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Das Grundstück vor dem Haus war mit Müll übersät. Glasscherben knirschten unter meinen Schuhen, als ich mir zwischen rostenden landwirtschaftlichen Geräten, Faßdauben, einem Trog, einem Metalleimer ohne Boden, Drahtstücken, alten Reifen und Trümmern des alten Zauns einen Weg auf das Haus zu bahnte.

In diesem Moment schlüpften zwei kleine Köter durch ein Loch in der Balkontür hinaus und fingen wütend zu kläffen an. Eine aufgescheuchte Gänseschar floh gackernd in eine der Hütten am Zaun.

Durch den Lärm alarmiert, erschien eine Bäuerin mit einer Teigrolle in der Hand im Portal. Sie trug eine Schürze und war fast ebenso breit wie groß. Die grimmige Entschlossenheit in ihrem Gesicht wich einem verkniffenen Lächeln, als sie sah, warum die Hunde anschlugen und die Gänse verschreckt waren.

»Dzień dobry panie Sikorski«, grüßte sie meinen Vater, als wir näherkamen.

»Dzień dobry pani Erlichowa«, erwiderte er. »Dies ist mein Sohn.« Er sah mich an. »Er ist eben erst aus England zurückgekommen. Er wollte als erstes hierherfahren.«

Nachdem sie mich mit einem kurzen, strengen Blick von Kopf bis Fuß gemustert hatte, sagte sie: »Witamy młodego pana dziedzica.« Willkommen, junger Herr. Auf ihrem dicklichen Gesicht bildete sich ein breites, etwas übertriebenes Lächeln. War es der Ausdruck einer gewissen Unterwürfigkeit, oder machte sie sich über mich lustig? Es war schwer zu sagen.

Bei meinem ersten Besuch in Chobielin, am ersten Tag meiner Rückkehr nach Polen, war ich mir nicht sicher, wie ich auf korrekte Art und Weise Zutritt zu meinem eigenen Haus erbitten sollte. Es war vielleicht mein Haus, aber es war Frau Erlichs Heim.

»Darf ich?«

»Aber bitte.« Frau Erlich machte eine feierliche Geste, offenbar dankbar darüber, gefragt zu werden, und trat zur Seite.

Ich drückte eine schwere Messingklinke herunter, und die massive Holztür öffnete sich. Bevor meine Augen sich an das Dunkel in der Halle gewöhnt hatten, hörte ich über meinem Kopf Vogelgezwitscher. Unter der Decke befand sich an einem Haken, der einst einen Kronleuchter getragen hatte, ein Nest. Ein Lichtstrahl, der durch ein Fenster in die Halle drang, fiel genau auf eine Büchse mit brauner Farbe, die auf der Holztreppe abgestellt war. Der Pinsel, der noch darin steckte, war steinhart. Dichte schwarze Spinnweben verhüllten die kümmerlichen Überbleibsel eines Sicherungskastens. Stromkabel, deren Kupferenden mit grober Hand zusammengedreht waren, hingen frei von einem Brettchen herunter.

Die Bäuerin folgte mir ins Haus und nahm das Vorhängeschloß von einer Flügeltür, in die jemand die Nummer 7 eingeritzt hatte. Wir betraten das frühere Wohnzimmer. In der Mitte stand eine große Holzkiste mit faulem Obst. Ein aus der Wand gerissener Lichtschalter baumelte an den Drähten. In einer Ecke lag ein hüfthoher Trümmerhaufen. Kachelscherben deuteten die Stelle an, wo einmal ein Ofen gestanden hatte. Der Raum war stockfinster. Die Verandatür war zugemauert worden.

Die Bäuerin führte mich durch die übrigen Räume. Keine einzige Tür verfügte über die Originalklinken. Messing war durch Aluminium ersetzt worden, oder man hatte Löcher in die Türen gebohrt, um sie mit einfachem Draht zu verschließen. Überall dasselbe: zertrümmerte Öfen, herausgerissene Dielen, Spinnweben in den Ecken, abblätternde Farbe, Hühner.

»Sehen Sie doch, was die gemacht haben!« Sie zeigte aufgeregt auf ein großes Loch in der Decke des Eßzimmers. Ein wuchtiger, völlig verrotteter Balken schwebte bedrohlich über unseren Köpfen. Die Hausbesetzer, die oben gelebt hatten, seien daran schuld, meinte sie empört. Wasser drang durch die Ritzen und zerfraß das Gebälk. Ohne die Stützen im Eßzimmer wären das Dach und das ganze obere Stockwerk längst eingestürzt.

Die Außenmauern waren ebenfalls beschädigt. Ein Riß in einer der Seitenmauern, der an manchen Stellen armdick war, zog sich von der Dachspitze bis zur Mitte des Erdgeschosses. Die Linde neben dem Haus war aller Wahrscheinlichkeit nach der Übeltäter. Ihre Wurzeln waren unter die Fundamente gewachsen und hatten die Mauer angehoben. Die komplette Mauer müßte abgerissen und Stein für Stein wieder aufgebaut werden.

Sogar der Keller – ein Labyrinth aus kühlen Kammern mit gemauerten Wänden und gewölbten Decken – drohte zusammenzubrechen. Manche Schlußsteine hatten sich gelokkert. Entfernte man aber nur einen einzigen Stein, könnte die ganze Decke oder gar ein Teil des Hauses einstürzen. Und auch wenn sich die Gewölbe reparieren ließen, die Kellerräume waren tief und der Fluß sehr nahe. Nach dem Einbau einer Zentralheizung würden die Wände Wasser ziehen und könnte die Nässe zur Gefahr werden. Die Sicherung der Fundamente würde viel Zeit und Geld in Anspruch nehmen.

Das Grundstück machte einen nicht weniger jämmerlichen Eindruck. Vom Pförtnerhaus, einem hübschen kleinen Gebäude, in dem noch bis 1982 Leute gewohnt hatten, war nur noch das Gemäuer übrig. Alle Fenster- und Türrahmen waren herausgerissen worden. Ein rostiges Stahlseil war um die Dachbalken geknüpft – offenbar hatte jemand versucht, der Ruine den Rest zu geben.

Das Rauschen des Wassers wurde lauter, als ich mich dem Fluß näherte. Am gegenüberliegenden Ufer ragte ein Klinkerbau hoch – die alte Mühle. Als ich nähertrat, sah ich, wie ein Junge von einem Pfeiler kopfüber in den Wasserfall sprang. Kurze Zeit später tauchte er wieder auf und ließ sich stromabwärts in seichteres Wasser treiben. Die Mühle stand gerade noch; die Dachbalken im neugotischen Stil bogen sich schon deutlich durch. Wie ich später erfuhr, wurde sie von einer Karpfenzucht als Lagerhaus genutzt. An den Pfeilern im Fluß waren früher Turbinen befestigt. Ein paar riesige Eisenräder standen, mit einer Rostschicht und zahlreichen Spinnweben bedeckt, an die Mühle gelehnt, stumme Zeugen der nicht unbeachtlichen Erfindungsgabe früherer Zeiten.

Direkt gegenüber vom Eingangsportal, auf der anderen Seite der Straße, die uns zum Haus geführt hatte, wuchs ein Fichtenwäldchen an der Stelle des Friedhofs. Alte Mauerreste deuteten darauf hin, daß er in der Vergangenheit mehrmals erweitert worden sein mußte, um den aufeinanderfolgenden Generationen der Besitzer Chobielins Platz zu bieten. Vom Eisengeländer, das ihn einmal eingegrenzt hatte, war keine Spur mehr übrig. Außerdem hatten die frömmlerischen Bauern die Kapelle zerstört und die Gräber geplündert. Was blieb, waren Grundgerippe aus Granit und Vertiefungen im sandigen Boden. Die Grabsteine – die aus schwarzem Marmor gehauen waren, wie wir später erfuhren – waren zu Wiederverwendungszwecken abtransportiert worden. Man mochte gar nicht wissen, was mit den menschlichen Überresten geschehen war. War es überhaupt eine so gute Idee, sich in der Nähe von Grabschändern niederzulassen?

»Meine Güte, war es früher nicht schön hier?« Die Bäuerin seufzte, und ihre Augen wurden glasig, als sie an die alten Zeiten zurückdachte. »Hier standen einmal zwei Kastanien, eine auf dieser und eine auf der anderen Seite der Treppe.« Sie zeigte uns die beiden Kuhlen neben dem Portal. Im Schatten dieser Bäume fuhren einst die Kutschen auf einer gepflasterten Rampe vor. »Sie haben sie aber gefällt, weil sie Brennholz brauchten.« Das »sie«, womit die Hausbesetzer gemeint waren, sprach sie voller Verachtung aus. Im Garten, so erzählte sie, hatte es seltene Bäume gegeben, viel Rasen, Werkstätten, ein Kutschenhaus und auch ein großes Loch im Boden, das mit Granit ausgelegt war – der Eiskeller.

»Ich nehme an, Sie wollen es abreißen und die Steine anderweitig nutzen?« Ihr verschmitzter Blick verriet mir, daß es dies war, was sie eigentlich wissen wollte. »Wenn Sie das vorhaben sollten ... wir haben nichts dagegen.«

»Ich hatte eher vor, es wiederaufzubauen.«

Sie schien überrascht. »Das ist auch gut. Wenn Sie uns eine Ersatzwohnung geben, aber eine schöne gefälligst, in einem Hochhaus und nicht in irgendeiner Bruchbude, dann sind wir hier im Nu ausgezogen.« Die Fronten waren klar. Schon bald sollte ich die Entdeckung machen, daß das polnische Gesetz eine Zwangsräumung so gut wie ausschloß.

Frau Erlich war im Grunde nur vernünftig. Ein nüchtern denkender Mensch würde sagen, daß Chobielin ein hoffnungsloser Fall war, den man lieber heute als morgen dem Erdboden gleichmachen sollte, bevor noch irgendein Unglück geschah. Gab es überhaupt etwas zu retten? Jeder Immobilienmakler hätte das Unternehmen lächerlich gefunden. Es wäre einfacher, zeitsparender und billiger gewesen, ein ähnliches Gebäude im Neubau zu errichten.

Doch für mich war die Instandsetzung von Chobielin viel mehr als eine Investition in eine Immobilie. Manchmal kamen mir Zweifel, und ich betrachtete es als eine fixe Idee – als meine eigene Art und Weise, gegen Windmühlen zu kämpfen. Doch dann hoffte ich, daß es mein persönlicher Beitrag zum Wiederaufbau Polens sein würde und ein letztes Gefecht gegen die Kommunisten. So wie ich sie früher mit einem Teleobjektiv, einem Computer und ein oder zwei Garben aus einem Maschinengewehr bekriegt hatte, würde ich ihrem Erbe von nun an mit Ziegelsteinen, Mörtel und Hochglanzlack zu Leibe rücken. Ich wollte wenigstens ein kleines Fleckchen polnischen Bodens von dem Schmutz säubern, den die Kommunisten im buchstäblichen und übertragenen Sinne hinterlassen hatten. Hatte ich mich früher nicht zwingen lassen, ihre glorreiche Zukunft mitaufzubauen, so wollte ich nun ein Stückchen polnischer Vergangenheit erhalten. Meine größte Befriedigung wäre, so sagte ich mir, wenn in einigen Jahren meine Gäste nach Chobielin kämen, sich umsähen und glauben würden, der Kommunismus hätte diesen einsamen Ort durch eine seltsame Fügung verschont.

* Aus: Adam Mickiewicz, Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen, übersetzt von Walter Panitz, Berlin (O.), Aufbau Verlag, 1955.

KINDHEIT UNTER DEM KOMMUNISMUS


WEIL DER KOMMUNISMUS versuchte, die Vergangenheit abzuschaffen, entwickelte ich eine Leidenschaft für alte Gegenstände. Und gerade weil man mir beigebracht hatte, daß die Gutshäuser ein Relikt aus feudalistischen Zeiten darstellten, war ich so erpicht darauf, irgendwann selbst in einem dwór zu wohnen. Wie jede Art von Weltreligion verordnete der Kommunismus nicht nur eine neue Politik, eine neue Moral und eine neue Sprache, sondern auch eine neue Ästhetik, nicht zuletzt in der Architektur. Die Grundschule, die ich besuchte, war ein typischer Betonklotz aus den späten sechziger Jahren, nach einem Modellentwurf erbaut im Rahmen der Regierungskampagne »Eintausend Schulen für das Neue Polnische Jahrtausend«. Wir lebten damals in einem typischen kommunistischen Wohnkomplex, einem Le-Corbusier-Abklatsch in sozialistischer Bauweise. Um ehrlich zu sein, war unser Haus, das ebenfalls aus den Sechzigern stammte, bei weitem nicht so schlecht wie spätere Bauten: Es war ein Backsteingebäude, jede Wohnung verfügte über zwei Balkone, und zwischen den verschiedenen Blocks blieb genügend Raum für einen Kinderspielplatz. Das beruhte keineswegs auf Zufall. Meine Eltern hatten die Wohnung ergattern können, weil sie in einer Baugenossenschaft arbeiteten. Da die beteiligten Architekten auch Wohnungen für sich selbst bauten, umgingen sie die geltenden Regelungen, um den Blocks mehr Platz einzuräumen, und die Bauarbeiter gaben natürlich ihr Bestes. So triumphierte die menschliche Natur über den staatlich verordneten Altruismus.

Dank dieser Umstände stehen die Blocks immer noch, während zahllose andere in der ehemalig kommunistischen Welt von Tag zu Tag weiter zerfallen oder beim geringsten Anzeichen eines Erdbebens oder einer Gasexplosion in sich zusammenbrechen. Ja, man kann die jeweilige Lebendigkeit des kommunistischen Glaubens an den Gebäuden ablesen, die das Regime über die Jahre errichten ließ: Mussoliniähnlicher Heroismus in den glatten Fassaden der fünfziger Jahre, nüchterne Ziegelsteinbauten in den Sechzigern, schäbige Plattenbauten in den Siebzigern und rein gar nichts in den Achtzigern.

Ein Rebell wurde ich jedoch nicht einfach nur aufgrund der Häßlichkeit, die uns umgab, sondern wegen der kruden Methoden der Gehirnwäsche, die an uns ausprobiert wurden. Mein erstes politisches Erlebnis hatte ich im Alter von fünf Jahren; es war meine erste Maidemonstration. Eine riesige Menschenmasse hatte sich in der Hauptstraße unserer Stadt, der Allee des 1. Mai, gesammelt. Um alles besser sehen zu können, kletterte ich auf die Schultern meines Vaters und dann auf einen Baum. Unter mir sah ich ein Meer von lächelnden Zuschauern. Es war ein Festumzug; es machte Spaß. Orchester spielten Marschmusik, Lieder erschallten aus Lautsprechern, Festwagen fuhren vorbei, und überall gab es Blumen. Ich bekam ein paar Lutscher, Zuckerwatte und ein rotes Fähnchen zum Schwenken. Am Vormittag hatte ich im Fernsehen Bilder von der Maiparade in Moskau gesehen, komplett mit Panzern und Raketen, die über den Roten Platz rollten. Per Direktschaltung wurde auch über die jeweiligen Paraden in anderen befreundeten Ländern berichtet, und man erzählte uns, daß die Arbeiter im kapitalistischen Ausland zu eingeschüchtert seien, an Maikundgebungen teilzunehmen. Dazu wurden Bilder von der kapitalistischen Polizei gezeigt, die unter Einsatz von Tränengas Demonstrationen auflöste.

Die Politik fehlte auch in der Grundschule nicht. Die Indoktrination begann spätestens im Alter von sechs Jahren. Ein Schulbuch aus der damaligen Zeit lehrte uns die sozialistische Solidarität mit den Unterdrückten in der Dritten Welt. Im Rückblick mutet der darin abgedruckte Reim ziemlich rassistisch an:

In Afrika lebt ein Negerlein,

Ein Genosse mit schwarzer Haut.

Fleißig lernt er im Sonnenschein,

Die Lektion liest er deutlich und laut.

Doch wenn er aus der Schule kommt,

Denkt er nur ans Spielen und Tollen,

Da schimpft mit ihm die Mutter prompt,

Und Bambo fängt an zu schmollen.

Komm, sagt sie, dein Brei wird kalt,

Doch da ist Bambo schon längst im Wald.

Später spielte ich oft die kommunistische Version von Trivial Pursuit. Das Buch mit den Quizfragen steckte in einer glitzernden bunten Schachtel. Gefragt wurde bei dem Spiel nach den Kenntnissen, die man über die sozialistischen Bruderländer und ihre Produktionszahlen hatte. Eine der Aufgaben bestand darin, zu einem Land, zum Beispiel Rumänien, oder auch zu dessen Flagge das passende Staatsoberhaupt, in diesem Falle Nicolae Ceaușescu, zu finden. Bei anderen Fragen ging es darum, die Erfolge der sowjetischen Raumfahrt aufzuzählen oder das Volumen der polnischen Stahlproduktion zu erraten.

Mein Lieblingscomic war Die Abenteuer des Zickleins Matolek, die Geschichte von einem kleinen Ziegenbock, der auszog, die Stadt Pacanów zu suchen, im festen Glauben, dort Ziegenhufe erstehen zu können. Der klassische Kindercomic aus der Vorkriegszeit bildete später die Vorlage für einen Zeichentrickfilm. Matolek heißt buchstäblich »kleiner Trottel«, und das Zicklein mit dem naiven Gesicht und den kurzen Hosen ist gerade deshalb so liebenswürdig, weil es sich so tolpatschig anstellt. Erst viel später wurde mir bewußt, wie sehr die Geschichte von den Zensoren den neuen Zeiten angepaßt worden war. Nachdem sich Matolek während seiner abenteuerlichen Reise plötzlich auf dem Mond wiederfindet, fliegt er auf dem kometenartigen Schweif eines Sterns wieder zur Erde zurück. In der Vorkriegsfassung des Comics handelt es sich dabei um einen sechszackigen Stern – den herkömmlichen Weihnachtsstern. In der Fassung, die ich zu lesen bekam, hatte der Stern eine Zacke eingebüßt und glich nun dem Symbol der russischen Revolution.

Auf seinem Weg zurück zur Erde schaute der ursprüngliche Matolek hinunter auf das Zentrum von Warschau mit dem alten Königsschloß, dem Denkmal für König Sigismund III. und einer Kirchturmspitze. Meine neue Fassung zeigt von der Warschauer Skyline lediglich den nach Josef Stalin benannten Kulturpalast, einen gräßlichen Wolkenkratzer, den die Sowjets in den fünfziger Jahren gebaut haben. Wo die Polizisten der Vorkriegszeit in lange Regenmäntel gehüllt waren und Matolek mit dem Schlagstock drohten, weil er gegen die Verkehrsregeln verstieß, zeigten ihm jetzt freundliche Vopos den Weg. Auf seiner Fahrt durch die USA findet Matolek einen Goldschatz, den er der polnischen Botschaft mit der Bitte anvertraut, ihn »armen Kindern in Polen« zukommen zu lassen. In der neuen Fassung heißt es nicht mehr »polnische Botschaft«, sondern schlicht »die Botschaft«, während sich das klassizistische Gebäude der Vertretung in eine Kopie des Lenin-Mausoleums verwandelt. Matoleks Schenkung wird nicht mehr armen polnischen Kindern übergeben – der Sozialismus hat ja die Armut beseitigt –, sondern den »lieben« polnischen Kindern.*

Die Fernsehserie, die ich am meisten liebte, hieß Czterej Pancerni i Pies – »Vier Panzerkameraden und ein Hund«. Sie lief Sonntag morgens – damit, so vermuteten wir, die Eltern es nicht leicht hatten, ihre Kinder mit in die Messe zu zerren. Zusätzlich zur Serie gab es eine Quizsendung und eine wöchentliche Preisfrage, die sich um die Schlachten der polnischen Armee an der Front drehte. Unter den Einsendern der richtigen Antwort wurde als Hauptpreis jeweils ein echter Helm der Panzertruppen verlost, komplett mit Futter, Kopfhörer und einem Verbindungskabel, das man lässig herunterbaumeln lassen konnte. Ich weiß noch, wie ich vor Neid erblaßte, als ich eines Tages einen Jungen in meiner Nachbarschaft mit so einem Helm herumstolzieren sah. (Später erfuhr ich, daß sein Vater Oberst war und den Helm wahrscheinlich aus Armeerestbeständen »organisiert« hatte.)

Die Geschichte der Panzergrenadiere begann mit Janek, dem Jüngsten des Quartetts, der im Jahre 1943 in Sibirien lebte. Weil er oft auf Bärenjagd ging, war er ein Superschütze. Eines Tages las er in seiner entlegenen Hütte eine Zeitung: In der Sowjetunion wurde ein polnisches Heer gebildet. Ohne zu zögern, meldet er sich als Freiwilliger, und nach vielen Abenteuern nimmt er zusammen mit seinen sympathischen sowjetischen Kameraden an der Befreiung Polens teil. Erst viele Jahre später, als ich schon in London war und die Bücher polnischer Emigranten las, fragte ich mich, was Janek überhaupt nach Sibirien verschlagen hatte. Die Fernsehserie verschwieg, daß Janeks Familie, zusammen mit etwa einer Million anderer Polen, nach Osten deportiert wurde, als 1939 die Sowjetarmee und die Wehrmacht Polen besetzten und unter sich aufteilten.

In den Polnischstunden lasen wir Kurzgeschichten und schrieben Aufsätze über Lenin: Lenin als Musterschüler, Lenin der Revolutionsführer, Lenin während seiner Verbannung nach Ostsibirien, von wo er Briefe an die Mutter schrieb und ein Tintenfäßchen aus Brot verwendete. Bis in ein gewisses Alter hinein muß die Indoktrination offensichtlich funktioniert haben, denn mit elf Jahren schrieb ich folgende Zeilen zum Thema »Beschreibe Lenin«:

Wladimir Iljitsch wurde 1870 geboren und stammte aus proletarischen Verhältnissen. Nach dem Abitur studierte er an der Kaiserlichen Universität von Kasan. Von 1917 bis 1918 leitete er die Große Oktoberrevolution. Lenin war eine zurückhaltende, bescheidene Person. Oft lief er nachdenklich herum. Er ist Autor vieler Bücher über Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen. Er war ein begnadeter Anführer der Revolution. Schon als Jugendlicher war er ein Patriot. Er haßte den Zaren. Er hatte immer ein Herz für die Schwachen und Leidenden. Er war sehr väterlich. Er war ein edler und guter Mensch, und deshalb wurde er von den Handlangern des Zaren umgebracht.

Lenin spielte auch eine Rolle im obligatorischen Russischunterricht. Das Schulbuch brachte uns dieses Gedicht nahe:

Wenn die Sonne aufgeht

und ins Klassenzimmer schaut,

erstrahlt hell

ein Porträt an der Wand.

Wie zum Gruß

für einen schönen Tag

schaut mich Iljitsch

wie leibhaftig an.

Majakowskijs revolutionäre Gedichte lernte ich auswendig. Ich weiß noch, wie ich einmal vor der ganzen Klasse eins aufsagen mußte: »Das Individuum ist nichts, das Individuum ist nichtig. Die Partei ist alles«, so oder ähnlich lautete der Text. Es hing einiges davon ab, es besonders gut vorzutragen, denn so konnte ich gerade noch meine Note für das bevorstehende Zeugnis verbessern. Aus demselben Grund sang ich brav die Internationale im Gesangsunterricht.

Mit zwölf Jahren war ich immer noch formbar. Ja, mein altes Schulheft aus jener Zeit läßt tief blicken, was meinen damaligen Opportunismus anbelangt. Für den 30. April 1975 mußte zum Beispiel eine Hausaufgabe zum Thema »Der 1. Mai in K.I. Gałczynskis Gedicht ›Ein Marsch durch die Straßen der Welt‹ « geschrieben werden. Wir Schüler sollten anhand von Versen aus dem Gedicht die jeweiligen Maifeierlichkeiten in den sozialistischen bzw. kapitalistischen Ländern miteinander vergleichen. Ich erfüllte die Aufgabe vorbildlich:

IN SOZIALISTISCHEN LÄNDERN

Golden strahlt das Rot im Licht der Sonne;

Fahnen flattern auf den Straßen und auf Brücken;

die Parade schreitet voran und mit ihr – der Frühling.

Die Parade ist glanzvoll und feierlich;

Genossen aus allen Berufen sind gekommen;

alle feiern sie den großen Tag.

IN KAPITALISTISCHEN LÄNDERN

So jedoch schreitet die Welt einem neuen Zeitalter entgegen. Jahr für Jahr wächst die Bewegung. Wie an einem Lagerfeuer wärmen sich die Unterdrückten die Hände an der roten Fahne.

In den kapitalistischen Ländern sind die Feiern verboten. Demonstrationen werden von Polizei und Armee aufgelöst. Am 1. Mai kämpfen wir für Gleichheit und Brüderlichkeit.

In den Schulpausen beteiligten wir uns an »Friedenskampagnen«. Man konnte spezielle Auszeichnungen und bessere Noten bekommen, wenn man mithalf, Plakate für das Schwarze Brett der Schule zu machen. Darauf waren dann Vietnamesen mit großen Strohhüten zu sehen, auf die amerikanische Bomben herabregneten, oder vielleicht auch nur amerikanische Bomben: dicke, bedrohliche schwarze Dinger, die mit einem großen roten X durchgestrichen und einem »Nein!« überschrieben waren. Andere Plakate zeigten Kinder aus friedlichen sozialistischen Ländern Hand in Hand oder beim Gruppentanz, über ihren Köpfen eine weiße Taube.

Die jährlichen Schulwahlen waren ein weiteres wichtiges Ereignis. Die Mitglieder des Klassenrats, unser »Schülerselbstverwaltungskomitee«, wurden durch angeblich freie Wahlen bestimmt. Die Schulwahlen, so erzählte man uns, wären nur ein kleines Beispiel für die Funktionsweise der sozialistischen Demokratie – was auch tatsächlich zutraf. Es gab keine Wahlwerbung, keine Wahlreden, keine Versprechungen (nicht einmal leere), sich zum Beispiel um das miese Essen in der Schule zu kümmern, und auch kein Gremium, das für die Aufstellung der Kandidaten zuständig gewesen wäre. Irgendwie prangte an der Spitze der Wahlliste immer der Name Jacek W., der wohl unbeliebteste Junge der ganzen Schule. Jacek W. war ein typischer Streber, der für gewöhnlich mit einer roten Krawatte angab und bei Versammlungen das Wort ergriff, um linientreue Sprüche nachzuplappern. Wir mochten ihn alle nicht; niemand hat jemals zu erkennen gegeben, daß er für ihn gestimmt hätte, und doch gewann dieser Jacek immer wieder. Es war wie ein Ritual, das wir über uns ergehen ließen, so wie auch die Parlamentswahlen für unsere Eltern eine rituelle Veranstaltung mit vorab bekanntem Ausgang waren.

Trotz der unübersehbaren Heuchelei wurden alle patriotischen Veranstaltungen – Wahlen, Versammlungen, Paraden – mit dem Ernst einer religiösen Zeremonie begangen; und nach jedem solchen Ereignis mußte irgendein armer Teufel nachsitzen und das Ganze in unserer Schulchronik festhalten. Die Chronik meiner Grundschule (ich konnte mir die dicken Kunstlederbände vor kurzem einmal anschauen) fängt mit Zeitungsausschnitten an, die über die Schuleröffnung im September 1967 berichten. Das Band wurde feierlich zerschnitten vom Genossen W. Soporowski, dem ersten Sekretär des Stadtkomitees von Bydgoszcz, und dem Genossen T. Filipowicz, dem Direktor der Propagandaabteilung des Provinzkomitees der Kommunistischen Partei. Kaum einen Monat später, als die Straßenarbeiten vor dem Gebäude noch nicht einmal abgeschlossen waren, feierte die Schule schon den fünfzigsten Jahrestag der Oktoberrevolution. Unter einem roten Stern, einem Porträt von Lenin und einer Zeichnung von zwei Gewehren hatte jemand einen Text eingetragen, der so unbeholfen ist, daß man dem Verfasser wohl Absicht unterstellen muß.

Vor fünfzig Jahren triumphierte die Große Oktoberrevolution. Ihr Sieg brachte vielen Ländern die Freiheit. Leider wollte die reaktionäre Regierung Polens nicht zulassen, daß auch unser Vaterland befreit würde. Erst nach den schlimmen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurde unser Vaterland von der Sowjetunion aus der Niederlage und Armut gerettet. Seit dreiundzwanzig Jahren sind wir frei; wir atmen die Luft der Freiheit, und dies verdanken wir unseren Freunden aus dem Osten.

Wie die Kirche hatte auch die Kommunistische Partei ihren offiziellen Kalender mit Höhepunkten wie dem Jahrestag der Revolution, dem Tag der Polnischen Volksarmee, dem 1. Mai, dem Tag des Sieges, dem Internationalen Frauentag, dem Tag der Miliz und der Staatssicherheit usw. Zudem wurden in der Schule – angeblich auf freiwilliger Basis – besondere Festveranstaltungen organisiert. So feierten wir zum Beispiel das vierzigjährige Jubiläum der Gesellschaft für Polnisch-Sowjetische Freundschaft (die Chronik verzeichnet unter den Anwesenden keinen Geringeren als den Direktor vom Sowjetischen Haus der Kultur in Gdańsk), das Lenin-Jahr, fünfzig Jahre Sowjetunion, vierzig Jahre Internationale Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und, aus welchem Grund auch immer, den zweiundzwanzigsten Jahrestag der Gründung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Jedes dieser Ereignisse gipfelte in einer großen Versammlung. Wir organisierten auch ein Festival für russische Lieder, und unsere Pioniere erhielten ein Fähnchen vom Veteranenverband. Wir sandten Grüße an den Genossen Wojciech Jaruzelski, der damals erst ein bescheidener Verteidigungsminister war, um ihm zu seiner Beförderung zum Drei-Sterne-General zu gratulieren. »Der 25. Kongreß der KPdSU hat auf unsere Schule einen großen Eindruck gemacht«, vermeldet die Chronik. »Jede Klasse hat Schaukästen geschmückt, und die Selbstverwaltung der Schule hat der sowjetischen Botschaft ein Telegramm geschickt. Junge Pioniere haben vor dem Denkmal für die heroische Sowjetarmee Blumen niedergelegt und eine Ehrenwache gehalten.« Für eine andere Versammlung fertigten wir ein großes Transparent an, das an die Wand der Sporthalle gehängt wurde: »Das Parteiprogramm ist unser Programm.«

Einmal schickten wir den Kindern in Vietnam 1379 Schulhefte. Der Begleitbrief lautete:

Liebe vietnamesische Brüder,

wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz ... wünschen Euch den Sieg über die amerikanischen Aggressoren, die Euer Land und Euer Volk zerstören. Euer Kampf ist unser Kampf, und deshalb wird er zum Sieg führen ... Wir möchten, daß die Sonne der Freiheit über Eurem Land aufgeht und Eure Gesichter strahlen vor Glück. Wir wünschen allen Kindern der Erde ein so friedliches und glückliches Leben, wie wir es in Polen haben.

Aus einem anderen Anlaß verabschiedeten wir eine spontane Resolution.

Wir, die Kinder von Grundschule Nr. 20 in Bydgoszcz, erheben gemeinsam unsere Stimmen gegen die Neutronenbombe. Wir wollen lernen und arbeiten und unserem Land dienen. Wir wissen, daß wir ohne Frieden nichts erreichen können. Aus diesem Grund widersetzen wir uns jenen Kräften, die die Sicherheit und Zusammenarbeit zwischen den Nationen der Welt sabotieren wollen ...

Im Alter von zehn Jahren, als ich – laut Schulchronik – diese Resolution mit Beifall beklatscht haben soll, hatte ich überhaupt keine Ahnung, was eine Neutronenbombe ist.

Die weitaus größte Veranstaltung – und die weitaus größte Lüge – meiner Schulzeit fand jedoch 1974 statt, als wir das dreißigjährige Jubiläum der Miliz und der Staatssicherheit begingen. Da der Gatte unserer Direktorin ein hohes Tier bei der Staatssicherheit war, wurde der Tag der Miliz jedes Jahr ausgiebig gefeiert, wobei die jährlichen Berichte in der Schulchronik mit unfreiwillig komischen Zeichnungen von zähnefletschenden und bluttriefenden Schäferhunden gespickt waren. Diesmal sollte der Schule eine große Ehre erwiesen werden: Sie wurde nach dem heldenhaften Genossen Zdzisław Wizor benannt, einem engagierten jungen Leutnant der Staatssicherheit aus unserer Region, der 1946 im Kampf gegen eine konterrevolutionäre Bande – d.h. eine antikommunistische Widerstandsgruppe – ums Leben gekommen war. In der Schule lasen wir Zeitungsartikel über ihn, zum Beispiel diesen aus dem lokalen Parteiorgan, der Gazeta Pomorska:

Das Gedenken am dreißigsten Jahrestag der Gründung der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes gilt Menschen, die sich mit hohem Einsatz dem Aufbau unseres Vaterlandes gewidmet haben. In den ersten Jahren nach dem Krieg, in einer Zeit, da die Fundamente der polnischen Volksdemokratie gelegt wurden, griffen Offiziere der Volksmiliz und des Staatssicherheitsdienstes zu den Waffen, um ihre sozialistischen Ideale zu verteidigen. Viele von ihnen opferten ihr Leben im Kampf gegen reaktionäre Banden. Heute ist das Andenken an sie erfüllt von der Achtung des ganzen Volkes.

In der Polnischstunde schrieben wir Geschichten über den Helden und beschrieben die Vorbereitungen für den denkwürdigen Tag: »Die Poesiegruppe und der Chor arbeiten an einer künstlerischen Veranstaltung mit Worten und Musik«, heißt es in einem meiner Schulhefte. »Alle Schüler studieren ihre Rollen ein. Das Schulgebäude wird herausgeputzt. Die Außenmauern und die Wände wurden neu gestrichen, die Klassenzimmer werden geschmückt. Eine Auswahl aus Schülerzeichnungen über die Volksmiliz ist im Saal im ersten Stock zu besichtigen. Eine Gedenktafel zu Ehren unseres Helden wurde in der Halle aufgehängt.« Die Schülerzeichnungen entstanden im Rahmen eines Wettbewerbs zum Thema »Dreißig Jahre Volksmiliz aus der Sicht eines Kindes«. Die zehn besten Zeichnungen sollten im Warschauer Innenministerium ausgestellt werden.

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9783863935016
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