maschine war in der Lage, mit anfangs acht, nach Verbesserungen sogar mit über einhundert Spindeln gleichzeitig Fäden zu spinnen. Die relativ kompakte Maschine fand auch unter Heimarbeitern reißenden Absatz; um 1790 waren bereits weit über 20.000 „Jennys“ in Großbritannien in Betrieb.

Fast zeitgleich wurde die größere „Waterframe“-Spinnmaschine von Richard Arkwright (1732 – 1792) konzipiert. Diese war in der Lage, Baumwolle so zu ziehen, dass sie reißfester wurde und stabile Kettfäden daraus gesponnen werden konnten. Arkwright, der zuvor viele Jahre als Perückenhersteller gearbeitet hatte, bevor diese außer Mode gerieten, gilt außerdem als einer der Väter des modernen Fabrikwesens, da er seit den 1770er Jahren eine Reihe größerer Spinnereien errichtete, in denen möglichst viele seiner Maschinen aufgestellt wurden. Die dort beschäftigten Arbeiter mussten sich einer strikten Fabrikordnung unterwerfen, die auf größtmögliche Produktivität ausgerichtet war und wurden von Arkwright häufig in gleich nebenan errichteten Wohnhäusern untergebracht. Um 1790 existierten etwa 150 große Industriespinnereien in ganz Großbritannien.

Schließlich muss eine dritte Erfindung betrachtet werden. 1779 brachte Samuel Crompton (1753 – 1827) die Spinning Mule (Maultier) genannte Spinnmaschine auf den Markt, die Elemente der „Jenny“ und des „Waterframe“ kombinierte und in der Lage war, hochfeine Baumwollfäden herzustellen. Diese bis zu eintausend Spindeln tragende Konstruktion konnte nur von einem hochqualifizierten Facharbeiter bedient werden. Die „Mule Spinner“ wurden gut bezahlt und bildeten eine „Arbeiteraristokratie“ in der frühen Industrialisierung. Diese Technologie ermöglichte die Fertigung von Fäden, die es mit der Qualität der Produkte aus dem indischen Bengalen aufnehmen konnten. Dort lag bis dahin das nur schwach mechanisierte, aber durch extrem niedrige Löhne konkurrenzlos preiswert arbeitende Zentrum der weltweiten Baumwollstoffproduktion.

Seit dem späten 18. Jahrhundert sorgten diese Innovationen in der Spinntechnologie für die rapide Industrialisierung der Textilherstellung

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in Großbritannien. Andere Länder, darunter das im Textilsektor traditionell starke Frankreich, mechanisierten ihre Produktion wesentlich später, was den Briten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein einen uneinholbaren technischen Vorsprung verschaffte. Einerseits war es teilweise schwierig, britische Patente zu erhalten, aber viel wichtiger war, dass sich in Frankreich – noch mehr aber in Indien – die Anschaffungskosten für die Einführung komplexer Maschinen angesichts niedriger Arbeitslöhne lange nicht rentierten. In Großbritannien dagegen machten die hohen Lohnkosten Investitionen in aufwändige Technologie früh rentabel. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass auch in Großbritannien Stoffe bis in die 1820er Jahre fast immer auf Handwebstühlen hergestellt wurden. Diese nur teilmechanisierte, wenig Investitionskapital erfordernde, aber viele Arbeitsplätze schaffende Fertigung wurde erst im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts durch mit Dampfenergie betriebene Webstühle vollständig industrialisiert.

Die Textilindustrie war, vor allem in Nordengland, bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die treibende Kraft hinter der Industrialisierung. In den britischen Industriegebieten hergestellte Textilien dominierten den Weltmarkt. Britische Patente für Maschinen in der Textilherstellung gelangten erst mit deutlicher Verzögerung auf den europäischen Kontinent und in andere Gegenden der Welt, was auch dazu beitrug, die Vormachtstellung der Briten auf diesem Sektor auszubauen. Die Textilindustrie benötigte neben einigen sehr gut qualifizierten viele ungelernte Arbeitskräfte und prägte ganze Städte und Regionen. Vor allem in Lancashire, aber auch in Cheshire und der Gegend um Glasgow, wuchsen zahlreiche mill towns aus dem Boden, die ausschließlich von der Textilherstellung lebten. Manchester wurde das Zentrum des Textilhandels.

2.3 Kapital und Absatzmarkt

Technische Innovationen und der Bau von Fabriken benötigten Kapital. Zwei Gründe waren ausschlaggebend dafür, dass in Großbritannien genug davon vorhanden war, um eine frühe Industrialisierung zu gewährleisten. Zum einen hatten die Briten früh eine führende Rolle

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im internationalen Handel eingenommen, was Kapital voraussetzte, aber auch generierte. Wer im Handel ein Vermögen gemacht hatte, konnte sein Geld auch anderweitig anlegen, zum Beispiel in produktiv bewirtschaftetem Farmland, in Grund, der reich an Bodenschätzen war, oder in der Finanzierung von Industriebetrieben. Zum anderen hatte sich in Großbritannien – speziell in der City of London – seit dem späteren 18. Jahrhundert ein gut funktionierendes Bankwesen herausgebildet, das Kapital leihen und verschieben konnte. Britische merchant banker – Händler, die große Vermögen erwirtschaftet hatten – handelten zwar immer noch mit Gütern, betätigten sich aber zunehmend im Kredit-, Wechsel- und Anleihegeschäft. Einige spezialisierten sich bereits früh auf die Industriefinanzierung. Während in vielen kontinentaleuropäischen Ländern strikte Bankgesetze die Gründung von Aktienbanken erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichten, konnten solche das Risiko auf viele Schultern verteilende Institution in England bereits seit 1826 entstehen, was später wichtig für immer kapitalintensivere industrielle Großprojekte wurde. In der frühen Industrialisierung war jedoch weniger das Vorhandensein von Kapital unabdingbar als vielmehr die Möglichkeit, Rohstoffe, Maschinen und produzierte Güter zuverlässig bezahlen und verkaufen zu können, was das gut ausgebaute britische Bankenwesen ermöglichte. Der Charakter der Industrialisierung in dieser Phase, in der eher kleine Fabriken entstanden, die sich nur selten rapide vergrößerten, sorgte zunächst für einen recht überschaubaren Kapitalbedarf. Viele der industriellen Pioniere in Großbritannien liehen sich ihr Startkapital im Verwandtenkreis und vergrößerten ihre Fabriken stückweise durch die Reinvestition von Gewinnen.

Großbritannien hatte sich im 18. und 19. Jahrhundert ein gewaltiges überseeisches Imperium aufgebaut, welches ebenfalls als, teilweise exklusiver, Markt für den Absatz britischer Güter und Waren diente. Auch mit verschiedenen europäischen Ländern stieg der britische Außenhandel seit den 1760er Jahren stark an. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass dies die entscheidenden Gründe dafür waren, dass Produkte aus britischer industrieller Fertigung viele Käufer fanden. Vielmehr war es der britische Binnenmarkt, der seit dem 18. Jahrhundert kontinuierlich größer und kaufkräftiger wurde, weil die wachsende und durch Handel

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und Industrialisierung wohlhabender werdende Bevölkerung immer mehr Waren nachfragte. Der heimische Markt nahm während der Hochindustrialisierung über zwei Drittel aller im Land produzierten Güter und Waren auf. Schon im späten 18. Jahrhundert waren die Grundbedürfnisse nicht nur einer kleinen Oberschicht weitgehend gedeckt, was dazu führte, dass mehr und mehr Menschen über das Lebensnotwendige hinaus konsumierten. Wenige Jahrzehnte zuvor noch adligen Landbesitzern und einigen sehr vermögenden Händlern vorbehaltene Luxusgüter wandelten sich zu Dingen des alltäglichen Bedarfs, zunächst für die immer breiter werdende, durch Unternehmer und Fabrikanten bestimmte obere Mittelklasse, im 19. Jahrhundert auch für Facharbeiter, Handwerker, Einzelhändler und später die wachsende Zahl von Angestellten. Die Nachfrage nach gewerblichen Produkten durch einen stetig wachsenden Binnenmarkt trieb die Industrialisierung des Landes maßgeblich voran.

2.4 Transportwesen

Auch der stärkste Binnenmarkt und die günstigsten Rohstoffvorkommen hätten nicht zu einer frühen britischen Industrialisierung geführt, wenn Investitions- und Gebrauchsgüter nicht durch eine leistungsfähige Transportinfrastruktur bewegt worden wären. Die Entwicklung des Transportwesens bestimmte den Verlauf der Industriellen Revolution maßgeblich mit und wurde gleichzeitig von ihr vorangetrieben. Bis zum frühen 18. Jahrhundert waren die einzelnen Gemeinden für den Bau und die Erhaltung von Straßen zuständig. Um Handel und Wirtschaft auf regionaler Ebene gezielt zu fördern, wurden 1707 per Gesetz die ersten turnpike trusts geschaffen, die mit dem Aufbau eines zunächst noch sehr lückenhaften, zusätzlichen Netzes von gebührenpflichtigen, durch Mautstationen mit Schlagbäumen (turnpikes) gesicherten Straßen begannen. Meist kontrolliert durch lokale Honoratioren, waren die Trusts verpflichtet, die eingenommenen Gebühren in die Erhaltung der Straßen zu investieren. Um 1750 existierten rund 150 verschiedene Trusts, die typischerweise nur eine Straße von einigen Dutzend Kilometern Länge pflegten. Mit der Frühindustrialisierung kam es zu einer

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raschen Verdichtung des Netzes, so dass 1830 über eintausend Trusts fast 30.000 Kilometer Straße betrieben. Das Netz war zweifellos wichtig für die Beförderung von Personen, Nachrichten und leichteren Gütern, eignete sich mangels Transportmitteln jedoch kaum zur Bewegung schwerer Lasten. Dafür kam im 18. und frühen 19. Jahrhundert nur der Transport zu Wasser infrage, der in Großbritannien durch natürliche Gegebenheiten sehr begünstigt wurde. Einerseits erlaubte die Insellage, relativ viele Güter durch Küstenschifffahrt zu befördern. Obwohl stark vom Wetter abhängig, war dieser Transportweg zumindest für einige Regionen, darunter Nordwestengland, das südwestliche Schottland und auch die irische Ostküste, von herausragender Bedeutung. Andererseits eröffneten eine ganze Reihe schiffbarer Flüsse Wassertransportwege im Binnenland. Um aus diesen aber ein Transportnetzwerk zu machen, war der Bau zahlreicher Kanäle nötig, die sich im wenig bergigen England, dem südlichen Schottland und Südwales vergleichsweise leicht anlegen ließen und zunächst häufig Flüsse miteinander verbanden. Ein auf Treidelpfaden laufendes Pferd konnte auf dem Wasser eine Last ziehen, die zwanzig Mal schwerer war als im Straßentransport. Die große Zeit des Kanalbaus war das halbe Jahrhundert zwischen 1770 und 1820, motiviert vor allem durch die Notwendigkeit, Kohle über weite Distanzen zu transportieren. Viele Kohlefelder ließen sich erst durch einen Kanal erschließen. Der Wasserweg war auch im Winter benutzbar, wenn zahlreiche Straßen durch Schlamm oder tiefe Spurrillen unpassierbar waren, da das britische Wetter – auch dies ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber vielen kontinentaleuropäischen Nationen – nur selten strengen Frost brachte. Andererseits war der Bau von Kanälen nicht nur zeitraubend, sondern auch deren Instandhaltung teuer, vor allem wenn Schleusen benötigt wurden. Fast immer standen private Investoren mit stark beschränkten Partikularinteressen hinter Kanalbauprojekten. Häufig waren es Landbesitzer, die so versuchten, ihre Bodenschätze für die Industrie zu erschließen. Dennoch existierte um 1830 ein relativ dichtes, auf die Industriegebiete des Landes konzentriertes Netz von Wasserwegen, ohne das die britische Industrialisierung undenkbar gewesen wäre.

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2.5 Eisenbahn

Sowohl Kanäle als auch die turnpike roads erlebten seit den 1830er Jahren einen raschen Niedergang, was dem wichtigsten Transportmittel und sprichwörtlichem „Motor“ der Industrialisierung Großbritanniens für den Rest des 19. Jahrhunderts geschuldet war: der Eisenbahn. Von Menschen oder Pferden gezogene Schienenfahrzeuge waren schon seit den 1770er Jahren eingesetzt worden, hauptsächlich um Kohle zu transportieren. 1804 fand auch die Zusammenführung dieser Technologie mit der Dampfmaschine statt, als die erste Bergwerkslokomotive fuhr, zunächst noch ohne Schienen. Der Übergang von gusseisernen zu den wesentlich stabileren gewalzten Stahlschienen in den 1810er Jahren bahnte, gemeinsam mit Innovationen in der Dampfkesseltechnologie, den Weg für öffentlich betriebene Eisenbahnen. 1825 wurde die erste Strecke zwischen Stockton und Darlington im nordostenglischen Kohlerevier in Betrieb genommen, wobei dort ursprünglich ein Kanal hatte angelegt werden sollen. Die vom Bergwerksingenieur George Stephenson (1781 – 1848) und seinem Sohn Robert (1803 – 1859) gebaute Lokomotive zog experimentell auch einen Passagierwagen, während ansonsten nur Kohle transportiert wurde. Die Eisenbahn beeinflusste die britische Wirtschaft in zweifacher Hinsicht. Zum einen schuf sie eine extrem starke Nachfrage nach Eisen, da allein eine Meile Schienenstrang 300 Tonnen davon benötigte. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilten sich über 500 verschiedene Eisenbahngesellschaften bereits ein Netz von 6.000 Meilen. Zum anderen brachte die Bahn die Regionen des Landes wesentlich enger zusammen, transportierte Rohstoffe schnell, zuverlässig und vergleichsweise preiswert über große Entfernungen und eröffnete Fabrikanten und Geschäftsleuten völlig neue Absatzmärkte für ihre Produkte. Nun war es beispielsweise auch möglich, verderbliche Güter wie Lebensmittel nicht nur dort zu produzieren, wo sie auch konsumiert wurden. Die Eisenbahn trug so entscheidend zum wirtschaftlichen Konzentrationsprozess und der Bildung zahlreicher überregional operierender Industriebetriebe bei.

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Exkurs

Der Einfluss der Eisenbahn beschränkte sich nicht nur auf die wirtschaftliche Sphäre. Das immer dichter werdende Streckennetz verlangte zum Beispiel auch nach einer Vereinheitlichung der Zeitmessung. Bis in die 1850er Jahre galten überall in Großbritannien jeweils individuelle, voneinander teilweise beträchtlich abweichende Ortszeiten, die sich meist an Kirchturm- oder Rathausuhren orientierten. Um Fahrpläne zwischen den vielen verschiedenen Gesellschaften koordinieren und Unfälle auf stark befahrenen Strecken verhindern zu können, führte 1840 zunächst die Great Western Railway Company für ihren Fahrplan eine einheitliche „London Time“ ein. Diese orientierte sich an der im Königlichen Observatorium von Greenwich gemessenen Zeit und wurde deshalb auch Greenwich Mean Time genannt. Die übrigen Eisenbahnbetreiber zogen in den nächsten Jahren nach. Per Telegraf gesendete Signale und die Uhren der Bahnhofsvorsteher koordinierten die Zeiten landesweit, allerdings bisweilen nur gegen erhebliche lokale Widerstände. Auf ihre Eigenständigkeit bedachte Städte montierten für einige Jahre gar zwei verschiedene Minutenzeiger an ihre Kirchturmuhren und verwendeten außerhalb des Eisenbahnwesens weiter ihre traditionelle Individualzeit. Es dauerte bis in die frühen 1860er Jahre, bis sich die gemeinsame Zeit überall im Land durchgesetzt hatte. Erst 1880 standardisierte die Regierung offiziell die Greenwich Mean Time, die vier Jahre später die Grundlage für die Einteilung der weltweiten Zeitzonen wurde.

Weit über das Zeitkonzept hinaus beeinflusste die Eisenbahn den Alltag der Menschen nachhaltig. Sie brachte nicht nur neue Geräusche und visuelle Eindrücke mit sich, sondern prägte die Landschaft durch Brücken und die Städte durch prächtige Bahnhofsgebäude, vielerorts der ganze Stolz der Bürger. Unter den Kinderspielzeugen dominierte die Eisenbahn, und die neue Technologie wurde in der Literatur, Poesie und nicht zuletzt in zahlreichen Gemälden repräsentiert. Dampfende Lokomotiven und dramatische Brückenüberfahrten schmückten die gute Stube vieler bürgerlicher Haushalte.

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2.6 The Workshop of the World

Die frühe Industrialisierung machte Großbritannien zur mit großem Abstand bedeutendsten Wirtschaftsmacht des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts. Erst seit den 1880er Jahren begannen später industrialisierte Nationen, darunter vor allem das Deutsche Reich und die Vereinigten Staaten von Amerika, diese uneingeschränkte Vormachtstellung anzugreifen. Zwischen 1820 und 1840 wurden in Großbritannien im Jahresdurchschnitt 18 Millionen Tonnen Kohle gefördert, in Deutschland, Frankreich, Belgien und Russland gemeinsam im gleichen Zeitraum lediglich etwa 2 Millionen Tonnen. Selbst in den späten 1860er Jahren kam aus britischen Bergwerken immer noch mehr als doppelt so viel Kohle – jährlich 68 Millionen Tonnen – als aus diesen vier Staaten zusammen. Auch die britische Eisenindustrie hatte einen enormen Entwicklungsvorsprung und produzierte bereits 1820 jährlich über 400.000 Tonnen Roheisen; so viel wie der Rest Europas gemeinsam. Sheffield und Umgebung waren nicht nur das Zentrum der britischen metallverarbeitenden Industrie. 1850 stammte 90 % der weltweiten Messerproduktion aus dieser Region. Im gleichen Jahr verarbeitete die britische Textilindustrie jährlich 267.000 Tonnen Rohbaumwolle; der Rest Europas gemeinsam gerade einmal 162.000 Tonnen. Nicht zu Unrecht wurde das Land in den mittleren Dekaden des 19. Jahrhunderts als workshop of the world bezeichnet. Um 1850 war Großbritannien nicht nur die führende, sondern die einzige Industrienation der Welt, wenn als Definition zugrunde gelegt wird, dass mehr als die Hälfte der gesamten Wirtschaftsleistung im sekundären Sektor erarbeitet wurde.

Durch die Industrialisierung erlebten auch Handel und Dienstleistungen einen außerordentlichen Aufschwung. Die Londoner City, das Finanzviertel der Hauptstadt, wurde das unumstrittene Zentrum des internationalen Kapitalverkehrs. Nicht nur die dort angesiedelten Banken, sondern auch Versicherungen, welche Industrieunternehmen und Gütertransporte gegen Risiken absicherten, florierten. Britische Seehäfen und ihr Hinterland prosperierten gewaltig im Transatlantik- und Welthandel und schufen hunderttausende von Arbeitsplätzen in ihren Docks, aber auch im Schiffsbau. Britische Industrielle und Finanziers investierten Teile Ihrer

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Vermögen zunehmend im Ausland und erwirtschafteten so beispielsweise im Jahr 1870 rund £50 Millionen Gewinn. Dies war wichtig, weil Auslandsinvestitionen halfen, das Defizit zwischen Importen und Exporten (Handelsbilanz) auszugleichen. Großbritannien importierte nämlich zu dieser Zeit mehr Rohstoffe und halbfertige Produkte, als es an im Land gefertigten Produkten wieder exportierte, da der britische Konsument äußerst kauffreudig war. Das Empire trug seinen Teil dazu bei. Aus dem südlichen Afrika gelangten Gold und Diamanten nach Großbritannien, aus Kanada Weizen und Kupfer. Große Mengen Zinn wurden aus Malaysia importiert, Kakao aus Ghana, Palmöl aus Nigeria, Wolle aus Australien und Neuseeland, um nur einige der wichtigsten Rohstoffe zu nennen.

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9783846333501
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