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Die Zeremonie war ein spektakuläres Ereignis. In langen Reihen schritten wir – Jungen in identischen Anzügen und Mädchen in weißen Kleidern, alle mit einer großen Kerze in der Hand – auf die Balustrade zu wie ein Ensemble von Tänzern in einer riesigen Ballettproduktion.

Für die meisten Leute war nach der Grundschule Schluß mit dem Religionsunterricht, aber ich machte aus eigenem Antrieb weiter. Während unsere rebellischen Zeitgenossen im Westen sich anarchistischen Gruppierungen anschlossen oder Drogen durchprobierten, äußerte unser Protest sich darin, daß wir Pilgerfahrten unternahmen, einen Straßenaltar für die Corpus-Christi-Prozession bastelten oder die Kapelle kehrten. In einer feierlichen Zeremonie wurde ich mit vielen anderen Jugendlichen firmiert, indem uns der Bischof der Reihe nach heiliges Öl auf die Schläfe rieb. Ich besuchte auch die übliche voreheliche Beratung, die allerdings für mich zum damaligen Zeitpunkt rein theoretischen Charakter besaß. Dort bekamen wir einige nützliche Ratschläge. Zum Beispiel sollte man nach einem Streit mit seinem Ehepartner niemals schlafen gehen, ohne sich vorher zu versöhnen. Das Kapitel Empfängnisverhütung kam jedoch etwas zu kurz, sowohl in der Schule als auch in der Kirche, und als ich mit achtzehn Jahren in England eintraf und zum ersten Mal von der »Temperaturmethode« hörte, mußte ich wohl annehmen, daß es sich dabei um besonders heißen Sex handelte.

Die Kirche behielt immer die Oberhand im Kampf um meine Seele. Wo die Schullehrer versuchten, uns den Kommunismus in die Köpfe zu hämmern, und einen abstrusen Jargon benutzten, gespickt mit Begriffen, die sie selbst kaum verstanden, dort sprachen die Priester ein einfaches Polnisch und Wörter, die eher auf das Herz zielten als auf den Kopf. Die Lehrer verkündeten Theorien, die Priester erzählten Geschichten von Menschen, auch wenn es sich um Menschen handelte, die seit langem tot waren. Die unbeholfenen Bemühungen der Schule waren nichts gegen die bedingungslose Hingabe und die geschickten Methoden meiner Großmutter. Sie löste in mir pawlowsche Reflexe aus, indem sie mir jedesmal ihre Anerkennung spendete – oder eine Tafel Schokolade, zu der Zeit eine seltene Delikatesse –, wenn ich zur Beichte gegangen war oder die gewünschte gute Tat vollbracht hatte.

An einem Tag im Jahre 1978 stand die Hegemonie der Kirche über meine Seele ein für allemal fest. Ich war in meinem Zimmer und wollte schnell meine Hausaufgaben machen, damit ich später einen Fernsehfilm sehen durfte. Plötzlich hörte ich, wie meine Mutter nebenan einen Schrei ausstieß. Ich eilte ins Wohnzimmer, wo meine Eltern am Schwarzweißfernseher klebten. Wie die meisten Menschen in Polen guckten sie die Abendnachrichten um halb acht. Der Nachrichtensprecher, der Tag für Tag die immergleichen Lügen herunterleierte, war feierlicher gekleidet als sonst und hatte neben sich auf seinem Pult einen Blumenstrauß. Normalerweise las er die Nachrichten mit versteinerter Miene, doch diesmal schien er durch irgend etwas gerührt zu sein. In seiner Stimme klang ein gewisser Stolz durch, daran bestand kein Zweifel, auch wenn sich nicht sagen ließ, ob er echt oder nur geheuchelt war. Jedenfalls wußte ich immer noch nicht, was passiert war, als auf einmal Bilder aus Rom eingespielt wurden, vom Balkon am Petersplatz und dann von einem Geistlichen, der sich an die gigantische Menschenmenge auf dem Platz wandte.

Der Geistliche verkündete: »Habemus Papam«, und die Menge schwieg. Er schielte auf einen Notizzettel und gab sich Mühe, den Namen des frischgewählten Papstes richtig auszusprechen: »Karol Wojtyła.« Die Menge zögerte einen Moment lang – offenbar überrascht durch die getroffene Wahl –, doch dann entbrannten ein Beifallssturm und ein Blitzlichtgewitter. Nur Sekunden später erschien das wohlvertraute Gesicht des Erzbischofs von Krakau, der die Zuschauer auf dem Platz segnete. Meine Eltern, sogar mein Vater, weinten vor Freude. Bis spät in die Nacht riefen Freunde und Verwandte an, um sich über die großartige Nachricht zu unterhalten.

Am nächsten Morgen, als ich mit der Buslinie 52 zur Schule fuhr, spürte ich zum ersten Mal die himmelweite Kluft zwischen »uns«, dem Volk, und »ihnen«, den Herrschenden. »Wir« bildeten die Mehrheit der Passagiere auf der normalerweise trostlosen Fahrt; doch diesmal lächelten wir fröhlich, sprachen wildfremde Leute an und tauschten uns über das freudige Ereignis aus. »Sie« waren ein paar finster dreinblickende Gestalten im hinteren Teil des Busses, die an einer Haltestelle vor dem protzigen weißen Hauptquartier der Staatssicherheit ausstiegen.

Als der Papst im Jahr darauf nach Polen kam, reiste ich zum Flugplatz von Gniezno, um ihn zu sehen. Sein weißer Hubschrauber landete vor den Augen von weit über einer Million Menschen, die ihm begeistert zujubelten. Freiwillige Ordner mit Armbinden in päpstlichem Weiß-Gelb wiesen uns auf unsere Plätze. Die Polizei ließ sich nicht blicken, wahrscheinlich, um keine politischen Demonstrationen zu provozieren, und doch gab es keinerlei Zwischenfälle. Nach der im Freien abgehaltenen Messe marschierte die Menge in die wenige Kilometer entfernte Altstadt von Gniezno. Auf halber Strecke kletterte ich mit meinem Freund Wojtek auf einen Baum. Soweit das Auge blicken konnte, war es schwarz von Menschen. Wir fühlten die enorme Macht der Masse, ohne daß sie bedrohlich gewirkt hätte. Hier waren gänzlich unaufgefordert mehr Menschen zusammengeströmt, als ich je bei den Maiparaden gesehen hatte. Uns wurde zum ersten Mal bewußt, daß »wir« zahlreicher waren als »sie«.

Später standen wir jubelnd auf dem Platz vor dem Sitz des Erzbischofs und warteten darauf, daß der Papst sich der Menge zeigen würde. Es war ein Treffen mit der Jugend vorgesehen; Schüler- und Studentengruppen spielten Gitarre und sangen Lieder. Dann erschienen zwei Gestalten auf dem Balkon: der Papst und, im purpurroten Gewand eines Kardinals, Primas Wyszyński, der Mann, dem es gelungen war, sogar während der schlimmen Verfolgungen der fünfziger Jahre die Unabhängigkeit der Kirche zu bewahren. Der Papst machte ein fröhliches Gesicht; es war ihm anzusehen, daß er am liebsten zu uns heruntergekommen wäre. Wyszyński war dagegen einer von der alten Schule. Wie ein römischer Kaiser grüßte er mit erhobener Hand die ausgelassene Menge, die augenblicklich verstummte. Was Wyszyński sagte, weiß ich nicht mehr, aber die unerschütterliche Autorität, die er ausstrahlte, hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck.

Als wir nach Hause kamen und von den riesigen Menschenmengen beim Papstbesuch erzählten, glaubten unsere Eltern, daß wir maßlos übertrieben. Im Fernsehen waren Bilder gezeigt worden, nach denen nur Nonnen und Rentner der Messe in Gniezno beigewohnt hatten. Diesmal gingen die Lügen einfach zu weit. Für Millionen Menschen, die sich sonst kaum Gedanken über die Manipulation der Medien machten, war der Schwindel jetzt unübersehbar. An diesem Tag mit seiner friedlichen Versammlung fühlten Millionen Polen, daß sie zusammen stark waren – ein Gefühl, das sicherlich zur Gründung von Solidarność im Jahr darauf beitrug.

* Den Hinweis auf die Geschichte von Matolek und auf die Eingriffe der Zensur verdanke ich einem Artikel von Violetta Bukowska aus der katholischen Zeitung Słowo (August 1994).

** Dies war nicht der einzige Aspekt des Zweiten Weltkriegs, der im kommunistischen Geschichtsunterricht der Zensur zum Opfer fiel. Im Rückblick ist es kaum zu glauben, aber in der Schule haben wir nichts darüber erfahren, daß Juden im besetzten Polen gezielt verfolgt und in den nationalsozialistischen Lagern ermordet wurden. Unsere Lehrer durften uns nur erzählen, daß sechs Millionen »polnische Bürger« im Krieg umgekommen sind. Daß die meisten der Opfer Juden waren, erfuhr ich erst aus Büchern von antikommunistischen Emigranten und aus Samisdat-Schriften. Allerdings sind wir nicht die einzigen, die schlecht informiert wurden. In Polen bin ich meines Wissens nach nie einem Juden begegnet – die jüdischen Gemeinden waren in Westpolen nie besonders umfangreich gewesen, auch nicht vor dem Holocaust. Als ich 1983 in Oxford zum ersten Mal einen Juden traf, war der erste Satz, den er mir entgegenschleuderte: »Ihr Polen seid doch alle Antisemiten!«

BYDGOSZCZ – 1981


MEINEN ERSTEN HALBWEGS öffentlichen Protest wagte ich mit vierzehn Jahren. Wir liebten es, wenn wir mit der ganzen Klasse ins Kino gingen, um sowjetische Kriegsfilme zu sehen – besonders dann, wenn dafür die Mathematikoder die Geschichtsstunde ausfiel. In all diesen Filmen zeichneten sich die Soldaten der Roten Armee durch einen an Schwachsinn grenzenden Heroismus aus, während die Deutschen als harmlose Stümper dargestellt wurden. Wenn sie ausnahmsweise siegten, dann durch irgendwelche bösen Machenschaften. Die Klischees waren auf Dauer nervtötend. Einmal, als in einem Film ein sowjetisches U-Boot in direkter Schußweite eines deutschen Zerstörers zum Auftauchen gezwungen war, brachen deshalb alle in Gelächter und Jubel aus.

Ich legte mich wiederholt mit meinen Lehrern an, vor allem mit der Geschichtslehrerin, die meine Ausführungen zu den Reformplänen der Londoner Exilregierung so abschätzig kommentiert hatte. Die meisten Lehrer hielten sich an die offizielle Doktrin, ließen aber hin und wieder durchschimmern, daß die Wahrheit anders lautete. Frau Hojan gehörte jedoch wie Skarpeta zur Minderheit der gläubigen Kommunisten. Wir stellten ihr provokante Fragen und wollten zum Beispiel wissen, wer nun wirklich für die Massenexekution polnischer Offiziere bei Katyń verantwortlich war (den Kommunisten zufolge waren es die Deutschen gewesen; doch fast jeder Pole wußte, daß Stalin das Massaker angeordnet und der NKWD seine Befehle ausgeführt hat) oder was im Geheimprotokoll des Ribbentrop-Molotow-Pakts stand (dessen Existenz von den Kommunisten geleugnet wurde; das Zusatzprotokoll sah die Aufteilung Polens sowie des Baltikums zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion vor). Anstatt mit uns zu diskutieren, stellte Frau Hojan sich stur und betete die kommunistischen Lügen herunter. Wir ließen aber nicht locker und machten ihr die Hölle heiß. Heute schäme ich mich, daß ich sie so hartnäckig getriezt habe, denn sie war körperlich behindert; sie humpelte stark. Doch damals kam es mir vor, als würde sie ihre Behinderung dazu benutzen, Mitleid zu erregen und so die Oberhand zu behalten, was mich nur noch mehr anstachelte. Ich wurde etliche Male aus dem Klassenzimmer geschickt, wenn sie wieder mal den Tränen nahe war. In London mußte ich eines Tages wieder an sie denken, als ich ein Buch von Janina Bauman rezensierte, einer Überlebenden des Warschauer Ghettos, die nach dem Krieg zur Stalinistin wurde. In ihrem Buch, das nur wenige Monate vor dem Zusammenbruch des Kommunismus erschien, vertritt sie die Überzeugung, daß die Deutschen das Massaker von Katyń verübt hätten, und nebenbei beschreibt sie, wie sehr sie geweint habe, als sie von Stalins Tod erfuhr. Nicht einmal, daß ihr eigener Vater in Katyń ermordet worden war, gab ihr zu denken. Offensichtlich ging die ideologische Verblendung so weit, daß den Leuten jedwede Vernunft ausgetrieben wurde.

Insgesamt blieben die Auseinandersetzungen mit Frau Hojan jedoch relativ sachlich, und sie selbst war nicht gehässig; ganz anders als unsere Klassenlehrerin, die wir wegen ihres kreidebleichen, mumienhaften Gesichts »Blada Jula« (die bleiche Julia) nannten. Im Gegensatz zu Frau Hojan oder der Socke schien sie keinerlei Überzeugungen zu besitzen. Sie war ein richtiger Wendehals. Vor dem Krieg war sie bestimmt Mitglied der Katholischen Aktion und achtete darauf, daß die Mädchen keine kurzen Röcke trugen. Sie unterrichtete Chemie, aber es war weithin bekannt, daß sie, anders als die meisten Lehrer, nie ein Hochschulstudium abgeschlossen hatte. Im Unterricht hatte sie immer ihr gelbes Notizbüchlein zur Hand, in dem sie regelmäßig nachschlagen mußte. Wir heckten ständig Pläne aus, um ihr das Notizbuch zu entwenden; wir waren sehr gespannt, wie sie ohne klarkommen würde. Ihre Komplexe über das fehlende Diplom waren zweifellos der Grund für ihre Unsicherheit und Gehässigkeit, so dachten wir damals. Erst später erfuhr ich, daß die anderen Lehrer sie nach Möglichkeit mieden, weil sie den Verdacht hatten, sie wäre einer der Spitzel der Staatssicherheit, wie es sie in nahezu jeder Institution der Volksrepublik Polen gab. Sie schien alle Menschen zu hassen, besonders aber uns, ihre Schüler, und Vergnügen daran zu finden, uns irgendwelcher Vergehen zu überführen und uns bloßzustellen.

Mit ihr befand ich mich ganz offen im Kriegszustand. Ich war schon etwas älter und gerissener und betrachtete es als Ehrensache, während der restlichen vier Schuljahre keine Maiparade mehr zu besuchen. Anderen offiziellen Feiern blieb ich mit der Ausrede fern, meine Eltern hätten kein Geld, um mir einen Anzug zu besorgen, was natürlich eine glatte Lüge war. Einmal bestellte Blada Jula meine Mutter zu einem Gespräch in die Schule, musterte ihre Kleidung und sagte dann: »Na, Sie sind zu knauserig, um Ihrem Sohn einen Anzug zu kaufen, aber Sie leisten sich selbst einen Schaffellmantel!« Als meine Mutter wieder auf dem Flur erschien, schossen ihr vor Wut und Erniedrigung die Tränen in die Augen.

Meine Abwesenheit bei der Maiparade brachte mir in der siebten Klasse nur eine Verwarnung ein, doch im nächsten Jahr, als sie mich schon besser kannte, wuchs ihre Wachsamkeit. Sie überprüfte, ob ich an den offiziellen Vorbereitungen teilnahm: Wir mußten Lieder einstudieren, Transparente malen und die Parteiparolen auswendig lernen. Ich tat so, als würde ich alles brav mitmachen. Und dann, als der Tag gekommen war, ging ich einfach nicht hin. Statt dessen fuhr ich mit meinen Eltern zum Picknick an einen See. Am nächsten Tag hatte sich Blada Julas sonst so bleiches Gesicht vor Zorn verfärbt. Die ganze Klasse hielt die Luft an, in Erwartung des Sturmes, der über mich hereinbrechen würde. Ich mußte an die Tafel kommen, und ihr ironisches Grinsen verriet schon, wie sehr sie sich auf die bevorstehende Abreibung freute. Seelenruhig übergab ich ihr ein ärztliches Attest für den ersten Mai, das mir von unserem Hausarzt Dr. Mierzwiński ausgestellt worden war; wobei er sehr wohl um den betrügerischen Zweck des Papiers wußte. Sie war eine Weile völlig verdutzt und sah mich dann mit haßerfüllten Augen an. »Gestern warst du also noch ans Bett gefesselt und konntest nicht zur Maiparade, aber heute bist du wieder völlig gesund?« Sie sah meine Klassenkameraden an, als suchte sie bei ihnen Bestätigung für die Absurdität meiner Erklärung.

»Ich wollte wirklich hingehen, aber der Doktor hat es mir verboten. Er sagte, ich hätte irgendein seltenes Fieber.« Dabei zeigte ich auf Dr. Mierzwińskis kaum zu entziffernde lateinische Diagnose. Sie brüllte mich an, ich solle mich wieder hinsetzen – diese Runde ging an mich.

Im nächsten Jahr sollte es schlimmer kommen. Zum dritten Mal in Folge hatte ich die Maiparade geschwänzt, und diesmal wurden meine Eltern zum Schuldirektor gerufen, was üblicherweise die letzte Warnung vor einer endgültigen Verweisung bedeutete. Wie meine Mutter mir später berichtete, saßen meine Eltern nervös in den Sesseln vor dem Schreibtisch des Direktors, während Blada Jula im Stehen eine lange Liste mit meinen gesammelten Verfehlungen verlas. Jeder Vorfall wurde im einzelnen diskutiert, und meine Eltern mühten sich, Entschuldigungen zu erfinden. Als sie zum entscheidenden Argument ansetzte, um mich ein für allemal als faules Ei zu entlarven, senkte sie ihre Stimme und zischte ihnen zu: »Wir würden uns nicht wundern, wenn Ihr Sohn antisowjetische Ansichten hätte!«

Dies war wahrlich keine leichte Anschuldigung, und meine Eltern waren wie erstarrt, als Jula sie prüfend anstarrte. Sie sahen den Direktor an, der Jula ansah. Dann blickte mein Vater ihr direkt in die Augen und sagte mit ironischer Stimme, in einem für ihn typischen Anfall von Übermut: »Wirklich? Nein, unmöglich!«

Das Gespräch war damit beendet. Dreißig Jahre zuvor hätte der Direktor zum Telefon gegriffen und uns alle ins Gefängnis schicken lassen. Jetzt, im Jahre 1980, ließen sie es einfach durchgehen, fassungslos über die Haltung meiner Eltern und offensichtlich resigniert. Blada Jula ließ mich von nun an in Ruhe. Wenn ihre schärfsten Anklagen nichts nützten, was dann? Befreundete Lehrer erzählten mir, daß die Schulverwaltung unserer Familie zółte papiery verpaßt hatte, buchstäblich eine gelbe Akte; dieselbe Farbe, unter der die Krankenhäuser der Vorkriegszeit Geisteskranke führten. Wenn die Eltern schon verrückt waren, war bei ihrem Nachwuchs sowieso Hopfen und Malz verloren. Als schließlich 1981 die letzte Maifeier meiner Schulzeit stattfand, befand sich Solidarność im Aufwind. Blada Jula wurde ganz still, und niemand traute sich mehr, andere zur Teilnahme an der Maiparade zu zwingen.

Im letzten Jahr vor dem Abitur, im Alter von siebzehn, war ich bereits ein eingefleischter Antikommunist. Am ersten September 1980 begann das neue Schuljahr mit dem üblichen langweiligen Zeremoniell: dieselben kommunistischen Sprüche an den Wänden, dieselben einschläfernden Ansprachen. Doch auf der Jungentoilette, die wir den Hades nannten, weil sie sich in einem düsteren Kellerraum befand, konnte man spüren, daß die Stimmung umgeschlagen war. Ein aufgeregtes Flüstern füllte den Raum.

»Wer ist eigentlich dieser Wałęsa?« fragten einige. »Und wozu braucht er so einen riesigen Füller?« Das Fernsehen hatte ihn am Vorabend bei der Unterzeichnung des Danziger Abkommens mit einem Füller in Form einer Zigarre gezeigt. Wir waren gerade aus dem Urlaub zurückgekommen. Jetzt tauschten wir Informationen aus, die wir aus offiziellen Medien, ausländischen Sendungen und durch Gerüchte aufgeschnappt hatten.

Draußen hatte sich sogar das Straßenbild komplett verändert. Normalerweise machten die Leute in den kommunistischen Ländern einen mißmutigen und unfreundlichen Eindruck. Müde, graue Massen schlichen an den Schaufenstern vorüber, in der Hoffnung, hier oder da doch ein Stück Fleisch oder eine Rolle Klopapier zu ergattern. Jeder betrachtete alle anderen als Konkurrenten um die knappe Ware, und die Menschen machten ihrer Frustration und Erbitterung mit kleinlichen Streitereien Luft.

Doch jetzt lächelten die Leute; durch die Schlangen vor den Läden ging ein endloses Geplapper. Schier Undenkbares geschah: Ich sah, wie ein Autofahrer vor einem Zebrastreifen bremste und einigen Fußgängern den Vortritt ließ, anstatt, wie üblich, hupend vorüberzupreschen. Eine solche Stimmung hatte ich bisher nur selten erlebt. Es war dasselbe wunderbare Gefühl von Zusammengehörigkeit, von authentischer Teilnahme an etwas, das größer war als wir selbst, das wir in der Vergangenheit erst zweimal empfunden hatten: einmal, als in aller Welt die Ernennung Karol Wojtyłas zum Papst verkündet wurde, und dann beim Papstbesuch im vergangenen Sommer.

Überall bot sich dasselbe Bild. Meine Eltern erzählten mir, daß die Arbeit fast zum Erliegen gekommen war. Alle sprachen nur noch über Politik. Mein Vater, der für seine unorthodoxen Ansichten bekannt war, gründete in seiner Baufirma eine Sektion von Solidarność und wurde später von seinen Kollegen zu ihrem Vorsitzenden gewählt. Meine Mutter fuhr nach Gdańsk zur Zentrale von Solidarność, um dort unzensierte Zeitungen für ihre Kollegen abzuholen. Schließlich bekamen wir Wałęsa auch leibhaftig zu sehen. Ein Bruder Wałęsas lebte in Bydgoszcz, und nun war er zu einem seiner ersten öffentlichen Auftritte außerhalb von Gdańsk in unsere Heimatstadt gekommen. Die Menschen drängelten sich in der größten Halle vor Ort, und auch draußen stand eine große Menge, um die Veranstaltung über Lautsprecher zu verfolgen.

Hinterher waren wir begeistert und beeindruckt. Kein Mensch hätte genau wiederholen können, was Wałęsa gesagt hatte – er sprach in abgehackten Sätzen und in einem proletarischen Jargon –, doch bei allem Gerede machte er einen authentischen Eindruck. Wir spürten einfach, was er meinte; er vertrat dieselben, durch Lügen und Zensur so lange unterdrückten Ansichten wie wir.

Im ganzen Land und auch in Bydgoszcz wurden in nahezu jedem Betrieb spontan Solidarność-Vertretungen gegründet, sogar bei der Volkspolizei. Innerhalb von Tagen entwickelte sich die Kreiszentrale von Solidarność (die am Ufer der Brda in einem Gebäude untergebracht war, wo auch meine Großmutter lebte) zu einer ernstzunehmenden Kraft in der Stadt. Die Organisation wurde in Bydgoszcz von zwei Männern geleitet, die sich durch ihre völlig unterschiedlichen Persönlichkeiten ergänzten. Antoni Tomarczuk, ein Neffe des patriotischen Bischofs, war ein stämmiger, zuverlässiger Mann, der im Schatten seines Kollegen Jan Rulewski stand. Rulewski, der als radikaler Aktivist galt, sollte später zu einem der landesweit bekanntesten Vertreter von Solidarność werden. Er war ein großer, gebieterischer Typ, dessen offener Widerstand gegen den Kommunismus bereits während seiner Rekrutenzeit angefangen hatte, als er sich weigerte, den Fahneneid zu leisten, da dieser das Versprechen enthielt, den Sozialismus und die Sowjetunion zu verteidigen. Die Behörden wollten ihm einen Denkzettel verpassen und gaben ihm, einem Ingenieur, eine unbedeutende Stelle bei Romet, dem größten Fahrradhersteller Polens und einem der größten Betriebe in Bydgoszcz. Dies erwies sich aber als folgenschwerer Fehler, denn in der Fabrik knüpfte Rulewski Kontakte zu den Arbeitern, die ihn zum Anführer ihrer Revolte bestimmten. Die sechzehn Monate währende legale Aktivität von Solidarność in den Jahren 1980 und 1981 ist nicht zu Unrecht als »Revolution der Selbstbeschränkung« bezeichnet worden – Wałęsa und seine Berater in Gdańsk mäßigten ihre Forderungen in der Hoffnung, zwischen der freien Gewerkschaft und der kommunistischen Regierung eine friedliche Koexi-stenz aushandeln zu können. Doch »unser« Rulewski wollte davon nichts wissen. Seine flammenden Reden strotzten vor patriotischer Rhetorik. In Interviews auf eine mögliche sowjetische Intervention angesprochen, wiegelte er ab: Die Sowjetunion sei bloß ein Papiertiger. Auf einer Versammlung erklärte er, daß er aus Protest notfalls barfuß nach Moskau pilgern würde. Daraufhin hat ihm der Bezirksvorsitzende der Kommunistischen Partei angeblich ein Paar Schuhe geschickt.

Natürlich liebten wir Schuljungen »unseren« Janek. Es war mein letztes Schuljahr, und eigentlich hätte ich fürs Abitur pauken sollen, aber es war viel spannender, die Zeit in der Solidarność-Zentrale zu verbringen. Mein damals schon gutes Englisch kam gut zupaß bei der Übersetzung von Zeitungsberichten für das lokale Solidarność-Blättchen, das den Titel Wolne Związki, »Freie Gewerkschaften«, trug.

Mit einigen Mitschülern – Wojtek, Stefan, Piotr, Krakus und anderen – gründete ich eine Untergrundorganisation, die wir in aller Bescheidenheit Związek Wyzolenia Narodowego, die Nationale Befreiungsfront, tauften. Selbst für eine Untergrundbewegung waren wir miserabel ausgestattet. Eine Druckerpresse, die ich im Keller meines Elternhauses selbst zusammengebastelt hatte, war anfangs unser einziges Kampfgerät. Sie bestand aus einem rechteckigen Holzrahmen, auf den eine spezielle durchlässige Plastikfolie gespannt wurde. Durch die Perforationen in der Folie ließ sich dann schwarze Farbe auf ein Blatt pressen. Wenn die schwarzbedruckten Blätter trocken waren, legten wir sie noch einmal unter den Rahmen, um sie in einem zweiten Druckvorgang mit roter Farbe zu bedrucken.

Wie jede anständige Untergrundbewegung verfügten auch wir über eine eigene Zeitung, die den nicht sehr originellen Namen Orzeł Biały (»Der Weiße Adler«) trug und aus zwei maschinengeschriebenen Seiten bestand. Wir ergingen uns über die Übel des Kommunismus, die Wahrheit über das Massaker an polnischen Offizieren bei Katyń und die schrecklichen Folgen der Sowjetherrschaft. Die erforderlichen Matrizen bekamen wir von der Solidarność-Zentrale, und ein befreundeter Drucker machte für uns mitten in der Nacht die Abzüge. Als die Plakate und Flugblätter fertig waren, kauften wir Eimer, breite Pinsel und Kleister und zogen nachts in die Stadt, um sie überall anzukleben. Diesmal kam uns der sozialistische Schlendrian sehr gelegen: Die Straßen waren dunkel, nur vom schwachen Licht einfacher Glühbirnen beleuchtet, von denen auch noch die Hälfte kaputt war. Einer von uns bestrich jeweils eine Wand, ein Schaufenster oder einen Briefkasten mit Kleister, der andere preßte das Plakat an und strich die Luftblasen weg. Dann wurde das Plakat völlig mit Kleister zugeschmiert, damit es kaum noch zu entfernen war. Wir führten unsere Aktion schnell und systematisch durch: In Zweierteams zogen wir entlang der Allee des 1. Mai, der Długastraße und der Dworcowa.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als wir beschlossen, den ultimativen Coup zu landen und die Wände der städtischen Parteizentrale mit Plakaten vollzukleistern. Es war ein beeindruckendes, hellerleuchtetes Gebäude, das an einem großen Kreisel lag. Durch eine Fußgängerunterführung konnte man sich jedoch unbemerkt bis auf einige Schritte an den Haupteingang heranpirschen. Zwei von uns standen Schmiere in der Unterführung, zwei weitere überwachten einen anderen Ausgang in einiger Entfernung. Mit klopfenden Herzen und zitternden Händen gingen Stefan und ich auf das Gebäude zu, um die Plakate zu befestigen. Der Putz war aber ziemlich uneben, und so dauerte die Arbeit länger als üblich. Ich versuchte, das Papier in die Vertiefungen zu drücken, es hielt jedoch erst, als wir einen halben Eimer Kleister drübergestrichen hatten. Dann rannten wir zurück zu unseren Kameraden, die uns erleichtert beglückwünschten.

Am nächsten Tag konnte ich es kaum abwarten, nach Schulschluß das Resultat in Augenschein zu nehmen. Die Aktion war ein durchschlagender Erfolg. An jeder Hauptstraße fielen sofort unsere Plakate ins Auge. Die Behörden mußten wohl den Eindruck bekommen, wir wären eine weitverzweigte und hochprofessionelle Organisation. Wir mischten uns unter Menschengrüppchen, die unsere Texte lasen, und spitzten die Ohren. Die meisten Kommentare waren wohlwollend, auch wenn ein paar Leute sich darüber beschwerten, daß wir frisch gestrichene Fassaden verunstaltet hatten – das hatten wir im Dunkeln tatsächlich übersehen. Eine ältere Dame bemerkte zu Stefans besonders radikalem Text über die Stationierung sowjetischer Truppen in Polen: »Die sind wenigstens noch bei Sinnen, die das geschrieben haben.«

»Wohl wahr.« Wir nickten zustimmend. »Auf jeden Fall.«

Eines Nachts brachen wir zu einer Graffiti-Aktion auf. Hinter der Garage meines Vaters suchten wir uns Sprühdosen mit einer silberglänzenden Rostschutzfarbe für Fahrgestelle aus, die nur schwer zu übermalen war. Wieder zogen wir mit verschiedenen Teams in die Stadt, und am nächsten Tag prangten unsere frechen Parolen an den Fassaden: Wolność dla konfederatów (ein Spruch, mit dem wir Freiheit für die inhaftierten Mitglieder des antikommunistischen Bündnisses für ein unabhängiges Polen forderten) und Polska dla Polaków (»Polen den Polen«). Dieser letztere Spruch mag etwas chauvinistisch klingen, aber das war nicht die Absicht. Wir meinten bloß, daß die Rote Armee ihre Sachen packen und es uns überlassen sollte, unsere eigenen Angelegenheiten zu regeln. Eines der Teams hielt sich jedoch nicht an die Anweisungen und sprühte eigenmächtig ein paar andere Parolen: Kraj Rad = Raj Krat (»Die Sowjetunion = Gitterstäbe«) und, wie furchtbar, Kraj Rad Polskę Zjad (»Die Sowjetunion hat sich Polen einverleibt«). Die Sprüche reimten sich zwar, aber der letztere nur dank eines absichtlichen Rechtschreibfehlers. Wir stritten uns fürchterlich mit den Mitgliedern des verantwortlichen Teams, weil sie die aufkeimende Untergrundbewegung in Verruf gebracht hatten. Die Polizei mühte sich tagelang, die Graffiti mit dicken Farbschichten zu übertünchen, doch da wir sie direkt auf die nackten Ziegelsteine gesprüht hatten, schienen die leuchtenden Schriftzüge immer wieder durch. Noch jahrelang, und noch während der Zeit des Kriegsrechts, konnte man die Slogans sehen, die ich an die Fassade meiner Schule geschrieben hatte. Sie verblaßten erst, als ihre einstige Zielscheibe, das kommunistische Regime, ebenfalls verblichen war.

In der Solidarność-Zentrale hatte ich die Möglichkeit, eine Schreibmaschine zu benutzen (wofür man, was heute unvorstellbar ist, eine Genehmigung von der Staatssicherheit gebraucht hätte), und dort schrieb ich meine erste Kurzgeschichte, die später in einer polnischen Emigrantenzeitung veröffentlicht wurde. Sie trug den Titel Stacz, »Der Ansteher«, und handelte von einem Rentner, der sich das Schlangestehen zum Beruf gemacht hatte. Er ließ sich von anderen Leuten dafür bezahlen, daß er für sie nach Lebensmitteln usw. anstand. Die Idee mag einem weit hergeholt vorkommen, doch in den achtziger Jahren wurden die Ansteher zu einer recht verbreiteten Erscheinung. (Auch in den neunziger Jahren traf man sie hin und wieder, nur standen sie mittlerweile nicht mehr nach Fleisch und Seife an, sondern um für ihre Auftraggeber Aktien von privatisierten Betrieben zu erwerben.) Aus Versehen postiert sich mein Ansteher eines Tages schon im Morgengrauen vor der Tür eines Geschäfts, das auf immer zugemacht hat. Der Fehler wird erst Stunden später bemerkt, als der Laden nicht zur gewohnten Zeit die Tür öffnet, und die Menschenmenge, die sich hinter ihm gesammelt hat, regt sich furchtbar über die verschwendete Zeit auf. Jemand sticht ihn mit einem Regenschirm in die Seite, und er wird bewußtlos im Krankenwagen abtransportiert. Im Krankenhaus angekommen, stellt er sich in eine lange Warteschlange vor der Anmeldung. Schließlich liegt er im Sterben auf einer Tragbahre und wundert sich, ob es überhaupt ein Krankenhaus am Ende der Schlange gibt oder ob die Schlange nur deshalb kürzer wird, weil nach und nach die Leichen weggetragen werden.

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