Читать книгу: «Verschollen am Nahanni», страница 2

Шрифт:

2

Inge, heirate mich!“. Die Worte kommen leise, aber eindringlich. Die Augen hinter der randlosen Brille strahlen ruhige Entschlossenheit aus. Karl Harder hält Inge Breuers Hände mit den seinen fest umschlossen, als wolle er sie daran hindern, sich ihm zu entziehen.

Er hat das dezente Ambiente dieses vornehmen Restaurants im Düsseldorfer Parkhotel gewählt, weil er Inge nicht durch die Atmosphäre seines eigenen Hauses verunsichern wollte. Keine Zweifel, er weiß was er will, er will diese Frau gewinnen. Er ist sich ihrer Zustimmung nicht gewiss. Trauert sie immer noch ihrer ersten Ehe nach mit einem Mann, der nichts auf die Reihe brachte? Sie kennen sich schon viele Jahre, ob sie sich für ihn entscheiden wird? Nein, er ist nicht mehr der Jüngste. Vor zwei Wochen hat er seinen zweiundvierzigsten Geburtstag gefeiert. Aber was heißt das schon bei seiner Generation! Man hatte ihnen ja die Jugend gestohlen. Als er nach dem Abitur seinen zweijährigen Wehrdienst antrat, wusste er noch nicht, dass er die Uniform für lange sieben Jahre nicht mehr ausziehen würde. Gerade als seine Pflichtjahre abgeleistet waren, brach der Krieg aus. Er, der Oberfähnrich, marschierte mit nach Polen, dann nach Frankreich und schließlich in die endlose Weite Russlands. Dann war alles vorbei. Karl Harder stand in seiner verschlissenen Hauptmannsuniform als Siebenundzwanzigjähriger am Grab seiner Eltern. Sie kamen kurz vor dem Zusammenbruch bei einem Bombenangriff ums Leben.

Aber er hatte insofern Glück gehabt, als er schon nach wenigen Monaten aus amerikanischer Gefangenschaft entlassen wurde. Und mit der ihm eigenen Zähigkeit nahm er alle Unbilden des Studentenlebens in jenen Anfangsjahren auf sich, sobald die Bonner Universität wieder ihre Tore öffnete. Betriebswirtschaftslehre war sein Fach, weil er sich ausrechnete, dass Wirtschaftsberatung trotz oder gerade wegen der ungeheuren Zerstörungen ein Mangelberuf sein werde. Er sollte Recht behalten. Sein Beratungsunternehmen war ein Erfolg. Er wurde während dieses deutschen Wirtschaftswunders ein wohlhabender Mann. Nur zum Heiraten ist er nicht gekommen.

Jetzt saß vor ihm die Frau, die er damals als seine erste Sekretärin eingestellt hatte. Bald schon bemerkte er, dass er sich auf diese Inge Breuer blind verlassen konnte. Seit zehn Jahren schmiss sie den ganzen Laden und entwickelte zudem jene damenhafte Sicherheit, die gerade sein Kundenkreis zu schätzen wusste. Schon nach kurzer Zeit war sie unentbehrlich geworden. Ihr Mann hatte sich mehr schlecht als recht im Transportgewerbe versucht. Nein, dafür war der nicht gemacht! Er hatte sich auch nichts sagen lassen, und schon gar nicht von ihm, Karl Harder, weil er wohl spürte, dass er in Inge mehr sah als nur eine Angestellte.

Er hätte wohl keinerlei Chance gehabt, sie je von Uwe Breuer loszueisen. Inge war ihrem Mann unverbrüchlich treu. Sie liebte ihn. Karl Harder wusste das. Es wäre ihm nie eingefallen, auch nur den geringsten Versuch zu unternehmen, seine Gefühle für Inge offen zu zeigen.

Aber dann war die Sache mit dem Unfall auf der Königsallee passiert. Uwe Breuer hatte wohl Panik bekommen. Er reichte die Scheidung ein, erklärte sich durch seinen Anwalt als allein schuldig für die Zerrüttung der Ehe und verschwand. Dass seine Frau ein Kind erwartete, scheint ihn nicht gerührt zu haben.

Inge Breuer, die jetzt vor ihm sitzt, ist bleich geworden. Sie starrt ihn an und versucht, ihm ihre Hände zu entziehen.

„Karl, ich bin schwanger mit dem Kind von Uwe!“, sagt sie hilflos.

„In zwei Monaten ist es soweit!“

„Aber er hat dich doch im Stich gelassen, ist einfach weggelaufen!“

Inge schlägt die Augen nieder, schweigt eine Weile, um dann fast tonlos zu sagen: „Er weiß nichts von dem Kind!“

Die Worte hängen schwer in der Luft.

„Was? Du hast es ihm nicht gesagt?“

Zum ersten Mal fällt die überlegene Sicherheit von ihm ab.

„Ich habe es nicht fertiggebracht“, kommt leise die Antwort.

Und dann öffnet sie sich, ganz langsam, stockend, Wort hinter Wort setzend.

„Es war wohl mehr meine Initiative, damals, die Nacht vor dem Unfall, er wohnte ja nicht mehr bei mir, war ausgezogen. Ich lud ihn zum Essen ein und wir sprachen von den alten Zeiten, damals während des Krieges, von den Briefen, die wir uns geschrieben haben dann, als er verwundet war und bei uns in Stettin im Reservelazarett lag, und als er plötzlich die Heiratsgenehmigung herauszog – mit meinem Namen darin, er zweiundzwanzig und ich neunzehn. All die Erinnerungen an unsere Kriegstrauung kamen hoch, an die Trennung, und dass er dann wenige Wochen später abgeschossen wurde und in Gefangenschaft geriet. Die Erinnerung an die gemeinsamen Erlebnisse machten uns beide glücklich.''

Sie schluckt.

„Da ist er bei mir geblieben. Als er nach dem schrecklichen Unglück auf der Kö nicht mehr auftauchte und dann später sein Anwalt anrief, wegen der Scheidung“, sie schluckt wieder und hält einen Moment inne, „da habe ich es einfach nicht fertiggebracht, das mit der Schwangerschaft zu sagen. Ich war verletzt und ich wollte ihn auch nicht mit dem Kind erpressen, bei mir zu bleiben.''

Karl war der Erzählung mit ungläubigem Gesicht gefolgt.

„Inge, ich bewundere dich, du bist eine unglaublich starke Frau, aber du musst doch auch an deine Zukunft und an die des Kindes denken.“

Er zwingt sich zur Ruhe.

„Du bist eine geschiedene Frau und hättest dann ein uneheliches Kind, unsere Gesellschaft ist ja nicht übertrieben tolerant, wie du weißt.“

Er schaut sie mit einem sachlichen Blick an, um dann weich zu werden.

„Inge, ich bin kein übertrieben impulsiver Mann, du weißt das, aber du hast in diesen Jahren unserer Zusammenarbeit doch sicher gespürt, dass ich ein tiefes Gefühl für dich habe. Ich habe nie versucht mich dir aufzudrängen. In eure Ehe hätte ich mich niemals eingemischt. Aber soll ich jetzt, wo du frei bist, so tun, als würdest du mir nichts bedeuten? Wir sind in diesen Jahren verlässliche Freunde für einander geworden.“

Er zwingt sie mit seinem Blick, ihm in die Augen zu schauen.

„Ich werde mich nie einer anderen Frau wirklich zuwenden können, ich brauche dich! Wir passen zusammen, wir haben schon bewiesen, dass wir ein Team sind.“

„Aber das Kind ...“, wirft sie ein.

Er sieht sie fast flehend an.

„Ich kann es doch nicht einfach beiseiteschieben.''

Ihre Augen haben einen verzweifelten Ausdruck.

„Inge, das Kind ist ein Teil von dir, und ich würde es mit aller Liebe umgeben, als wäre es mein eigenes. Es würde meinen Namen tragen, und wenn du nicht willst, wird es nie erfahren, dass es einen anderen Vater hat. Ich werde nichts tun, um deine Liebe zu erzwingen, aber ich werde versuchen, sie mir zu verdienen. Inge, ich bitte dich, heirate mich!“

3

Alles klar zur Landung.“

Uwe Breuer weiß nicht wie oft er diese Antwort während der letzten Jahre vom Tower bekam. Vorsichtig setzt er die Beaver auf und lässt sie ausrollen. Ein Glücksgefühl durchströmt ihn. Auch ein erfahrener Pilot ist jedes Mal froh, sich und seine Passagiere wieder gesund auf den Boden zu bringen. Dann wird das Flugzeug mit Seilen festgezurrt. Plötzlich auftretende Winde haben schon manchen Schaden an nicht gesicherten Maschinen angerichtet.

„Für heute ist Feierabend“, überbringt Sandy Foster, Eigner der Northern Flying Services Ltd, sein Chef, die gute Nachricht. Mehr als zehn Jahre arbeiten die beiden nun schon zusammen. Sandy fand in ihm einen zuverlässigen Piloten, den er unbedingt für sein Transportgeschäft benötigte. Als Uwe sich aus seiner Fliegerkluft schält, läutet das Telefon. Sandy nimmt ab.

„Ist es wirklich gleich notwendig? Glaubst du nicht, dass es noch eine Weile dauert? Ok, du wirst es ja wissen, ist schließlich nicht dein erstes“, beendet er das Gespräch. „Uwe, du musst doch gleich wieder los. Diane Curtiss hat Wehen und sie glaubt, dass es diesmal nicht so lange dauert bis das Baby kommt. Also schnell ab ins Krankenhaus.“

Schon ist Uwe unterwegs. Schnell zieht er sich die Fliegerkluft wieder über. Die Maschine muss frisch betankt werden. Das Wetter sieht auch nicht einladend aus, aber dieser Flug erlaubt keine Verzögerung. Diane und ihr Mann stehen schon im Warteraum bereit. Im Koffer das Notwendigste fürs Krankenhaus. Ein Stoßgebet zum Himmel schickend verstaut Uwe die beiden in seiner Maschine. Trotz der Dringlichkeit absolviert er in aller Ruhe seine Startvorbereitungen. Die nächstgrößere Krankenstation ist eine gute Flugstunde entfernt, wenn das Wetter mitmacht.

„Alles wird gut. Versucht euch zu entspannen. Wir schaffen das rechtzeitig“, beruhigt er die werdenden Eltern.

Eine Geburt im engen Flugzeug, eventuell mit einer Notlandung, ist nicht gerade die Traumvorstellung eines Piloten. Immer wieder streift sein Blick die schwer atmende Diane auf dem Rücksitz. Wie gern wäre er mit Inge in dieser Situation gewesen. Beide hatten sie sich eine Familie gewünscht. Der Unfall veränderte alles.

Doch denkt Uwe zurück an die Zeit, als er Deutschland den Rücken kehrte und in Kanada Fuß fasste, müsste er fast dankbar für dieses eingreifende Ereignis in seinem Leben sein. Hier oben im Norden konnte er seine Leidenschaft für die Fliegerei berufsmäßig ausleben. Viele Freunde halfen beim Neuanfang. Allen voran John, bei dem er sich während des Krieges als Kriegsgefangener aufhielt. Ein ferner Verwandter von John lebte als Buschpilot in dieser einsamen Gegend und suchte dringend Verstärkung. Die Gelegenheit für Uwe! Sandy und er verstanden sich vom ersten Augenblick an. Eine langanhaltende Freundschaft begann.

Auf dem Rücksitz atmet Diane regelmäßig. Zum Glück werden die Wehen nicht stärker.

„Ich glaube, das Baby merkt, dass es noch etwas warten muss“, meint sie lächelnd, als sie erleichtert die blau blinkenden Lichter des Krankenwagens auf dem inzwischen sichtbar gewordenen Landefeld sieht. Dann übergibt Uwe den wartenden Sanitätern seine Passagiere. Ihm fällt ein Stein vom Herzen.

Das Funkgerät rauscht. „Hallo hier ist Sandy, kannst du mich hören? Das Wetter ändert sich. Es soll stürmisch werden. Das Risiko für einen Rückflug kannst du nicht eingehen. Bestimmt ist bis morgen das Unwetter durchgezogen.“

„Gut, wenn du meinst, werde ich mich in diesem aufstrebenden Ort heute Nacht amüsieren. Selbstverständlich auf deine Kosten!“

Uwe nimmt es gelassen. Sicher findet er eine Bleibe. Seine Gedanken weilen bei Diane. Hoffentlich geht alles gut. Im nächstgelegenen Motel beim Flugplatz bucht er ein Zimmer. Beim Öffnen der Türe gleitet ein Lächeln über sein Gesicht. Der etwas muffige Geruch, die einfache, aber saubere Ausstattung, die schräg hängende Jalousie, altmodische Baseboard Heater, die bei niedrigen Temperaturen für Wärme sorgen: Für ihn ist es das Kanada, das ihm nach all den Wirren seines früheren Lebens ein Gefühl von Heimat vermittelte, als er erstmalig hier Fuß fasste. Gerade diese Unzulänglichkeiten machen es so liebenswert. Dann am Morgen der erlösende Anruf: Der neue Einwohner für seinen Heimatort in der Wildnis kam wohlbehalten auf die Welt. Mutter und Sohn geht es gut. Auch Uwe freut sich für die Eltern. Soweit abseits von der Zivilisation in einer kleinen Gemeinde lebt es sich wie in einer großen Familie. Jeder kennt jeden. Das bedeutet auch jeder hilft jedem.

„Hallo Sandy. Gute Nachrichten hier. Die Curtiss haben einen Sohn und wie ist das Wetter bei euch? Da bring ich die drei doch gleich wieder mit zurück. Also dann bis später.“

„Wie viele Eier möchtest du zum Speck?“

fragt die freundliche Bedienung ihn am nächsten Morgen beim Frühstück.

„Ich glaube, heute vertrage ich drei mit vielen Bratkartoffeln und bitte einen starken Kaffee!“ Uwe freut sich auf das typisch kanadische Frühstück, das er sich normalerweise nicht gönnt, um sein Gewicht zu halten. Am Flugplatz erwartet ihn eine blasse, aber glücklich lächelnde Diane mit einem in Tüchern gewickelten winzigen Menschlein. „Der sieht aber wirklich seinem Vater sehr ähnlich“, kommentiert er das Bündel mit Blick auf den stolzen Erzeuger, wofür er einen freundschaftlichen Rippenstoß erhält. An der Maschine wartet schon ein junges Paar, das den außerplanmäßigen Flug wahrnimmt, um schneller zum Wanderziel im kanadischen Norden zu kommen. Bald darauf sticht die Beaver in den stahlblauen Himmel. Unwirklich ruhig verläuft der Flug.

Bereitwillig gibt Uwe Auskunft, was die jungen Leute in der Wildnis erwartet und worauf es zu achten gilt.

„Ihr könnt mit Joe noch mitfahren. Er wohnt dort oben. Dann spart ihr euch den Marsch die Straße entlang.“

Die Wanderer sind erstaunt, auf wie viel Hilfsbereitschaft sie stoßen.

„Alles klar zur Landung?“

Das übliche Prozedere. Vor dem Hangar haben sich viele Freunde versammelt, die den Neubürger mit lautem Hallo willkommen heißen. Uwe fühlt wie sich Müdigkeit seiner bemächtigt. Die Anspannung des vergangenen Tages macht sich bemerkbar. Sandy hilft ihm beim Befestigen der Maschine.

„Jetzt nimm dir erst mal einen Tag frei und geh fischen. Ich mach Wochenenddienst. Lisa verbringt ein paar Tage bei ihren Eltern. Meine Frau braucht mal wieder Tapetenwechsel!“

Gerne nimmt Uwe das Angebot an. Die halbe Meile zu seinem Mobile Home geht er zu Fuß.

„Hey Uwe, schön, dass du wieder da bist. Hat dich der Sturm nicht erwischt?“

Sein Nachbar streckt neugierig die Nase zur Türe hinaus. Er hat gleich gemerkt, dass in Uwes Trailer letzte Nacht kein Licht brannte. Eigentlich wie auf einem Dorf in Deutschland. Hier wird alles genau beobachtet, denkt Uwe und öffnet schmunzelnd die unverschlossene Tür. Das von außen unscheinbare Gebäude entpuppt sich in seinem Innern als gemütlich eingerichtete Junggesellen-Wohnung. Doch entgegen der landläufigen Meinung über alleinstehende Männer herrscht hier Sauberkeit und Ordnung. Küche und Esszimmer gehen ineinander über. Im Wohnzimmer steht eine ziemlich deutsch wirkende Schrankwand, die auch als Bücherregal dient. Bei genauem Hinschauen ist ein kleines oval geformtes Bild einer hübschen Frau zu erkennen: die junge Inge. Uwe lässt sich in den nächstbesten Sessel fallen. Dabei wird ihm seine Einsamkeit mal wieder bewusst. Trotz der vielen Jahre nach der Trennung von Inge wollte ihm bisher keine engere Beziehung mehr gelingen.

Eine heiße Dusche und das kalte Bier danach heben seine Stimmung etwas.

„Ja, Sandy hat recht, jetzt fahr ich mal übers Wochenende zum Fischen“, denkt er und packt wetterfeste Kleidung und Angelausrüstung in seinen vor der Tür geparkten Ford Bronco.

Der grau-schwarze Jeep sieht nicht nur chic aus, der Achtzylinder mit Allrad hat ihn bei seinen Ausflügen in die Wildnis bisher nie im Stich gelassen. Noch ist er unschlüssig, ob er seinen Zeltanhänger mitnehmen soll.

„Ach was, die eine Nacht roll ich mich in den Kofferraum. Da ist genug Platz.“

Nur fünfzig Meilen von hier kennt er eine gute Stelle am Fluss, wo er bisher erfolgreich beim Angeln war. Während der Fahrt durch die eintönige Landschaft überkommt ihn wohltuende Ruhe. Wie so oft wandern seine Gedanken zurück nach Deutschland. Würde er mit Inge in einem Reihenhaus leben, für dessen Abzahlung er jeden Monat aufkommen müsste? Oder wäre er wieder auf Inges finanzielle Unterstützung angewiesen wie damals? Keine angenehmen Erinnerungen.

Plötzlich steigt er reaktionsschnell auf die Bremse: Ein Elch überquert die Schotterstraße. Bewundernd schaut er dem Tier mit seinen mächtigen Schaufeln nach. Wieder einmal wird ihm bewusst, in welchem Paradies er zu Hause ist, auch wenn sich der nächste Supermarkt nicht um die Ecke befindet und das Unterhaltungsprogramm in der Bar jedes Wochenende das Gleiche bietet.

Angekommen an seinem Stammplatz packt er Tisch und Klappstühle aus. Zwei Angelruten und verschiedenerlei Blinker tauchen kurz darauf ins Wasser. Eine halbe Stunde später liegen eine kräftige Forelle und ein Hecht neben ihm an Land. Für ein ordentliches Lagerfeuer findet er genügend Äste. Da hört er das Herannahen eines Autos.

„Hey Kumpel, da gönnt dir einer deine Beute nicht! Schau mal nach hinten ins Gebüsch.“

Eine tiefe Männerstimme lässt Uwe aufschrecken.

Den Stammplatz kennen wohl noch andere. Vorsichtig dreht er sich um und sieht einen braunen Bärenkopf aus dem grünen Chaos auftauchen. Für Uwe nichts Neues. Jetzt heißt es Ruhe bewahren. Auf seinen Ausflügen kommt es immer wieder zu solchen Begegnungen. Obwohl er sein Bärenspray parat hat, weiß er genau: gegen einen Grizzly kommt er mit dem scharfen Gas kaum an. Doch dieser hat bereits den Rückzug angetreten. Gleich zwei Autos in seinem Revier – das ist unerträglich für ihn.

Inzwischen parkt der Ankömmling sein Auto neben dem Bronco. Als sich die Tür öffnet, sind zuerst einmal spitz zulaufende Cowboystiefel zu sehen. Der etwa fünfzigjährige Fahrer mit grauem Bart und Wuschellocken begrüßt Uwe mit einem kräftigen Handschlag. Der lädt den Fremden zum Essen ein, als er seinen Fang auf dem Lagerfeuer brät.

„Ich bin Uwe, und wie heißt du?“

„Jack“,

„Ok Jack, komm mach es dir gemütlich. Zu zweit schmeckt es doch besser.“

In Kanada ist man sehr gesellig, vor allem in dieser verlassenen Gegend. Die beiden kommen schnell ins Gespräch, als sich herausstellt, dass auch Jacks Eltern vor vielen Jahren von Deutschland einwanderten. Er selbst betreibt eine kleine Farm nicht weit vom Fluss entfernt. Als es dunkel ist, macht sich Uwes neuer Freund auf den Heimweg. Müde von der frischen Luft und nach ein paar Fläschchen kanadischen Biers, zieht sich Uwe in den Kofferraum seines Geländewagens zurück. Er kontrolliert die Fenster. Gar zu schnell würden gierige Moskitos eine Lücke entdecken. Die Schreie verschiedener Nachtvögel dringen zu ihm herein. Dann übermannt ihn Müdigkeit und er fällt in tiefen Schlaf. Dass der Bär am ausgehenden Lagerfeuer schnüffelt, ob noch etwas für ihn übrig geblieben ist und dabei die Stühle umwirft, bekommt er nicht mehr mit.

„Gut, dass du schon früher zurück bist. Ich hab mal wieder einen Spezialauftrag für dich. In Yellowknife wartet ein gut betuchter Amerikaner, der zu dieser Lodge am Ostarm des Sees gebracht werden soll, die nur per Boot oder Flugzeug erreichbar ist. Gleichzeitig kannst du Lisa mitnehmen. Sie hat genug von dem Tratsch ihrer Mutter. Sie sehnt sich nach ihrem schweigsamen Ehemann, ha, ha.“

Sandy empfängt ihn freudestrahlend bei der Rückkehr. Persönliche Wunschtransporte sind für Buschpiloten einträgliche Geschäfte.

„Du nimmst am besten die Havilland Beaver und startest morgen möglichst früh.“ Uwe schlendert zum Hafen. Ein Flugauftrag mit seiner Lieblingsmaschine, das ist eine feine Sache. Außerdem findet sich mit einem Wasserflugzeug oftmals leichter ein Lande- bzw. Startplatz in der seenreichen Landschaft. Nach dem Auftanken kontrolliert er noch die Schwimmer. Alles in Ordnung. Morgen kann es losgehen.

Am nächsten Tag nach dem Aufstehen entdeckt Uwe beim Blick aus dem Schlafzimmer, dass der Himmel wolkenverhangen ist. Doch der Wetterbericht gibt Entwarnung.

„Du sammelst den ambitionierten Angler ein, lädst Lisa in deine Kiste und fliegst zum Ostarm des Großen Sklavensees. Dort will er es sich auf der exklusiven Lodge gutgehen lassen und seine Trophäen aus dem Wasser ziehen.“

Sandy kann den Spott über diese Art von Sports-Leuten nicht für sich behalten. Doch das Geschäft geht vor.

In der Maschine überprüft Uwe sicherheitshalber alle Schalter, auch die Spucktüten sind ersetzt, dann fährt er langsam zur Wasserrinne, die genügend lang ist für einen Start. Die Motoren dröhnen auf Hochtouren und es geht los. Bald schon lässt die Maschine den See unter sich und schraubt sich hinauf. Es wird ein ungemütlicher Flug. Tiefe Wolken verursachen Turbulenzen. Die Strecke nach Yellowknife kennt Uwe wie seine Westentasche. Und doch verläuft sie jedes Mal anders.

„Dreh noch eine Schleife. Wir haben gerade Rushhour auf der Landebahn, ha-ha“, bekommt er vom Tower Anweisung. Schneller als er dachte, wird ihm eine Bucht frei gemacht. Bevor er in die Empfangshalle geht, gibt er das Nachtanken in Auftrag. Er will keine Zeit verlieren.

„Entschuldigung, sind Sie Mister Nicolsen?“

Schon von Weitem erkennt Uwe seinen Fluggast an der exklusiven Ausstattung: Hosen mit unzähligen Taschen, natürlich in Tarnfarben, dazu passend eine dick gefütterte Jacke und Baseballkappe, auch diese in braun-grün. An den Sitz gelehnt stehen Rohre, in denen er seine Angelruten verstaut hat. Das restliche Gepäck passt in eine kleine Reisetasche.

„Schön, dass Sie schon da sind. Ja, ich bin Jeff Nicolsen.“

Der gut ausstaffierte Sportsmann entpuppt sich als freundlicher, sympathischer Zeitgenosse.

„Hallo Uwe, da bin ich!“

Lisa kommt ihm durch die Flughalle entgegen.

„Hast du mal einen Blick in die Wettervorhersage geworfen? Das sieht nicht gut aus. Ich glaube, wir sollten ein paar Stunden warten, bis die Front durchgezogen ist.“

Als Frau eines Piloten kennt auch sie sich bestens aus mit der Fliegerei. Tatsächlich: Da braut sich was zusammen.

„Wir lassen das Gepäck hier und genehmigen uns erst einmal ein Mittagessen. Ich kenne da ein nettes kleines Restaurant, ganz in der Nähe.“

Die beiden Männer sind mit dem Vorschlag gleich einverstanden.

„Hallo Mabel, hast du genügend zu essen und trinken für zwei hungrige Wölfe?“

Lisa kennt Mabel Benson von früheren Besuchen und es hat sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen den zwei Frauen entwickelt. Wenn Lisa aus der Enge ihres Elternhauses ausbrechen will, kommt sie hierher. Eine Zeit lang kann sie dann die Probleme mit ihren über achtzig Jahre alten Eltern vergessen. Trotzdem genießt sie die Abwechslung, auch wenn ihre Aufenthalte hier im Jahr gezählt sind.

„Wen schleppst du mir denn da wieder ins Haus?“, meint Mabel lachend und begrüßt die beiden Unbekannten. Der unbekümmerte Umgangston gefällt Uwe.

„Einmal Reuben-Sandwich mit viel Sauerkraut, einmal Fisch mit Chips, Mayo und Ketchup. Und für unsere Hungerkünstlerin einen kleinen Salat!“

Belustigt gibt Mabel ihre Bestellung an die Küche weiter. Während dort gemischt und gebraten wird, entspannt sich eine angeregte Unterhaltung zwischen den Vieren. „Das war schon immer mein Kindheitstraum: Einmal mit dem Wasserflugzeug mitzufliegen“, schwärmt Mabel.

Die Einladung des Amerikaners gleich mit ihm in die Maschine zu steigen, muss sie leider ablehnen, schließlich ist sie hier die Chefin und kann sich nicht von einer Minute auf die andere freigeben. Uwes Vorschlag, sie am Wochenende mitzunehmen, wenn er Jeff von der Lodge wieder abholt, will sie sich überlegen. Die lebhafte Mabel gefällt ihm. Sie hat in ihm eine Tür aufgestoßen, die er längst geschlossen wähnte. Es schmeckt vorzüglich. Uwe genießt die extra Portion Sauerkraut, ein Überbleibsel seiner deutschen Herkunft. Mit dem Versprechen sich bald wieder zu treffen trennen sie sich. Das Wetter hat eine ruhigere Richtung eingeschlagen. Zum Anlegeplatz ist es nur ein kurzes Stück zu Fuß.

„Wohin sollen denn die Angelruten?“

„Die legen wir zwischen die Sitze und Lisa nimmt auf einem der Schwimmer Platz“, macht Uwe Witze mit Jeff.

Dieser kann mit seiner Begeisterung nicht hinter dem Berg halten, als die Beaver abhebt und die endlose Weite der Wildnis aus der Vogelperspektive zu sehen ist. Doch das Wetter ist unberechenbar. Plötzliche Windlöcher lassen die Maschine immer wieder durchsacken. Nichts Besonderes für den Piloten. Sein amerikanischer Fluggast schielt schon mal nach der Spucktüte. Dann kommt heftiger Regen auf, der gleich darauf in Hagel umschlägt. Selbst einer geübten Mitfliegerin wie Lisa wird es mulmig. Uwe zeigt keinerlei Nervosität. Er verändert hin und wieder etwas die Höhe, ansonsten fliegt er unbeirrt weiter. Plötzlich, wie von Zauberhand, sind die dunklen Wolken verschwunden und ein unglaublich blauer Himmel erstreckt sich vor ihnen. Alle atmen erleichtert auf. Am Boden zeigt sich das verzweigte Geflecht aus Inseln im Ostarm des Großen Sklavensees. Um sich bei der Lodge anzumelden, dreht Uwe eine Runde über dem Gebäude. Jetzt wissen alle Bescheid und Vorbereitungen für die Landung werden getroffen. Der Landesteg ist extra stabil gebaut, dass auch Wasserflugzeuge vertäut werden können.

„Willkommen in der Einsamkeit! Die Fische warten schon auf dich!“

Laut dröhnendes Lachen empfängt den neuen Gast. Jeff weiß, hier wird er sich wohl fühlen. Nach Kaffee und einem Besuch der Toilette eilen Lisa und Uwe zum Flugzeug zurück. Sie trauen der Wetterverbesserung nicht. Auf dem Schwimmer stehend nimmt Uwe die Taue in Empfang und verstaut sie sicher. Gewandt klettert er auf seinen Sitz und wirft den Motor an.

„Also dann bis zum Wochenende Jeff, und Petri Heil.“

Ein letzter Gruß.

Schnell werden die auf dem Steg stehenden Figuren kleiner.

„Wie oft habe ich wohl schon diese Landschaft unter mir gesehen, die glitzernden Seen, die von oben schmal wirkenden Flüsse, die sich in Wirklichkeit in rasende todbringende Ströme verwandeln, Tiere, die dort ein gut getarntes Dasein führen. All die Menschen, die tagtäglich sich den Herausforderungen dieser ungebändigten Natur stellen.“ Uwe gerät ins Schwärmen und er weiß: Ja, es war die richtige Entscheidung.

Die Woche verläuft ruhig. Als Flugzeugmechaniker ist Uwe auch bei anderen Piloten gefragt. Schnell und zuverlässig führt er ihre Aufträge aus. Die Zeit scheint still zu stehen. Was ist nur los mit ihm? Kann er es nicht erwarten sich mit Mabel zu treffen?

„Also von mir aus ist es in Ordnung. Erfülle Mabel ihren Kindheitstraum, aber bring sie auch wieder sicher zurück!“

Sandy kann sich eine gewisse Ironie nicht verkneifen, als er den herausgeputzten Uwe sieht, der gerade in die Beaver steigt. Eine aufgeregte Mabel erwartet ihn am Anlegeplatz. Sie hat sich übers Wochenende frei genommen. Er ist ihr behilflich beim Anlegen des Sicherheitsgurtes. Schnell verschwindet die Unsicherheit in Mabels Augen, als sie beobachtet, mit welcher Überlegenheit Uwe die Maschine bedient. Dann stellen sie fest, dass sie das Gleiche für diese unglaubliche Landschaft empfinden, die sich nun unter ihnen zeigt. Mabel ist ganz aufgeregt von all den Eindrücken. Sie weiß nicht was spannender ist, dass sie von hier oben wie ein Vogel die Welt sieht, oder ist es etwa der lässig hantierende nicht schlecht aussehende Pilot mit dem sie unterwegs ist?

„Jeff ist noch mit dem Boot draußen. Gebt ihm noch etwas Zeit. Er ist verrückt nach den Fischen. Dabei muss er die größten wieder von der Angel lassen: catch and release. Schließlich soll der Fortbestand der Fischarten gesichert sein. Aber für ein Foto reicht es allemal, um bei den daheim gebliebenen Freunden anzugeben.“

Ein anderer Gast entschuldigt verschmitzt grinsend den Vermissten. Uwe ist über die Verzögerung nicht traurig. Gemeinsam mit Mabel schlendert er über das weitläufige Gelände. Wahrlich ein Paradies für jeden Naturfreund. Uwe gibt nur wenig von seinem Lebenslauf preis. Die etwas jüngere Mabel hat noch eine Mutter in Winnipeg. Ansonsten verlief ihr Leben wie sie meint in allzu ruhigen Bahnen.

Viel zu früh kommt ein übers ganze Gesicht strahlender Jeff zurück: „Mensch, so was Tolles hab ich noch nie erlebt. Meine Freunde werden staunen, wenn ich ihnen davon erzähle!“

„Aber halt dich mit deinem Angler-Latein etwas zurück“, unterbricht Uwe den Redefluss des Amerikaners. Eisgekühlt nimmt er seinen Fang mit. Die Ausrüstung hat sich bewährt. Von all den Eindrücken überwältigt verschläft er den Rückflug.

Zurück in Yellowknife heißt es auch Abschiednehmen von Mabel. In den wenigen Stunden sind sich die beiden näher gekommen.

„Ich lass bald wieder etwas von mir hören. Alles Gute!“

Mabel wird es schwer ums Herz, als Uwe sie ein letztes Mal in den Arm nimmt.

Bald schon hat der Alltag Uwe fest im Griff. Ein Bewohner hat zu viel getrunken und anschließend ein Wochenendhaus ausgeräumt. Diesmal ist es ein „Gefangenentransport“ bei dem die Beaver mit ihrem Piloten gefragt ist. Ein andermal wollen Goldsucher zu ihrem abseits der Straße liegenden Claim gebracht werden. Auch die alte Dame, die unbemerkt das Seniorenheim verließ, um zu ihrer Farm zurückzukehren, entdeckt er aus der Luft. Und nach wie vor sind sein Wissen und seine geschickten Hände bei Reparaturen sehr gefragt. Denkt er an Mabel, wird es Uwe jedes Mal warm ums Herz. Doch die ausgiebigen Telefonate sind kein Ersatz für einen persönlichen Besuch. Leider ergab sich dazu keine weitere Gelegenheit. Eines Tages wartet ein Brief von Mabel in seinem Postfach. Freudig öffnet er den Umschlag und holt das beschriebene Blatt heraus, um es kurz danach enttäuscht sinken zu lassen: „Lieber Uwe, ich gehe nach Winnipeg, da meine Mutter schwer an Krebs erkrankt ist. Bitte versuche nicht mich dort zu erreichen. Meine Stelle im Restaurant habe ich aufgegeben. Bitte verstehe meine Entscheidung. Vielen Dank für alles, deine Mabel.“ Uwe kann nicht glauben, was da schwarz auf weiß steht: Mabel will keinen Kontakt mehr zu ihm. Dabei war er so sicher, dass diese Beziehung klappen könnte.

956,63 ₽
Жанры и теги
Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
253 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783948097516
Издатель:
Правообладатель:
Автор
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают

Новинка
Черновик
4,9
176