Читать книгу: «Geld, Krieg und Macht», страница 3

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Die Forschungssituation zu den Unruhen in Solothurn fällt im Vergleich zu Bern und Luzern deutlich knapper aus.102 Als Erster wandte sich Adolf Lechner 1909 dem Gegenstand ausführlicher zu. Doch wie es der Titel der Arbeit, Solothurnische Nachklänge zum Dijonervertrag von 1513, andeutet, finden die Ereignisse des Sommers 1513 in der Darstellung Lechners nur am Rand Erwähnung.103 Die Arbeit behandelt vielmehr «die eigenmächtigen diplomatischen Betätigungen und militärische Aktionen Einzelner» nach der militärischen Unternehmung der Eidgenossen in Dijon im Kontext von Parteienstreit, Solddienst und französischer Diplomatie, welche Solothurn noch einige Jahre über den Aufstand hinaus in Atem hielten.104 Detailliert beleuchtet dagegen die Studie von Bruno Amiet die Ereignisse in Solothurn in den Jahren 1513.105 In komprimierter Form finden sich seine Ergebnisse in dem 1952 ebenfalls von ihm erarbeiteten ersten Band zur solothurnischen Geschichte.106 Die Bilanz der solothurnischen Kantonsgeschichte in Bezug auf die Wirkung der Unruhen fällt dabei ähnlich nüchtern aus wie für Bern und Luzern: «Wie festgefügt und wie selbstverständlich sonst die rechtliche und politische Ordnung der Stadt in den Augen der Bürger war, zeigt der Umstand, dass unter den Bauernforderungen keine einzige irgend einen Anteil des Landvolks am Regiment, etwa Ratssitze für Bauernvertreter, verlangt hätte.»107 Und das, «obwohl die solothurnischen Knechte, die so oft mit den Bauern der Urschweiz auf den vielen Kriegszügen zusammentrafen, die Einrichtung der Landsgemeinden und das politische Mitspracherecht der dortigen Landleute wohl kennen mussten.»108

Erheblich mehr Raum als in der Solothurner Geschichtsschreibung nehmen die Unruhen in der Kantonsgeschichtsschreibung von Zürich ein. Auch hier beginnt die Aufarbeitung der Ereignisse im 16. Jahrhundert. Mit Johannes Stumpf, 109 Heinrich Bullinger110 und Hans Füssli111 widmeten sich drei Zürcher Chronisten dem sogenannten Lebkuchenkrieg. Alle drei Darstellungen fokussieren nebst der Ereignisgeschichte insbesondere auf das umstrittene Verhalten der angeklagten Zürcher (Bestechungen etc.). Auffallend dabei ist, dass in keinem der drei Werke der Einigungsvertrag zwischen Obrigkeit und Aufständischen (Mailänderbrief) diskutiert wird.112 1910 diagnostizierte Karl Dändliker in seiner Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich «ein soziales oder wirtschaftliches Missbehagen»113 und kontextualisierte die Unruhen vor dem Hintergrund der Zürcher Verfassungsgeschichte. Seiner Einschätzung zufolge hatte die ökonomische Belastung der Untertanen seit dem Waldmannhandel «keine Erleichterung erhalten; die wirtschaftliche Gebundenheit und Zurücksetzung, sowie der allgemeine Notstand drückten nach wie vor.»114 Aus dem «Gefühl der Verbitterung über die Ungerechtigkeit, die darin lag, dass man die ‹Reiser›, die frei nach Sold und Beute jagten, bestrafte, ja schwer traf, während man den vornehmen Herren ruhig und ungehindert reiche Pensionen vom Auslande her zufliessen liess», 115 resultierte der Mailänderbrief, eine «der wichtigsten Verfassungsurkunden unserer älteren Kantonsgeschichte.»116 Anton Largiadèr betonte zehn Jahre später in seiner Arbeit über die zürcherische Landeshoheit, dass 1515 im Unterschied zu den Untertanenprotesten in der Reformationszeit ausschliesslich politische Fragen verhandelt worden und wirtschaftliche Beschwerden ganz in den Hintergrund getreten seien.117 In dieser Frage herrscht in der Zürcher Historiografie seither weitgehend Konsens. Dass sich der Konflikt in Zürich 1515 im Unterschied zum Waldmannhandel 1489 – aber auch im Gegensatz zu den Unruhen in Bern, Luzern und Solothurn von 1513 – auf politische Inhalte (Pensionenwesen, Schuldfrage an der Niederlage in Marignano) beschränkte, lässt sich gemäss der Arbeit von Christian Dietrich damit erklären, «dass eine grundlegende Klärung der Stadt-Land-Beziehung auf der Basis der Anerkennung der gegenseitigen Rechtsansprüche schon 1489, bestätigt im ‹anbringen› von 1513, erfolgt war.»118 Heinzpeter Stucki, welcher den Lebkuchenkrieg für die 1996 erschienene Geschichte des Kantons Zürich bearbeitete, interpretiert den Mailänderbrief deshalb als eine Ergänzung zu den Waldmannschen Spruchbriefen.119 Die politische Erschütterung habe schliesslich, so bilanzieren Dietrich wie auch Stucki, einen Wandel in der zürcherischen Regierungspraxis bewirkt. Um einen Konsens in wichtigen Fragen bemüht, griff die Zürcher Obrigkeit nun vermehrt auf das Instrument der Ämteranfragen zurück.120 Obwohl in Zürich die Kompetenz des Rats in der Aussenpolitik nicht zur Debatte stand, bedeutete der Lebkuchenkrieg für die zürcherischen Aussenbeziehungen einen Richtungswechsel. «Durch ihn ward», resümiert Guido Stucki, «der in der Limmatstadt wie anderswo recht rührigen Franzosenpartei das Rückgrat gebrochen, was sich an einer fortan noch konsequenter gehandhabten anti-französischen bzw. kaiserlichen und päpstlichen Politik manifestierte.»121

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Die ältere Militär- und Kriegsgeschichte bekundete ein reges Interesse an den Pensionenunruhen. Bereits die Dissertation von Wilhelm Gisi aus dem Jahr 1866 interpretiert die Unruhen als Folge des diplomatischen und militärischen Engagements der Orte in den Mailänderkriegen.122 Ganz in dieser Tradition beurteilte Ernst Gagliardi in seiner wichtigen Arbeit Novara und Dijon. Höhepunkt und Verfall der schweizerischen Grossmacht im 16. Jahrhundert alle Forderungen der bernischen Aufständischen, die nicht im Zusammenhang mit dem Sold- und Pensionenwesen standen, als sekundär für den Ausbruch der Unruhen.123 Erst über die Zeit, so Gagliardi, habe «die Bewegung auch den sozialen Charakter erhalten, den ein Bauernaufstand in dieser Zeit unvermeidlich gewinnt», und «mit allem Nachgeben und schnellen Eingehen auf die ursprünglichen Ziele der Empörung konnte Bern es nicht verhindern, dass auch die übrigen Wünsche in so günstiger Stunde bei seinen Untertanen sich regten».124

Eine Brücke zwischen Militär-, Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte schlug Emil Dürr, indem er auf das latente Spannungsfeld zwischen aussenpolitischer Macht und innerer Verfasstheit des eidgenössischen Bündnisgeflechts zu Beginn des 16. Jahrhunderts hinwies. «Aussenpolitisch stand die Eidgenossenschaft auf der Ho(e)he ihrer Macht und ihres Ruhmes. Aber zur selben Zeit klafften in ihrem sozialen und staatlichen Gefu(e)ge so tiefe und so bedenkliche Risse auf, dass diese jene Grossmachtstellung von innen heraus problematisch gestalteten.»125 Dabei sah er einen eigentlichen «Demokratismus» am Werk, welcher sich mit einem politischen und wirtschaftlichen Konservatismus verbunden habe. So habe man «im Grunde die Ru(e)ckkehr zu a(e)lteren, u(e)berwundenen, als besser empfundenen Rechtsverha(e)ltnissen» angestrebt, wobei die Bauern und Landstädter die Kraft zum Aufstand und zum Widerstand «nicht zuletzt im Bewusstsein gescho(e)pft haben, dass es ja vor allem ihre Arme gewesen, welche die grossen Waffentaten und die politischen Erfolge der allerletzten Jahre erstritten hatten.»126

Das in sämtlichen militärgeschichtlichen Darstellungen greifbare Unbehagen gegenüber dem Sold- und Pensionenwesen illustriert etwa die breit angelegte Untersuchung Emil Usteris zu Marignano aus dem Jahr 1974.127 Obwohl die Zürcher Prozesse im Nachgang des Lebkuchenkriegs gemäss Usteri einige Blicke hinter die Kulissen der Vorgänge während der Friedensverhandlungen in Gallarate erlauben würden, seien «gewisse Hemmungen zu überwinden». Gleichwohl müsse, so Usteri weiter, «auch diese dunkle Seite im Schweizer Geschichtsbuch aufgeschlagen und unparteiisch studiert werden.»128 Die Wirkung dieses Appells war innerhalb der militärhistorischen Zunft indessen beschränkt. In der neusten Überblicksdarstellung zu den Solddiensten kommen die Pensionenunruhen nicht zur Sprache.129

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Deutlich weniger Berührungsängste mit dem Gegenstand kennt die neuere Kultur- und Sozialgeschichte. Die Habilitationsschrift Valentin Groebners mit dem Titel Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit aus dem Jahr 2000 bedeutete einen eigentlichen Paradigmenwechsel. Groebner beurteilt die Aufstände im Unterschied zum bisherigen Deutungsangebot nicht mehr als Ausdruck einer durch das Pensionenwesen verursachten Krise, sondern interpretiert sie als Folge einer Verfestigung und Arrondierung der politischen Strukturen durch das Pensionenwesen.130 In Anlehnung an Groebner wies Claudius Sieber-Lehmann auf den Umstand hin, dass sowohl bei den Pensionenunruhen als auch beim Waldmannhandel nicht die grundlegenden Parameter des Systems beziehungsweise die Verfassungsformen (Kommunalismus, Republikanismus, Demokratie) zur Debatte standen, sondern vielmehr Handlungsweisen gedeutet wurden. «‹Interesse› im doppelten Sinne stand dabei im Vordergrund: Als Teilnahme am Spiel, aber – im Sinne des lateinischen interesse – auch als Profit.»131 Diese kultur- und sozialgeschichtliche Perspektive rückt die Bedeutung eines um materielle Ressourcen geführten Verteilungskampfes innerhalb eines immer stärker zugunsten der Obrigkeit strukturierten Sold- und Pensionenmarktes ins Zentrum. Sieber-Lehmann spricht deshalb von einem Spielfeld, im Sinn Bourdieus, mit ihm eigenen Verhandlungsregeln.132 Auch die neuste Untersuchung zum Könizer Aufstand von Hans Braun zielt nicht auf die Verfassungsformen ab, sondern nimmt die beteiligten Akteure und deren Handlungsweisen in den Blick.133 Aus dem bernischen Material geht dabei deutlich hervor, dass die Angeklagten zunächst auf die Nachsicht der Obrigkeit vertrauten und glaubten, «man werde wie früher durch die Finger sehen.»134 Diese stillschweigende Übereinkunft zwischen den Reisläufern, Werbern und Pensionenverteilern auf der einen Seite und Teilen der politischen Elite auf der anderen Seite fand mit den Aufständen allerdings ein abruptes Ende. Die im Verlauf der Unruhen wegen ihrer Pensionenbezüge massiv unter Druck geratenen Ratsherren inszenierten sich mit Blick auf die anstehenden Prozesse «als Opfer der arglistigen Täuschungsmanöver der französischen Gesandten», was zur Folge hatte, dass sie sich gegenseitig die Verantwortung zuschoben.135 Simon Teuscher erkannte 1998 in seiner Dissertation über die Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 das heuristische Potenzial der Ereignisse im Umfeld des Könizer Aufstandes und machte das überlieferte Material erstmals für die historische Klientelismusforschung fruchtbar.136 Teuschers Zugang leitet über zu einigen methodischen Überlegungen und den der Untersuchung zugrunde liegenden Quellen.

4 Quellen und Methode: Netzwerkanalyse

Geheime Pensionentransfers, politische Absprachen und die engen Beziehungen der politisch-militärischen Eliten mit auswärtigen Mächten wurden während der Pensionenunruhen zum Politikum. Die Frage, welche die Aufständischen umtrieb, war: Welche Ratsherren hatten Pensionen empfangen und wie viel? Die gewaltsam initiierten Prozesse sollten in diesen Fragen Klarheit schaffen. Während der gerichtlichen Untersuchungen zwischen 1513 und 1516 wurde der Ressoucentausch zwischen den fremden Mächten und den einheimischen Eliten rekonstruiert und in unterschiedlichen Formen und Medien schriftlich dokumentiert. In den Staatsarchiven Bern, Luzern, Solothurn und Zürich haben sich grosse Mengen an Gerichtsakten erhalten. Einen wichtigen Bestandteil des überlieferten Materials bilden dabei die Zeugenaussagen. Bei diesen Verhören handelt es sich meistens um formlose, teilweise undatierte Niederschriften von ganz unterschiedlicher Länge. Förmliche Reinschriften der Zeugenverhöre sind dabei ebenso vorhanden wie Simultanmitschriften. Trotz der günstigen Überlieferungssituation sind solche Gerichtsakten aus quellenkritischen Gründen schwierig zu deuten.137 Angesichts der misslichen Lage, in der sich die befragten Ratsherren befanden, muss davon ausgegangen werden, dass sie in der Hoffnung auf ein mildes Urteil strategisch argumentiert und deshalb die Vorgänge teilweise verzerrt oder falsch wiedergegeben haben. Ganz besonders gilt dies für die unter Folter oder Folterandrohung zustande gekommenen Aussagen. Selbst die von den Obrigkeiten initiierten umfangreichen Befragungen von Personen im Rahmen von Kundschaften, die selbst keine Strafe zu befürchten hatten, sind nicht minder problematisch. Denn gerade in denjenigen Fällen, in welchen sich viele Zeugen zum selben Sachverhalt äusserten, kommt die Widersprüchlichkeit der einzelnen Aussagen bisweilen besonders deutlich zum Ausdruck.138 Ein behutsames Vorgehen ist im Umgang mit Zeugenaussagen deshalb angebracht, damit die «Königin der Beweise» sich nicht als «Mutter grosser und zahlreicher Lügen» erweist.139 Dies gilt besonders für Zürich, wo 1515 die üblichen Verfahrensprozeduren unter dem politischen Druck der Untertanen zeitweise vollständig ausgesetzt wurden.140 Ausserdem schmälert die von den Aufständischen durch Gewalt zum Ausdruck gebrachte Erwartung an die Obrigkeit, Schuldsprüche zu produzieren, die Aussagekraft des Quellenmaterials zusätzlich. Das Problem der Zeugenaussagen wird allerdings partiell abgeschwächt, weil die Angaben aus den überlieferten Protokollen durch die Beiziehung weiterer Quellen (Chroniken, Urkunden, Urfehden, Missiven, Briefe, Ratsmanuale, 141 Pensionenlisten aus den fürstlichen Kanzleien, Eidgenössische Abschiede) teilweise überprüft werden können. Die Verschränkung unterschiedlichster Quellengattungen vermag die Problematik damit etwas zu entschärfen. Ausserdem ist die Ausgangslage insofern günstig, als vergleichbare Protestbewegungen aus einem vergleichsweise kurzen Zeitraum in einem vierfachen Zugriff untersucht werden können. Dies verspricht Einblick in generalisierbare Handlungs- und Beziehungsmuster sowie Konfliktsituationen. Einen aussichtsreichen Weg, wie man solche Praktiken eidgenössischer Pensionäre auf der Basis dieses disparaten Quellenmaterials systematisch-vergleichend untersuchen und beschreiben kann, zeigte Ulrich Pfister in einem wegweisenden Aufsatz von 1992 auf. Er stellte damals fest, dass das frühneuzeitliche Kriegswesen aufgrund der komplexen Organisationsleistungen, welche die Kapazität eines einzelnen überstiegen, und der Verbindung zur zwischenstaatlichen Politik von der Rekrutierung bis zur Kapitulation von Heereskörpern von klientelistischen Elementen durchsetzt war.142 Pfister qualifizierte den Solddienst als Quelle politischer Patronage ersten Ranges.143

Die Thematik Patronage und Klientel beschäftigt die Geschichtswissenschaft seit nunmehr über dreissig Jahren. In der Tat sind die einschlägigen Publikationen der Althistoriker, Mediävisten, Frühneuzeitler und Zeithistoriker kaum mehr zu überblicken.144 Gleiches lässt sich mit Blick auf die spezifische Forschungssituation zur älteren Schweizer Geschichte nicht behaupten. Angesichts des hohen Stellenwerts der Patronage fremder Herrscher und ihrer Vertreter vor Ort bei der Gestaltung der inneren Herrschaftsverhältnisse ist es in den Worten Christian Windlers erstaunlich, «dass die Geschichte der Aussenbeziehungen in der neueren schweizerischen Forschung fast als Tabuthema gilt und die eidgenössischen Beziehungsnetze bisher selten zum Gegenstand von Untersuchungen gemacht wurden, die mit dem Verflechtungsansatz arbeiten.»145 Publikationen, welche die eidgenössischen Eliten als Klienten auswärtiger Patrons untersuchen, liegen tatsächlich nur vereinzelt vor.146

Beim Verflechtungsansatz beziehungsweise der network analysis handelt es sich um ein sozialwissenschaftliches Konzept, das es ermöglicht, informelle Netzwerke in komplexen Gesellschaften zu untersuchen. In den 1970er-Jahren rezipierte Wolfgang Reinhard dieses von der Sozialpsychologie und Sozialanthropologie in den 1930er- und 1940er-Jahren entwickelte Konzept erstmals für die Erforschung historischer Führungsgruppen.147 Den Begriff network verdeutschte Reinhard seinerzeit mit Verflechtung. Inzwischen hat sich jedoch der Anglizismus Netzwerk in der Forschungssprache mehrheitlich durchgesetzt.148 Gegenstand der Verflechtungs- beziehungsweise Netzwerkanalyse ist die Beschreibung von Interaktionen und Beziehungen zwischen einer (theoretisch) beliebigen Anzahl von Personen. Für die Darstellung dieser Interaktionen und Beziehungen hat sie unterschiedliche grafische und mathematische Instrumente entwickelt.149 Als wichtigste Erscheinungsformen der personalen Verflechtung nennt Reinhard die Verwandtschaft, die Freundschaft, die Patronage und die Landsmannschaft. Diese vier Beziehungstypen sind nicht isoliert voneinander zu sehen, vielmehr können sie sich gleich mehrfach überlagern. Mittlerweile hat Reinhard für die Umschreibung des Phänomens den aus der Mikroökonomie entlehnten Begriff der Mikropolitik in die Diskussion eingeführt. «Dabei handelt es sich, summarisch vereinfacht, um die Erzeugung und Nutzung von persönlichen Loyalitäten, die durch Verwandtschaft, Freundschaft und klienteläre Beziehungen zustande kommen».150

Klientelismus, um den Terminus zu klären und das heuristische Potenzial der Netzwerkanalyse näher zu umreissen, bezeichnet eine persönliche Beziehung zwischen zwei sozial ungleichen Partnern, die miteinander Ressourcen austauschen.151 Der Ressourcentausch findet zwischen einem sozioökonomisch höhergestellten Patron und einem Klienten mit einem niedrigeren Status statt. Der Patron gewährt seinem Klienten beispielsweise Protektion, Kredite und Geldzahlungen. Im Gegenzug verpflichtet sich der Klient gegenüber seinem Patron zu Arbeitsleistungen, versorgt ihn mit Informationen und setzt sich für politische Anliegen oder das Prestige seines Patrons ein.152 Die dominante Stellung des Patrons erklärt sich unter anderem mit der Exklusivität seiner zur Verfügung gestellten Güter und der Möglichkeit, Klienten jederzeit zu ersetzen.153 Das Modell eignet sich für die Beschreibung ganz unterschiedlicher Formen vertikaler Beziehungen. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht indessen alleine die klientelistische Beziehung zwischen den fremden Kriegsherren (Patrons) und ihren eidgenössischen Pensionären (Klienten).

Für die fern der Eidgenossenschaft weilenden fürstlichen Patrons war es wegen der geografischen Distanz, des sozialen Gefälles oder der Fülle ihrer Beziehungen bisweilen nicht möglich, direkte Beziehungen mit ihren Klienten in den Orten zu unterhalten. Diese Lücke wurde häufig von einem sogenannten Broker geschlossen, der als Vermittler zwischen Patron und Klient den Ressourcenaustausch vor Ort organisierte.154 In dieser Funktion kam dem Broker, der vielfach über keine eigenen Ressourcen verfügte, jedoch oft aus der lokalen Gesellschaft stammte, mitunter selbst die Rolle eines Patrons zu.155

Klientelistische Beziehungen nehmen in allen Gesellschaften entscheidende Funktionen wahr, deren formelle staatliche Organe nur schwach ausgebildet sind.156 Diese Beobachtung aus der Sozialanthropologie macht das Konzept für die Praktiken der eidgenössischen Diplomatie besonders interessant, weil die Aussenbeziehungen der Orte um 1500 nur in Ansätzen institutionalisiert waren. Allgemein ist es eminent, «die für die Zeit bis ins 18. Jahrhundert anachronistische Fixierung auf den Staat als massgebliche und geschlossen handelnde Einheit in den Aussenbeziehungen» aufzulösen und gegen eine akteurszentrierte Sichtweise einzutauschen.157 Mit diesem Perspektivenwechsel rücken die Akteure in den Vordergrund, welche die Aussenbeziehungen der Orte immer auch nach ihren Privatinteressen auszurichten suchten.158 Bei genauem Hinsehen lösen sich deshalb die Politiken der Machtzentren in Praktiken der Akteure auf, deren Handeln obrigkeitliche und partikulare Interessen gleichermassen bediente.159 So versammelten sich laut Daniel Schläppi an Tagsatzungen des 17. Jahrhunderts weniger Gesandte der eidgenössischen Orte, sondern «in erster Linie Geschäftsleute und Politunternehmer».160 In Solddienstangelegenheiten sind die wirtschaftlichen Interessen der einflussreichen Familien kaum von den Interessen ihres Orts zu unterscheiden.161 Die Pensionen- und Reislaufpolitik der Orte und der Tagsatzung bildete gewissermassen die Resultante der Familieninteressen im Bereich des Militärs.

In der frühen Neuzeit wurden diese Praktiken der politischen Einflussnahme von verschiedenen Parteien sprachlich in unterschiedlicher Weise verhandelt. Es existierten zwei konkurrierende Diskurse, welche diese Handlungsweisen rechtfertigten oder als korrupt verurteilten. Auch die historische Forschung bewertet das Phänomen unterschiedlich und stellt neben dem Patronagekonzept auch zwei unterschiedliche Konzeptualisierungen zur Diskussion: neutral beziehungsweise positiv als Patronage oder negativ als Korruption.162 Die Patronageforschung betont das persönliche Vertrauensverhältnis zwischen Patron und Klient, welches eine affektive Dimension beinhalten konnte.163 Insbesondere in Briefen zwischen Patrons und Klienten finden sich tatsächlich häufig Formulierungen, welche das persönliche Freundschaftsverhältnis zum Ausdruck bringen.164 1497 schreibt etwa der bernische Broker Thomas Schöni an seinen Patron Georg Supersaxo von «guoten heren, gönern und einteil geborner fründen», die er für seinen Patron in einer dringenden Angelegenheit zu aktivieren gedenke.165 Der vertikale Charakter von Patron-Klient-Beziehungen wird häufig an der Formulierung der Anrede erkennbar: «her und gfatter» nannte beispielsweise der Berner Broker Michel Glaser den Patron Supersaxo.166 Pfister spricht deshalb von einer instrumentellen Freundschaft, welche Patron und Klient verbindet.167 Im Unterschied zum Konzept der Patronage impliziert das Konzept der Korruption, dass eine persönliche Beziehung zwischen den Beteiligten weitgehend fehlt.168 Gegen die verbreitete Auffassung der Patronageforschung, wie sie beispielsweise von Sharon Kettering vertreten wurde, dass es sich bei der Korruption um ein modernes Konzept handelt und folglich nicht auf Handlungsmuster frühneuzeitlicher Akteure übertragen werden kann, 169 hat Andreas Suter Einspruch erhoben. «Für den gesamten Zeitraum des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit finden wir auf allen Sprachebenen, dem gelehrten Diskurs der Staatstheoretiker, Philosophen, Juristen und Theologen, dem Diskurs der Amts- und Justizbehörden von Gemeinden, Städten, Ständen und Territorien und dem Diskurs dieser Praktiken betroffenen und zuweilen dagegen opponierenden Untertanen Belege dafür, dass das Wort Korruption verwendet wurde, dass alternativ zur Bezeichnung derselben Sache als Korruption zahlreiche Synonyme wie Bestechung usw. benutzt wurden, und dass die mit diesen Worten bezeichnete Sache sich von modernen Konzeptualisierungen korrupter Praktiken nicht grundlegend unterschied.»170

Diese Kritik an derartigen Praktiken der politischen Einflussnahme war im Umfeld der Pensionenunruhen virulent. Das führte in der politisch angespannten Zeit der Mailänderkriege zu vielen, teilweise politisch motivierten Anschuldigungen. In den überlieferten Gerichtsakten ist deshalb nur selten von freundschaftlichen Verbindungen die Rede, vielmehr dominiert eine Sprache der Korruption.171 Während der Pensionenunruhen zirkulierte beispielsweise das Gerücht, der Luzerner Schultheiss Petermann Feer hätte mehr Geld vom französischen König erhalten, als ein Ochse schwer sei.172 Um die Verflechtung der politisch-militärischen Eliten mit den auswärtigen Patrons in den vier Untersuchungsräumen um 1500 möglichst vollständig erfassen zu können, ist das Plädoyer von Suter für eine doppelte Perspektive eminent. Sowohl der positive Patronage- als auch der negative Korruptiondiskurs sollen gleichberechtigt untersucht werden.173

In der Patronageforschung besteht weitgehend Einigkeit in der Frage, dass es sich bei Netzwerken um eine funktionale und zweckmässige Entwicklungsstufe zum modernen Staat gehandelt hatte.174 Diese Ansicht hat sich seit den Arbeiten von Pfister, 175 Teuscher176 oder Windler177 auch in der schweizerischen Forschung mehrheitlich durchgesetzt. Da rationale Bürokratie- und Verwaltungssysteme fehlten, seien diese Netzwerke im Binnenbereich der Territorien zur vertikalen Integration der Herrschaft zwischen regierenden Eliten und Regierten sowie zwischen Zentrum und Peripherie eingesetzt worden.178 Dabei unterstreicht Windler die Bedeutung der Intensität der Aussenverflechtung und die dadurch vermittelten Ressourcen für die frühneuzeitliche Staatsbildung in den eidgenössischen Orten.179 Auf diesem Befund aufbauend, sollen – gemäss der in Kapitel 1.2 formulierten Fragestellung und These – die Logiken, Praktiken und Wirkungen der grenzüberschreitenden Verflechtung der eidgenössischen Eliten auf «Staat» und Gesellschaft genauer in den Blick genommen werden. Die Untertanenproteste 1513–1516 stellen in dieser Hinsicht einen Glücksfall dar. Denn der dürftige Forschungsstand zur frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft lässt sich nicht zuletzt auf ein quellenspezifisches Problem zurückführen. Wegen ihres informellen Charakters haben Klientelbeziehungen kein systematisches Quellengut hinterlassen. Private Briefe, die weitaus beste Quelle für Patronagebeziehungen, sind in der Eidgenossenschaft um 1500 vergleichsweise rar.180 Im Verlauf der Proteste wurden die Pensionäre indessen nicht nur beim Namen genannt, sondern die Untertanen erreichten durch erheblichen Druck, dass die aussenpolitischen Verstrickungen der Ratsherren mittels Verhören aufgedeckt und deren klientelistischen Beziehungen dadurch gerichtsbeziehungsweise aktenkundig wurden. Durch diese Gerichtsakten und die überlieferten Pensionenlisten aus fürstlichen Kanzleien, welche die Pensionentransfers ausführlich dokumentieren, wird das engmaschige Beziehungsnetz zwischen einheimischen Eliten und fremden Patrons systematisch nachvollziehbar. Es werden nicht wie üblich nur vereinzelte Fragmente klientelistischer Beziehungsnetze sichtbar, sondern das gesamte vertikale Beziehungsgeflecht der politisch-militärischen Elite – oder zumindest grosser Teile davon. Die Untertanenproteste in Bern, Luzern, Solothurn und Zürich ermöglichen es, die Praktiken der politischen Einflussnahme um 1500 dicht zu beschreiben, die Verflechtung der Elite in Bern, Luzern, Solothurn und Zürich – insbesondere mit Frankreich – in einem bislang unbekannten quantitativen Ausmass systematisch zu erfassen und als Soziogramme grafisch darzustellen. Die klientelären Netzwerke in den Orten sind jedoch nicht als voneinander isoliert zu betrachten. Aufgrund der günstigen Quellensituation im Umfeld der Unruhen wird ersichtlich, dass einzelne Akteure aus unterschiedlichen Orten in ortsübergreifende Netzwerke eingebunden waren. Die verschriftlichten Aussagen dieser Akteure spiegeln die kommunikative Praktik der französischen Diplomatie und der zwischenörtischen Netzwerke wider, welche über einzelne Schlüsselfiguren funktionierte.181

Inwieweit diese Gebilde politisch effizient182 und stabil waren, ist schwierig zu beurteilen. Der politische Output dieser Beeinflussungspraktiken steht denn auch nicht im Fokus der Untersuchung, da empirische und methodische Grundlagen für die Messbarkeit von Erfolg und Misserfolg fehlen. Grundsätzlich lässt sich jedoch festhalten, dass kein Automatismus zwischen Zahlung und Leistung (bzw. politischem Erfolg) bestand. Die Frage nach der Stabilität der Verflechtung hingegen wirft ein quellenkritisches Problem auf, das nicht ignoriert werden kann. Klientelistische Beziehungen waren zwar häufig von Dauer, 183 dennoch handelte es sich bei solchen Netzwerken auch um prekäre, ephemere Gebilde. Insbesondere an deren äusseren Rändern handelte es sich, so scheint es, partiell um synaptische Verbindungen, die nur kurz aufblitzten und sich dann wieder auflösten. Denn auch einmalige Zahlungen (sogenannte «Schenkinen») an verschiedenste Empfänger gehörten zur diplomatischen Praxis der Gesandten, ohne dass dadurch eine dauerhafte Beziehung zwischen einem Patron und einem Klienten konstituiert worden wäre. Bei diesen Zahlungen scheint der Verdacht auf einfache Bestechung in der Tat gerechtfertigt zu sein.184 Mit Blick auf die Quellen erweist sich die Unterscheidung in der Praxis jedoch als schwierig bis unmöglich. Die in Kapitel III.2 grafisch festgehaltenen Netzwerke von 1512/13 stellen aus diesen Gründen eine zeitlich begrenzte, gewissermassen fotografische Momentaufnahme dar, wobei insbesondere deren Kapillaren einem steten Wandel unterlagen. Ohnehin scheint eine messerscharfe Abgrenzung einfacher gesellschaftlicher Kommunikation vom Netzwerkbegriff nicht immer möglich. Der Netzwerkbegriff, der suggeriert, dass etwas Bestehendes lediglich sichtbar gemacht werden müsse, hat die Tendenz, die Nähe des Konzepts zur trivialen gesellschaftlichen Kommunikation zu kaschieren.185 Um beide Bereiche einigermassen sinnvoll voneinander unterscheiden zu können, ist der kontinuierliche Ressourcenaustausch zwischen Patron und Klient entscheidend. Dabei wirkte die Logik, dass Patron und Klient bezüglich des Leistungsaustauschs nie quitt waren, stabilisierend auf die Beziehung.186

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9783039199068
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