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26

Borna und Davor Krupcic haben sich im Fordwerk zu Köln fest etabliert. Sie sind stets pünktlich, fleißig und engagiert.

Das wird honoriert: Obwohl die Produktion nach wie vor auf Hochtouren läuft, erlaubt ihnen ihr Chef, gemeinsam für zwei Wochen Urlaub zu nehmen, damit sie zusammen in die Heimat fahren können.

Die Brüder verdienen in Deutschland gutes Geld, sie leben sparsam und schicken der Familie regelmäßig Teile ihres Gehalts, damit das Eigenheim in Jugoslawien auf Vordermann gebracht werden kann. Sogar an einen Anbau wird gedacht, für den Fall, dass einer oder gar beide Söhne nach einigen Jahren in Deutschland in die Heimat zurückkehren.

Borna und Davor sind bescheiden geblieben, sie gönnen sich wenig.

Die Zugfahrt über München und Belgrad nach Novi Sad indes tun sich die Brüder nicht mehr an, sie beschließen, fortan mit dem Flugzeug in die Heimat zu reisen.

Das Luftverkehrsunternehmen Jugoslawenski Aerotransport (JAT) nimmt seine Arbeit am 01.04.1947 auf.

Die JAT sorgt für die Ausgestaltung eines Flugnetzes, dass sich nicht nur über die Hauptstädte der einzelnen Teilrepubliken Jugoslawiens und zahlreichen Städten des Auslandes ausdehnt, sondern auch die für den Fremdenverkehr wichtisten Orte: Dubrovnik, Split, Tivat, Veldes, Ohrid und Titograd umschließt. Der Auslandsflugverkehr wird vorwiegend über den neuen Großflughafen Surcin, 17 km vom Zentrum Belgrads entfernt, abgewickelt (33).

Borna und Davor Krupcic stehen am Flughafen Köln/Bonn am Schalter, zwei Tickets nach Belgrad in der Hand.

„Bist Du auch so nervös, Borna?“

„Ja, Davor. Du kennst mich nur als den großen, starken Bruder, was?! Aber ich sag' Dir was: mir ist richtig flau im Magen.“

„Mir auch, Borna.“

„Ich habe gedacht, meinen ersten Flug mache ich mit Ana...“

„Hey, der erste Flug mit mir – ist das etwa nichts?“, Davor lacht.

„Doch, sicher, das ist auch etwas Besonderes“, Borna drückt seinen Bruder kurz, dieser erwidert die Umarmung.

27

Das Gespräch mit seinem Vater Andrea, mit Onkel Gianni und Cousin Luigi, hat tiefe Spuren bei Guiseppe Scirelli hinterlassen.

Er hätte nicht gedacht, dass die Familie seinen Plan so entschieden ablehnen würde.

Es muss doch allen bewusst sein, dass ein behindertes Familienmitglied nicht zum Status der Famiglia passt, dass eine Behinderung, geistig wie körperlich, ein Zeichen von Schwäche ist, die sich eine hoch angesehene Familie wie die der Scirellis und Tardeas nicht erlauben darf.

Warum nur sträuben sich alle außer ihm so gegen eine Abtreibung?

Wie dem auch sein, Guiseppes Vorhaben ist gescheitert. Das Kind wird zur Welt kommen – behindert oder nicht.

Das Ospedale von Santa Maria Nuova, das seinen Namen der Kirche des Krankenhauses verdankt, ist das älteste Krankenhaus in Florenz. Es wurde im Jahre 1288 gegründet und ist eines der wichtigsten medizinischen Zentren der Stadt (34).

Mit dem stellvertretenden Klinikdirektor hat Guiseppe zusammen die Schulbank gedrückt, nach der Schule trennten sich die beruflichen Wege der beiden Männer, über die Jahre hinweg hielten sie jedoch Kontakt zueinander. Rafael di Rossi hat an einem Dienstagmorgen gerade sein Büro betreten, als das Telefon läutet.

„Buongiorno Dottore di Rossi. Da ist ein Mann in der Leitung, der Sie sprechen möchte. Er heißt Guiseppe Scirelli. Soll ich durchstellen?“, fragt die Dame vom Empfang des Krankenhauses.

„Ja, aber sicher doch!“, entgegnet Rafael di Rossi erfreut.

„Guiseppe! Alter Freund!“

„Ciao Rafael. Wie geht es Dir?“

„Gut, danke. Mir geht es gut, und selbst?“

„Ich kann auch nicht klagen. Zu viel zu tun, aber ansonsten … tutto e bene, alles gut.“

„Das freut mich.“

„Guiseppe, was treibt Dich dazu, in aller Herrgottsfrühe hier anzurufen?“

„Wir haben ein Problem, Rafael.“

„Wir?“

„Ja, die Familie.“

„Was ist denn passiert?“

„Amandas Tochter, die in Deutschland lebt, ist schwanger. Es ist möglich, dass das Kind behindert zur Welt kommt.“

„Das tut mir leid.“

„Ich habe erst kürzlich in der Zeitung gelesen, dass ihr einen exzellenten Neugeborenenchirurgen am Krankenhaus habt.“

„Dr. Baldini? Ja, der ist hoch angesehen und wirklich ein Spezialist auf seinem Gebiet.“

„Könnte der sich Clarissa und das Baby wohl einmal anschauen?“

„Sicher, wenn der werdenden Mutter diese lange Reise zuzumuten ist, warum nicht?“

„Dann werde ich veranlassen, dass sie zu Euch kommt.“

„Wunder vollbringen kann allerdings auch Dottore Baldini nicht, Guiseppe.“

„Das weiß ich. Und deshalb habe ich noch eine Bitte.“

„Nur zu.“

„Wenn er nichts für das Kind tun kann...“, Guiseppe stockt.

„Ja?“

„Rafael, Du weißt um unseren Familienstolz, um unser Ansehen in Norditalien, um die Rivalität zwischen den Familienclans.“

„Schon, obgleich ich nichts damit anfangen und Euer Gehabe kaum nachvollziehen kann.“

„Ein behindertes Kind darf nicht mit uns in Zusammenhang gebracht werden.“

„Was willst Du von mir, Guiseppe?“

„Wenn Dottore Baldini nichts für das ungeborene Kind tun kann, dann...dann möchte ich, dass es in ein Pflegeheim kommt. Dort ist es gut aufgehoben.“

„Das sollten die Eltern entscheiden, Guiseppe.“

„Nein, die dürfen gar nichts davon wissen. Sie würden es kaum akzeptieren. Wahrscheinlich würden sie das Kind behalten und alle Welt würde davon erfahren.“

„Noch einmal, Guiseppe: Was willst Du von mir?“

„Ich möchte, dass ihr das Kind im Fall der Fälle nach der Geburt vor den Eltern für tot erklärt.“

„Was?! Das ist nicht Dein Ernst, Guiseppe.“

„Das ist mein voller Ernst, Rafael!“

„Das kann ich nicht machen. Impossibile!“

„Ich bitte Dich, Rafael. Dem Kleinen wird es an nichts fehlen, es ist ein neues, modernes Pflegeheim, in dem das Kind rund um die Uhr betreut wird.“

„Darum geht es nicht, Guiseppe. Das kannst Du den Eltern nicht antun.“

„Ich muss, Rafael, ich muss.“

„Ich spiele da nicht mit, Guiseppe. Nein!“

„Du weißt, wie sehr unsere Familie das Krankenhaus unterstützt. Wir haben uns sehr dafür eingesetzt, dass ihr mehr öffentliche Gelder erhaltet. Wir haben einige der besten Ärzte des Landes nach Firenze geholt. Wir haben den Stadtrat dazu bewogen, Euch steuerlich zu entlasten.“

„Ich weiß, Guiseppe, aber das kannst Du nicht verlangen.“

„Wo ist das Problem, Rafael? Meinst Du, den Eltern geht es besser, wenn Sie ein behindertes Kind aufziehen?“

„Das weiß ich nicht. Aber die Entscheidung, ob sie dies tun oder aber das Kind in ein Pflegeheim geben, sollten sie selbst treffen.“

„Das dürfen sie eben nicht. Stell' Dir vor, sie behalten es. Welch' eine Schmach für die Famiglia.“

„Ich kann kaum glauben, wie Du redest, Guiseppe. Was ist mit Dir passiert?“

„Ich sorge mich nur um die Ehre der Familie.“

„Auf eine Art und Weise, die mir Angst macht, Guiseppe.“

„Ich werde veranlassen, dass Clarissa bereits nächste Woche zu Euch kommt.“

„Das geht klar.“

„Und sollte sich herausstellen, dass Dottore Baldini nichts für das Kind tun kann.“

„Nein, Guiseppe, bitte nicht.“

„Dann bleibt Clarissa bis zur Geburt in Italien und das Kind kommt direkt nach dem es das Licht der Welt erblickt hat in die Casa Cura nach Bergamo.“

„Du bist ja verrückt.“

„Und den Eltern teilt man mit, dass es bei der Geburt verstorben ist.“

„Ich bete zu Gott, dass es nicht so kommen wird.“

„Da sind wir uns einig, das tue ich auch.“

„Du betest zu Gott? Nachdem, was ich heute von Dir gehört habe, kann ich mir kaum vorstellen, dass Du noch einen Draht nach oben hast.“

„Lass das mal meine Sorge sein, Rafael.“

Guiseppe Scirelli legt den Hörer auf. Im Krankenhaus Santa Maria Nuova sinkt Rafael di Rossi in seinem Bürosessel zusammen, schlägt die Hände vors Gesicht und schüttelt fassungslos den Kopf.

28

Als Clarissa Werner Schmitz vom Anruf Guiseppes erzählt, lässt dieser sofort alle Drähte glühen.

Er bittet Dr. Freudenberg, darum, sich über das Santa Maria Nuova und den dort praktizierenden Neugeborenenchirurg Dr. Baldini schlauzumachen.

Clarissa ist wild entschlossen, dem Rat der Familie zu folgen und die restlichen Schwangerschaftsmonate sowie möglicherweise auch die Geburt unter der Obhut von Dr. Baldini in Angriff zu nehmen.

Werner ist eher skeptisch.

„Hier in Deutschland haben wir doch so ziemlich die besten Ärzte in Europa.“

„Ja, aber trotzdem kann es doch auf bestimmten Gebieten Spezialisten in anderen Ländern geben, der sich besser auskennen.“

„Das kann ich mir kaum vorstellen.“

„Warten wir ab, was Dr. Freudenberg uns über das Krankenhaus und den Arzt zu berichten weiß, dann sehen wir weiter.“

„In Ordnung, Werner.“

Wenige Tage später ruft Dr. Freudenberg im Santa Maria Nuova an und möchte den Klinikdirektor sprechen.

„Ich verbinde Sie mit Dr. Trafalgo, Dottore Freudenberg.“

„Grazie, Signora.“

„Dottore Freudenberg, werter Kollege aus Deutschland, wie kann ich Ihnen helfen?“

„Guten Tag Dr. Trafalgo. Es geht um Folgendes: Ich habe bei einer schwangeren Patientin aus Köln im Ultraschall Verdachtsmomente für Gehirnwasser im Fötus entdeckt.“

„Sie benutzen bereits Ultraschallgeräte zur Diagnostik?“

„Wir...nun ja, wir setzen im Rahmen von Studien manchmal bereits...also wir experimentieren ein wenig mit den Geräten.“

„Und wie kann ich Ihnen behilflich sein?“

„Meine Patientin hat Verwandte in Italien. Diese haben ihr von einem an Ihrem Hospital praktizierenden Arzt erzählt, der wohl insbesondere in der Fetalchirurgie und -medikation zu den besten Ärzten in Europa gehören soll.“

„Sie sprechen von Dr. Baldini. Ja, der ist seit knapp zwei Jahren an unserer Klinik.“

„Können Sie mir Genaueres über seine Arbeit erzählen?“

„Nun, es gibt Neurochirurgen, die zunehmend den Ansatz verfolgen, schon vor der Geburt das Leben und die Gesundheit kranker Babys mit gewagten Eingriffen zu retten. Diese Operationen können Behinderungen vorbeugen und...“

„Genau darum geht es, Dr. Trafalgo!“

„Lassen Sie mich bitte ausreden, Dr. Freudenberg.“

„Gewiss.“

„Das Baby wird aus dem Bauch der Mutter ans Tageslicht geholt, um Gefahren, die seine Gesundheit bedrohen, durch eine Operation abzuwenden. Danach geht es zurück in den Mutterleib. Solch' eine Operation birgt allerdings auch große Risiken. Es kann zu einer Fehlgeburt kommen.“

„Aber es besteht auch die Chance, dass das Kind nach einer Operation gesund zur Welt kommt?“

„Theoretisch schon. Ich möchte mich da nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, Sie, beziehungsweise Ihre Patientin, sollte das mit Dr. Baldini diskutieren.“

„Sie wären also bereit, Clarissa Schmitz, so heißt die Patientin, in Ihrer Klinik aufzunehmen?“

„Erst einmal wäre ich bereit, ihr ein Gespräch mit Dr. Baldini zu vermitteln.“

„Wann kann sie kommen?“

„Jederzeit, ich vereinbare gern einen Termin für die Patientin aus Deutschland.“

„Ich danke Ihnen sehr, Dr. Trafalgo. Wir kontaktieren Sie dann wieder, um einen Termin zu vereinbaren.“

„Sehr gern, Dottore Freudenberg.“

29

Nach gut zweieinhalb Stunden Flugzeit landet die JAT-Maschine auf dem Flughafen in Belgrad.

„Ist schon was anderes als die Reise mit dem Zug, was, kleiner Bruder?“, Borna Krupcic gibt seinem Bruder einen Klaps auf die Schulter.

„Das kann man wohl sagen. Es ist unglaublich, wie schnell das geht.“

„Schön, dass wir uns so etwas jetzt leisten können.“

„Ich hatte Schuldgefühle wegen dem Flugpreis, Borna. Du nicht? Ich meine, wir wollten doch sparsam sein und das Geld, das am Monatsende übrig ist, ins Haus der Familie stecken.“

„Das tun wir doch auch. Wir leisten uns ja sonst kaum etwas, da brauchen wir uns wirklich nicht zu schämen, wenn wir uns den Flug in die Heimat gönnen. Schließlich arbeiten wir hart für unser Geld.“

„Du hast ja Recht, Borna. Schau mal, da vorne steht Cousin Ante.“

„Wollte nicht Vater uns abholen?“, wundert sich Davor.

„Dachte ich auch. Egal, Hauptsache, wir sind bald bei der Familie.“

„Zdravo Ante!“, Borna umarmt seinen Cousin.

„Willkommen in der Heimat, Ihr zwei Halunken. Gut seht ihr aus.“

„Und Du bist richtig erwachsen geworden, Ante. Mann, wie die Zeit vergeht“, auch Davor umarmt Ante.

„Warum ist Vater nicht gekommen?“

„Er hat sich beim Arbeiten am Haus verhoben und kann sich im Moment kaum bewegen.“

„Hat er sich mal wieder übernommen, was?“

„Möglich, ja. Dank Eures Geldes ist ja viel zu tun am Haus, Ihr werdet Euch wundern, wie weit wir mit dem Anbau schon sind.“

„Da sind wir ja mal gespannt, Ante“, sagt Davor mit leuchtenden Augen.

Die drei Männer erreichen den Ausgang des Belgrader Flughafens.

„Euer Vater hat mir sein Auto geliehen. Ich stehe direkt da vorne“, Ante deutet auf eine kleine Abbiegung rechts vom Flughafengebäude.

„Wollen wir zunächst irgendwo etwas essen gehen? Es ist schon Abend und wir haben noch gute anderthalb Stunden zu fahren.“

„Gern, Ante. Fahren wir einfach los Richtung Heimat und wenn wir ein nettes Lokal sehen, machen wir Stopp. Davor, Du bist doch sicherlich auch hungrig?“

„Ja, und wie.“

„Dann mal los, Ante. Volle Kraft voraus...“

30

Hedwig Schmitz sitzt teilnahmslos im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als ihr Mann Paul von seinem verlängerten Angelwochenende in der Vulkaneifel zurückkehrt. An Pauls Entschluss, seine Ehe zu beenden, hat auch die knapp zweistündige Rückfahrt nichts geändert. So kann, so will er nicht weiterleben.

„Hallo Hedwig.“

„Hallo Paul. Und: Hast Du Dich gut erholt?“

„Ein wenig, Hedwig, nur ein wenig.“

„Warum nur ein wenig?“

„Weißt Du, Hedwig, mir gingen viele Dinge durch den Kopf. Wenn man da stundenlang so ganz allein am See sitzt, wird einem vieles klarer.“

„Ja, ist das so?“

„Das ist so, Hedwig.“

„Willst Du ein Bier? Steht im Kühlschrank.“

„Ja, ich will ein Bier“, Paul begibt sich in die Küche und kommt mit einer Flasche Bier in der Hand ins Wohnzimmer zurück.

„Hedwig, wir...“

„Ja?“

„Hedwig, mit uns ist es nicht mehr so, wie es einmal war, findest Du nicht auch?“

„Nichts ist mehr so, wie es einmal war, Paul. Nach diesem Krieg ist nichts mehr so, wie es einmal war.“

„Natürlich nicht, Hedwig. Das brauchst Du mir am Allerwenigsten zu sagen...“

„Entschuldige, Paul.“

„Ist schon in Ordnung. Nur: Hedwig, der Krieg ist jetzt beinahe zwanzig Jahre vorbei.“

„Nein, Paul, dieser Krieg geht nie vorbei. Nicht für die, die ihn miterlebt haben.“

„Sicher nicht, da hast Du Recht. Aber irgendwann muss man auch nach vorne schauen..

„Wie meinst Du das?“

„Hedwig, ich denke, wir haben uns beide verändert. Und zwar in Richtungen, die uns eher voneinander entfernen als das sie uns vereinen.“

„Wenn Du das so siehst.“

„Wie siehst Du es denn?“

„Ich weiß es nicht, Paul. Ich weiß es einfach nicht.“

„Ich denke, nein, ich weiß, Hedwig, dass ich noch einmal neu anfangen möchte. Unbelastet von den Kriegserlebnissen. Vielleicht ist es einfacher für uns beide, wenn wir erst einmal eine Zeit alleine leben.“

„Eine Zeit?“

„Ich möchte die Scheidung, Hedwig. Bitte sei mir nicht böse.“

„Ich bin Dir nicht böse, Paul. Ich habe in den letzten Monaten auch das ein' oder andere Mal in diese Richtung gedacht.“

„Bleiben wir Freunde?“

„Ach, Paul, das wird kaum funktionieren, glaubst Du nicht? Dafür haben wir mittlerweile einfach nicht mehr genug Gemeinsamkeiten. Dafür denken wir in vielerlei Hinsicht zu unterschiedlich.“

„Mag sein, Hedwig. Möchtest Du hier wohnen bleiben?“

„Nein. Bleib' Du hier wohnen.“

„Und wo willst Du hin?“

„Du kennst doch Tante Gerda. Sie bewohnt ein Häuschen an der Ahr. Ihre Mieterin ist gerade ausgezogen.“

„Es tut mir leid, dass es so gekommen ist, Hedwig.“

„Mir auch, Paul. Mir auch.“

31

Noch am Tag des Anrufes von Giuseppe Scirelli lässt Dr. Rafael di Rossi seine Sekretärin einen Termin bei Klinikdirektor Dr. Maurizio Trafalgo vereinbaren.

Dr. di Rossi kann es gar nicht erwarten, die Last, die seit dem Telefonat auf seinen Schultern liegt, loszuwerden und Dr. Trafalgo das Anliegen des Gönners vom Krankenhaus Santa Maria Nuova zu offenbaren.

„Ciao, Dr. Trafalgo. Schön, dass Sie Zeit für mich haben.“

„Was liegt Ihnen auf dem Herzen, Dr. di Rossi? Sie sehen sehr besorgt aus.“

„Ich hatte einen Anruf von einem der Scirellis, von Guiseppe.“

„Guiseppe Scirelli – ein flotter Bursche.“

„Ein bisschen zu flott, würde ich sagen. Sie ahnen nicht, worum er mich gebeten hat.“

„Ich bin ganz Ohr.“

„Eine entfernte Verwandte der Scirellis ist schwanger, das Kind wird aller Voraussicht nach behindert zur Welt kommen.“

„Traurig.“

„Guiseppe möchte es ohne das Wissen der Mutter ins Pflegeheim geben.“

„Der Familienstolz...“

„Genau. Unglaublich, finden Sie nicht?“

„Was will Scirelli denn von uns? Er braucht doch das Einverständnis der Eltern, wenn das Kind in ein Heim kommen soll.“

„Die Eltern sollen nichts davon wissen.“

„Bitte?!“

„Er will das, ohne das die Eltern davon etwas mitbekommen, in die Wege leiten.“

„Wie will er das denn anstellen?“

„Indem er den Eltern sagt, das Kind sei bei der Geburt gestorben.“

„Das kann er nicht machen. Denkt er nicht an das Leid der Eltern?“

„Offensichtlich nicht.“

„Ich weiß nicht, ob wir den Scirellis diesen Gefallen tun können. Ich muss darüber nachdenken.“

„Darüber nachdenken? Das heißt: Sie ziehen es in Erwägung, auf Guiseppes Forderung einzugehen?“

Dr. Trafalgo rutscht ein wenig in seinem Sessel hin und her und lässt den Kopf auf die Brust sinken.

Ohne Rafael di Rossi anzuschauen sagt er leise:

„Wissen Sie eigentlich, wie viel Geld die Scirellis uns über verschiedene Wege haben zukommen lassen? Wie sehr sie Behörden und Ämter zu unseren Gunsten beeinflusst haben?“

„Die Details kenne ich nicht, nein.“

„Würden Sie sie kennen, würden Sie vielleicht anders denken.“

„Das glaube ich mitnichten.“

„Ohne die Unterstützung der Scirellis würden viele Arbeitsplätze hier im Krankenhaus gar nicht existieren. Vielleicht auch Ihrer nicht, Dr. di Rossi.“

„Das rechtfertigt es nicht, einer Mutter ihr Kind wegzunehmen und es für tot zu erklären.“

„Dem Kind passiert doch nichts.“

„Dem Kind passiert nichts, nein?! Nur der bedauerliche Umstand, dass es ohne seine Eltern aufwächst. Und haben Sie auch einmal an die Mutter gedacht, die man glauben macht, das Kind sei verstorben? Können Sie sich vorstellen, wie das die junge Frau trifft? Wahrscheinlich ist ihr ganzes Leben zerstört.“

„Sie ist blutjung und kann ohne Probleme wieder Mutter werden.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es so.“

„Dr. Trafalgo, mich werden Sie von der Sache nicht überzeugen können, soviel steht fest.“

„Das brauche ich auch nicht, Dr. di Rossi.“

„Ich weiß.“

32

Nachdem die Krupcic-Brüder und ihr Cousin sich in einem kleinen Lokal etwas abseits der Hauptstraße gestärkt haben, treten sie den Rest des Heimweges an.

Es ist schon dunkel, als sie mit Ante das Elternhaus bei Novi Sad erreichen. Trotzdem ist deutlich zu erkennen, was hier in den letzten Monaten passiert ist.

„Ich kann nicht glauben, was ich da sehe, Ante. Wie um Himmels Willen seid Ihr denn so schnell vorangekommen?“, Borna schaut mit großen Augen auf das Haus der Eltern.

„Die ganze Familie hat geholfen. Und dank Eurem Geld konnten wir viel mehr Baumaterial kaufen, als wir gedacht hatten.“

„Aber dass es so schnell geht, hätte ich nie gedacht. Der Rohbau für das Nebenhaus steht ja schon.“

„Nicht nur das. Sogar der Fußboden ist schon gelegt. Und der Wasseranschluss ist auch schon geplant.“

Borna kommen die Tränen. Er hat die Kriegsjahre noch nicht vergessen, in denen Armut überall im Land herrschte und sich die Krupcics in diesem Haus mehr schlecht als recht über Wasser hielten.

„Ist denn unser Kinderzimmer noch so, wie es war?“ fragt Davor.

„Selbstverständlich. Eure Mutter haut doch jedem, der in Eurem Zimmer etwas verändern will, auf die Finger...“

„Unsere Majka...“, sagt Borna lächelnd und schüttelt den Kopf.

Am nächsten Morgen gönnt sich die Familie ein ausgiebiges Frühstück, bevor sich alle am Haus zu schaffen machen.

Enver Krupcic führt seine Söhne durch das gesamte Haus. Vieles ist bereits renoviert und modernisiert.

„Das haben wir alles Euch beiden zu verdanken.“

„Red' nicht so einen Blödsinn, tata“, entgegnet Borna.

„Aber es ist doch so. Ohne Euer Geld wären die Arbeiten am Haus kaum möglich gewesen.“

„Es ist doch selbstverständlich, dass wir die Familie unterstützen“, sagt Davor.

„Ihr seid zwei tolle Jungs. Ich bin mächtig stolz darauf, dass Ihr es in Deutschland geschafft habt.“

„Und wir sind stolz auf Dich, Papa. Wie Du hier in der Heimat den Laden zusammenhältst – bist ja auch nicht mehr der Jüngste...“, Borna lächelt.

„Im Anbau werden drei neue Zimmer entstehen. Genug Platz für uns alle, wenn alles fertig ist. Vorausgesetzt, Ihr wollt überhaupt zurückkehren.“

„Sicher wollen wir das, nicht wahr, Borna?“, entgegnet Davor.

Borna schweigt.

„Mein ältester Sohn scheint sich da nicht so sicher zu sein“, mutmaßt Enver.

„Ach, Papa, was soll ich sagen? Natürlich vermisse ich die Heimat, vermisse ich Euch.“

„Aber?“

„In Deutschland haben wir halt viel mehr Möglichkeiten.“

„Heißt das etwa, Du willst nicht wieder zurück, großer Bruder?“, fragt Davor erstaunt.

„Ich weiß es nicht. Die Zeit wird es zeigen. Zunächst einmal jedenfalls möchte ich Ana und die Kinder nachholen, wenn die beiden die Grundschule absolviert haben.“

„Das sollst Du auch, mein Sohn. Und wenn Du danach das Gefühl hat, in Deutschland bleiben zu wollen, hast Du auch meinen Segen.“

„Du bist der gütigste Mensch, den ich kenne, Papa.“

„Hör' auf, sonst werde ich noch rot im Gesicht.“

„Aber ich meine das genauso, wie ich es gesagt habe.“

„Und ich schließe mich dieser Meinung an“, schaltet sich Davor ein.

Enver umarmt seine Söhne.

„Es ist ein großes Glück, Kinder wie Euch zu haben. Ich liebe Euch.“

„Wir lieben Dich auch, Papa. Und nun lass uns ans Werk gehen. Schließlich sind wir nicht nur in die Heimat gekommen, um es uns gut gehen zu lassen.“

286,32 ₽
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