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Zum Zweiten führt Chomsky die grundlegende Unterscheidung in Kompetenz und Performanz ein. Sprachkompetenz ist »die Kenntnis des Sprecher-Hörers von seiner Sprache« (Chomsky 1978: 14), Sprachverwendung, sprachliche Performanz »der aktuelle Gebrauch von Sprache in konkreten Situationen« (ebd.). Damit ist die sog. mentalistische Sprachauffassung begründet, da eine Sprachtheorie um »die Aufdeckung einer mentalen Realität, die dem aktuellen Verhalten zugrunde liegt, bemüht ist« (ebd.). Mentalistische Linguistik ist also theoretische Linguistik, »die Daten aus der Sprachverwendung […] benutzt, um die Sprach-Kompetenz zu bestimmen, wobei Letztere als der primäre Untersuchungsgegenstand zu bestimmen ist« (ebd., S. 241). Mit dem Kompetenzbegriff bezieht sich Chomsky sprachphilosophisch auf Ideen des Begründers der vergleichenden Sprachforschung Wilhelm von Humboldt (1867–1835). Für von Humboldt ist »Sprache […] das bildende Organ des Denkens« (1973: 45) und »nichts anderes, als das Komplement des Denkens […]« ( ebd., S. 8). Indem Sprache und Denken komplementär aufeinander bezogen werden, bilden Sprachen das Fundament für die Geistestätigkeit. Der Begriff der ›Energeia‹ im Kontrast zum ›Ergon‹ reflektiert diesen Zusammenhang: »Die Sprache ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia). […] Sie ist nämlich die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den artikulierten Laut zum Ausdruck des Gedankens zu machen« (ebd., S. 36).

Wilhelm von Humboldt (*22.6.1767 in Potsdam, †8.4.1835 in Tegel)

Mit seinem Bruder Alexander von Privatlehrern erzogen, studierte Wilhelm von Humboldt in Frankfurt (Oder) und Göttingen neben Jura auch klassische Philologie. Er war im preußischen Staatsdienst tätig, bis er sich 1819 aus seinen Ämtern zurückzog. Neben diplomatischen Missionen hatte er von 1809 bis 1811 als Sektionsleiter für Kultus im Innenministerium entscheidenden Anteil an Bildungsreformen, die die Hochschulen in Deutschland bis in die Gegenwart geprägt haben. Bei einer Reise nach Spanien 1799 weckte die Begegnung mit dem Baskischen sein Interesse an der Unterschiedlichkeit der Sprachen. Er trug eine für die damalige Zeit einzigartige Vielzahl von Quellen zu den Sprachen der Welt zusammen und entfaltete seit 1820 auf dieser Grundlage einen sprachphilosophisch fundierten Entwurf zu einer vergleichenden Sprachforschung, der aber auf die sich an den indogermanischen Sprachen orientierende historisch-vergleichende Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts kaum Einfluss hatte. Sein sprachphilosophisches Denken wirkt dennoch bis in die Gegenwart fort.

Humboldts erklärtes Ziel ist es, die »Sprachfähigkeit des Menschengeschlechts auszumessen« (1973: 14). Die Suche nach Abhängigkeiten zwischen grammatischen Phänomenen und auch die Frage nach der Wechselbeziehung zwischen Sprache und Denken spielten dabei eine Rolle – Projekte, die die heutige Sprachtypologie und ebenso die Erforschung der kognitiven Grundlagen sprachlicher Relativität und deren kulturelle Implikationen vorwegnahmen.

Rezipiert wurde Humboldt meist als Sprachphilosoph, obwohl die zitierten Schriften primär Einleitungen oder als Akademie-Vorlesungen gehaltene Vorstudien zu umfassenden Einzeldarstellungen von Sprachen sind. Berühmt ist vor allem die Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschen betitelte Einleitung zu dem Werk Über die Kawi-Sprache auf der Insel Java (1836–39), wogegen die meisten kleinen Studien zu etlichen Sprachen heute weniger bekannt sind.

Die generative Grammatik knüpft also zunächst an formalisierte, mathematische Modelle an, erweitert diese aber um eine mentalistische Fundierung, indem sprachliche Kenntnissysteme als der originäre Untersuchungsgegenstand der Linguistik definiert werden. Es sind zwei Argumente, die Chomsky immer wieder für sein Mentalismus-Programm anführt:

1. Das Argument der Kreativität: Wie ist es möglich zu erklären, dass der Mensch immer wieder neue Sätze produziert, dass mit endlichen Mitteln unendliche Realisierungen erzeugt werden können? Dies ist bekannt als ›Humboldts Problem‹. Chomsky löst dieses wie folgt: Sprache ist ein generatives Verfahren zum Ausdruck von Gedanken. Generativ heißt, dass es Regeln gibt, die korrekte Sätze erzeugen, insbesondere auch rekursive Regeln, also Regeln des Typs, in dem dasselbe Symbol sowohl links als auch rechts vom Pfeil auftritt (A → B + A). So werden z.B. Wörter wie Ur-Urgroßvater oder Sätze wie Torsten weiß, dass Chomsky behauptet, dass alle Sprachen Rekursion aufweisen gebildet.

2. Das Argument der defizienten Erfahrung im Erstspracherwerb: Wie kann ein Kind Sätze produzieren, die es noch nie zuvor gehört hat? Der Spracherwerb kann nicht aus dem Dateninput begründet werden. Deshalb verfügt das Kind »über eine angeborene Theorie potentieller struktureller Beschreibungen« (Chomsky 1978: 49), es kommt mit bestimmten angeborenen grammatischen Prinzipien auf die Welt. Das Problem, das hier formuliert wird, ist bekannt als ›Platons Problem‹1. Chomsky wendet sich vehement gegen das Tabula-Rasa-Argument der Behavioristen und hier insbesondere gegen den amerikanischen Psychologen Burrhus Frederic Skinner (1904–1990), nach dem der Spracherwerb allein über den Dateninput und Sprache über die beobachtbaren Veränderungen in konkreten sprachlichen Situationen zu begründen sei. Bereits der Philosoph und Namensgeber meiner Universität Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) hatte argumentiert: Die »Tabula Rasa […] ist meines Erachtens nur eine Fiktion, die die Natur nicht zulässt« (Leibniz 2000: 99). Und: »Hinsichtlich des Satzes ›das Viereck ist kein Kreis‹ kann man aber sagen, er sei eingeboren, denn bei seiner Betrachtung vollzieht man eine Subsumption oder Anwendung des Prinzips des Widerspruchs auf das, was der Verstand selbst bereit stellt, sobald man sich zu Bewußtsein bringt, daß diese eingeborenen Ideen unverträgliche Begriffe in sich schließen« (Leibniz 2000: 37). Denn schließlich – so widerspricht Leibniz John Lockes (1632–1704) empiristischer Position: ›Es ist nichts im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war, ausgenommen der Verstand selbst‹ (»Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu, excipe: nisi ipse intellectus«, Leibniz 2000: 103).

Chomskys Programm der Sprachwissenschaft und seine Sprachtheorie haben zum Gegenstand das Verhältnis von Sprache und Kognition, von Sprache und Spracherwerb, Mechanismen der Spracherzeugung. Chomsky versteht Linguistik (zunächst) »als den Teil der Psychologie, der sich auf einen spezifischen kognitiven Bereich und ein spezifisches geistiges Vermögen konzentriert, nämlich auf das Sprachvermögen« (Chomsky 1981a: 11–12). Chomskys Programm wird in der sog. Universalgrammatik (UG) ausgeweitet und biologisch fundiert (s. auch Kap. 74).

5 Theorie und Empirie in der Sprachwissenschaft

Theorie und Empirie werden nicht nur in der Sprachwissenschaft als komplementäre Gegensätze begriffen. Komplementär insofern, als es keine Theorie ohne Bezug auf sprachliche Daten und keine Empirie ohne theoretische Vorannahmen gibt (bzw. geben sollte); gegensätzlich insofern, als die Forschungsgegenstände und -richtungen sehr unterschiedlich sind. Während es in den Naturwissenschaften jedoch selbstverständlich ist, dass Theoretiker und Empiriker in einem permanenten Austauschprozess stehen und dass eine Theorie einer experimentellen Prüfung standzuhalten hat, ist dies in den Sprachwissenschaften keineswegs so. Für viele Theoretiker ist das ›Stochern‹ in sprachlichen Daten relativ nutzlos und nur insofern wichtig, als die Empiriker einige, möglichst in die Theorie passende Belege bringen. Für viele Empiriker sind die Theoretiker intellektuelle Spinner, deren Phantastereien mit der sprachlichen Realität nichts mehr zu tun haben. Ein schönes, weil anschauliches Beispiel für Letzteres sind die Ausführungen des ›Dschungellinguisten‹ Daniel Everett, der bei den Pirahã-Indianern am Amazonas Feldforschung betrieben und darüber ein lesenswertes Buch geschrieben hat, in dem auch auf über einhundert Seiten auf die Sprache der Pirahã (sprich: Pidahan) eingegangen wird. In diesem Zusammenhang wendet er sich gegen Chomskys generative Grammatik (s. Kap. 4), dessen »Theorie in Wirklichkeit über die Pirahã-Sprache wenig Erhellendes beizutragen hat« (Everett 2010: 291). Anstelle eines »geradezu religiösen und ein wenig mystischen Dualismus, der den Arbeiten von Descartes und nach manchen Lesarten auch der Theorie von Chomsky zugrunde liegt, möchte ich eine konkrete Sichtweise auf die Sprache vorschlagen. […] Man sollte sich bemühen, Sprache in einer Situation zu verstehen, die dem ursprünglichen kulturellen Zusammenhang so nahe wie möglich kommt. Wenn ich damit auf der richtigen Spur bin, kann man linguistische Feldforschung nicht getrennt vom kulturellen Zusammenhang betreiben« (ebd. S. 358).

Everett wirft dem ›Schreibtischlinguisten‹ Chomsky u.a. vor, dass sein Grundansatz der Universalgrammatik (UG) im Hinblick auf den seiner Meinung nach notwendigen Zusammenhang von Sprache und Kultur fehl gehe, dass nichts Interessantes und Wissenswertes über Sprache erfahren werden könne. Hier ist ein Konflikt aktualisiert, der eine lange Tradition hat und der mit den Gegensatzpaaren Theorie – Empirie, wissenschaftlicher Realismus – Phänomenalismus, Rationalismus – Empirismus umrissen ist. Grundlegend ist eine unterschiedliche Auffassung zu den Aufgaben der Sprachwissenschaft und im Hinblick auf den Gegenstandsbereich. Rückt Chomsky das Sprachwissen, die Fähigkeit zu sprechen, in den Vordergrund, so Everett die sprachlichen Ausdrücke im kulturellen Kontext. Welchem Ansatz man folgt, ist in der Tat eine Glaubensfrage, aber: Everett macht es sich zu leicht, wenn er die Karte der Empirie zieht und glaubt, damit einen Trumpf gegen die Theorie ausspielen zu können.

In seinen Untersuchungen stellte Everett fest, dass es in der Sprache der Pirahã keine Rekursivität gibt. Rekursivität bezeichnet die Eigenschaft, mit einem endlichen Inventar an Grundelementen und Regeln unendlich viele Strukturen erzeugen können. Mit einer rekursiven Regel können Sätze mit unendlich vielen eingebetteten Sätzen erzeugt werden, z. B. Torsten denkt, dass Chomsky meint, dass Decartes ein großer Philosoph war. Da nun rekursive Strukturen in der Pirahã-Sprache nicht vorkommen, Rekursivität aber von Chomsky selbst als ein zentraler Baustein menschlicher Sprachfähigkeit und seiner Universalgrammatik (UG) gesehen wird (s. auch Kap. 4), sei die Theorie falsch. Nun zeigen Nevins et al. (2007), dass auch in der Pirahã-Sprache Rekursivität vorkommt, was Everett wiederum bestreitet (mich allerdings überzeugen die Argumente von Nevins et al.). Wir wollen aber annehmen, dass Everett Recht hat und es tatsächlich keine rekursiven Strukturen in der Sprache der Pirahã gibt. Was bedeutet dies für Chomskys Theorie, die eine wohldefinierte und komplexe Grammatiktheorie darstellt? Wir können argumentieren, dass die Theorie (T) falsifiziert ist und somit durch eine andere, neue Theorie (T’) zu ersetzen ist. Nun zeigt sich in allen anderen Sprachen, dass diese über rekursive Strukturen verfügen. Von T’ werden wir erwarten, dass sie die empirischen Erfolge von T ebenso umfasst wie das neue empirische Faktum. Im Hinblick auf Rekursivität muss T’ auf T reduzierbar sein und zusätzlich das Phänomen der Nicht-Rekursivität umfassen. Everett schlägt nun folgendes Erklärungsprinzip vor: »Eine Erklärung dafür, warum es im Pirahã keine eingebetteten Sätze gibt, bietet das umfassende Prinzip des unmittelbaren Erlebens (immediacy of experience principle, IEP)« (Everett 2010: 345). Kurz und vereinfach gesagt: Einbettung, Rekursivität tritt wegen der konkreten Lebensumstände und der damit verbundenen unmittelbaren Erfahrung der Pirahã nicht auf, ist nicht notwendig. Nehmen wir auch hier an, Everett hat Recht, dass IEP gilt (was ich in der Form und grundsätzlich bezweifle). Dieses Prinzip ›erklärte‹ dann zwar Nicht-Rekursivität in der Pirahã-Sprache, sagt aber nichts aus über Rekursivität in anderen Sprachen. Eine Theorie, die der UG überlegen wäre, folgt daraus überhaupt nicht. Eher würde man eine zweite Strategie verfolgen: Wenn die UG sich in so vielen Fällen bewährt, dann stellt sich die Frage, warum in dem einen nicht. Man könnte eine Ausnahmeregel formulieren, so könnte das IEP andere Prinzipien außer Kraft setzen. Die modifizierte Theorie T’ umfasste dann die Fälle von Rekursivität und den Fall von Nicht-Rekursivität. T wäre dann in T’ enthalten, wobei durch T’ alte und neue empirische Befunde erklärt werden könnten.

Das ›Prinzip des unmittelbaren Erlebens‹ (IEP) leuchtet intuitiv ein, dennoch hatte ich gesagt, dass ich es in dieser Form bezweifle. Das, was ich stark bezweifle, hängt mit dem Begriff ›Erklärung‹ zusammen. Everett argumentiert, das IEP sei die Ursache für Nicht-Rekursivität, und er führt dies an weiteren Beispielen aus. Das zugrunde liegende Argumentationsschema setzt stillschweigend voraus, dass es normalerweise Sprachen mit Rekursivität gibt und dass das Pirahã von der Norm abweicht und für dieses Abweichen eine Begründung zu finden sei. Dies ist ein uns im Alltag vertrautes Denkschema: Solange der Computer läuft, fragen wir nicht nach der Ursache, warum er läuft, treten aber Fehlfunktionen auf, dann fragen wir uns, was passiert ist, warum der Computer nicht mehr funktionsfähig ist. Aber können wir eine Ursache eindeutig festlegen? Ist es plausibel, im Hinblick auf das komplexe Phänomen Sprache einen Grund (IEP) für ein Phänomen (Nicht-Rekursivität) festzulegen? Nein, zu behaupten, das IEP erkläre Nicht-Rekursivität, ist eine sehr einfache und reduktionistische Sicht auf die (sprachliche) Welt. Lebensumstände, Kultur haben sicherlich einen Einfluss auf sprachliche Strukturen, aber sie wirken nicht monokausal, sondern sind in sehr komplexen Zusammenhängen zu sehen.

6 Wie gehen Sprachwissenschaftler vor?

Die Sprachwissenschaft ist eine Erfahrungswissenschaft. »An konkreten Sprechereignissen macht der Sprachforscher seine grundlegenden Beobachtungen und fixiert ihr Ergebnis in Erstsätzen der Wissenschaft«, so hat es Karl Bühler (1982: 15) treffend formuliert. Doch wie beobachten wir den Untersuchungsgegenstand ›Sprache‹?

Als kompetente Sprachteilnehmer können wir auf unsere eigene Sprachkompetenz zurückgreifen, man nennt dies die Methode der Introspektion. Und mit dieser Methode kann man eine Menge an interessanten Sprachdaten gewinnen und sie beurteilen. Es gibt aber auch Probleme mit dieser Methode. Sie ist natürlich völlig ungeeignet, wenn man Sprachdaten einer unbekannten Sprache erheben will. Wie schwierig in diesem Fall das Gewinnen von Sprachdaten sein kann, zeigen Untersuchungen zu Indianersprachen oder Aboriginee-Sprachen in Australien. In Australien mit seinen zahlreichen Ureinwohnersprachen ist es zunächst vonseiten des Staates nicht erlaubt, in die Gebiete der Ureinwohner einzudringen. Doch auch mit Erlaubnis ist der Zugang zu fremden Kulturen schwierig, wenn mit der Außenperspektive des Fremden in die Kulturen eingedrungen wird. Welche Schwierigkeiten sich bei der Feldforschung ergeben können, findet sich anekdotisch in einem äußerst lesenswerten Buch von Robert M. W. Dixon, der zahlreiche Arbeiten zum Dyirbal, einer nordostaustralischen Sprache, verfasst hat. Auf der Suche nach Informanten zum Dyirbal berichtet Dixon folgende Geschichte:

Then the old military gentleman cupped his hands to his mouth, put them three inches from Tommy’s ear, and bellowed, »He wants your language.«

»Oh, yes», said Tommy, »that good language. Jirrbal. They speak him all way back to Ravenshoe. All way down to Tully that language.«

»Would you mind if I asked you some?« I enquired.

»Do you know any language?« my translator shouted.

»No more«, replied Tommy, »my brother, he’s the one knows all that language. He know all words for animal, and bird. They never learn me all that. My brother the one all right.«

»Where could I find your brother then?« brought no response.

Again, Tommy’s neighbour come to my aid, whipping out each word like a cannon shot.

»Where. Is. Your. Brother?«

»Oh, my brother«, said Tommy – appearing surprised that we didn’t already know – »He dead. He died ten years ago.« (Dixon 1984: 47–48)

Zum Glück stellen sich solche Probleme kaum, wenn wir das Deutsche untersuchen. Können wir uns aber auf unsere Kompetenz bzgl. unserer eigenen Sprache immer verlassen? Weiß der Linguist bei seiner Muttersprache, was ein grammatisch korrekter Satz ist und was nicht? In einer Anmerkung berichtet Wolfgang Schindler, dass der von ihm diskutierte Hörbeleg dann hat er wirklich das Ziel verfehlt halt – im Gegensatz zu dann hat er halt wirklich das Ziel verfehlt – auf einer Fachtagung von einem bekannten Kollegen mit der Bemerkung kommentiert wurde, »dass manche Leute eben auch mal falsch sprächen« (Schindler 1995: 55, Anm. 2). Schindler bemerkt hierzu: »Der Leser möge beurteilen, ob hier ein Verstoß gegen eine Syntaxregel wie ›Platziere Abtönungspartikeln nur im Mittelfeld‹ vorliegt oder ob gesprochensprachlich bestimmte Abtönungspartikeln ohne Regelverstoß ›nachgeliefert‹ werden können« (ebd.). Hinter der nicht selten vorkommenden Einschätzung, dass das, was von der (welcher?) Norm abweicht, Performanz-, Sprechfehler seien, verbirgt sich ein doppelter Kompetenzbegriff. Zum einen werden ein idealisierter Sprecher und eine idealisierte Sprache zugrunde gelegt, das Reale und Empirische über die Performanz als »Abfalleimer« (Ballmer 1976: 27) der ›idealen Sprache‹ gegenübergestellt, zum anderen wird der kompetente Wissenschaftler dem Alltagssprecher und sprachwissenschaftlichen Laien qua Profession übergeordnet.

Um sicherzustellen, dass die Sprache in ihrer Breite und hinsichtlich bestimmter Phänomene erfasst werden kann, gibt es verschiedene Techniken der Sprachdatenerhebung (Interviews, Tests, teilnehmende Beobachtung usw.), mit denen Sprachkorpora für die Analyse aufgebaut werden können. In den letzten zehn Jahren hat die so genannte Korpuslinguistik, bei der Sprachkorpora systematisch analysiert werden, eine immer stärkere Bedeutung erfahren. Entscheidend ist, dass neben der Kompetenz des Sprachwissenschaftlers und seiner Expertise die Kenntnisse des Sprechers und sein Sprachgebrauch über die Sprachdatenerhebung in die Analyse einfließen und somit die Qualität der Analyse erhöhen.

Es gibt in der Sprachwissenschaft spezielle Erhebungstechniken und eine (und nur eine) davon ist die rasche und anonyme Datenerhebung, die aus zweierlei Gründen von William Labov (1966) in seiner berühmten Kaufhausstudie entwickelt wurde: 1. um möglichst natürliche Sprachdaten zu erheben und 2. um in kürzester Zeit eine große Anzahl von Daten zu gewinnen. Labov hält rasche und anonyme Beobachtungen »für die wichtigste Methode in einem linguistischen Forschungsprogramm, das die von gewöhnlichen Leuten bei ihren alltäglichen Verrichtungen benutzte Sprache zu ihrem wichtigsten Gegenstand macht« (Labov 1980: 48).

William Labov (*4.12.1927 in Rutherford, New Jersey)

William Labov, 1927 in Rutherford geboren, studierte in Harvard und arbeitete zunächst als Chemiker, bevor er sich der Linguistik zuwandte. Seine MA-Arbeit aus dem Jahre 1963, in der er sich mit dem Dialektwandel auf Martha’s Vineyard beschäftigte, wurde ebenso berühmt wie seine Dissertation (1963) zum Englischen in New York City. Er lehrte zunächst an der Columbia University (1964–1970) und anschließend an der University of Pennsylvania.

Verfolgt Labov in seinen ersten Arbeiten dialektologische Fragestellungen, folgt zwischen 1965 und 1968 ein großes Projekt zum Black Englisch, in dem auch pragmatische Aspekte des Sprachgebrauchs verfolgt werden. Die moderne Soziolinguistik und die sog. Variationslinguistik sind wesentlich durch die Arbeiten von Labov geprägt. Immer geht es ihm um sprachliche Variation und Alltagssprache, um Sprache im sozialen Kontext. »In den letzten Jahren hat sich eine linguistische Forschungsrichtung entwickelt«, so beginnt Labov seinen Aufsatz Das Studium der Sprache im sozialen Kontext, »die sich auf den Sprachgebrauch innerhalb der Sprachgemeinschaft konzentriert, wobei das Ziel eine Sprachtheorie ist, die es vermag, diese Gegebenheiten zu erklären. Diese Forschungsrichtung hat man zuweilen als ›Soziolinguistik‹ bezeichnet, obgleich das ein etwas irreführender Gebrauch eines merkwürdig redundanten Begriffs ist. Sprache ist eine Form sozialen Verhaltens« (Labov 1972: 123). Und: »Dieser Aufsatz wird das Studium der Sprachstruktur und Sprachentwicklung innerhalb des sozialen Kontextes der Sprachgemeinschaft behandeln. […] Wenn nicht die Notwendigkeit bestünde, diese Untersuchung gegen das Studium der Sprache außerhalb des sozialen Kontextes abzusetzen, würde ich es vorziehen zu sagen, daß es sich bei ihr ganz einfach um Sprachwissenschaft handelt« (ebd., S. 124).

Bei Labovs Untersuchung ging es um eine phonologische Fragestellung zum New Yorker Englisch im Rahmen der soziolinguistischen Erforschung der sprachlichen Verhältnisse in New York. Es ging ihm speziell um das Vorhandensein oder Fehlen von [r] in postvokalischer Position (car, four) und präkonsonantisch (fourth, card) und darum, wie die verschiedenen r-Aussprachen hinsichtlich sozialer und stilistischer Faktoren, aber auch nach phonetischen Faktoren (Was folgt dem r?) variieren. Seine Ausgangshypothese lautete, dass wenn zwei beliebige Untergruppen von New Yorker Sprechern auf einer Skala der sozialen Schichtung hierarchisch angeordnet sind, sie dann durch den unterschiedlichen Gebrauch des r in derselben Reihenfolge angeordnet sind. Um die sozialen Faktoren zu bestimmen, wählte Labov in einer ersten Pilotstudie drei unterschiedliche Kaufhäuser als Erhebungsorte aus, die in ihrem Rang und Status deutlich divergieren: ein Kaufhaus an der Fifth Avenue mit hohem Prestige (Saks), ein nach Preis und Prestige in der Mitte gelegenes (Macy’s) und ein billiges Kaufhaus (Klein), nicht weit von der Lower East Side. Labov trat nun an Angestellte in der Rolle eines Kunden heran und fragte sie nach einer Abteilung im vierten Stock. Die Antwort erfolgte in einem informellen Stil. Labov fragte anschließend noch einmal nach und erhielt gewöhnlich eine zweite, emphatische Äußerung ›Fourth floor!‹ (formeller Stil). Daraufhin notierte er die sprachlichen Realisierungen, verschiedene Daten zur Person und erfasste so folgende Merkmale: Kaufhaus, Stockwerk innerhalb des Kaufhauses, Geschlecht, Alter (geschätzt in Intervallen von fünf Jahren), Tätigkeit (Verkäufer, Kassierer etc.), Hautfarbe, Akzent. Neben den so ermittelten unabhängigen, außersprachlichen Variablen erhielt Labov den Gebrauch des [r] in vier verschiedenen Positionen: präkonsonantisch, auslautend, informell (zwanglos gesprochen), formell (emphatisch gesprochen). In kürzester Zeit ›interviewte‹ Labov auf diese Weise 264 Personen. Anschließend wurden die Sprachdaten statistisch ausgewertet, es wurde geprüft, ob und inwieweit der r-Gebrauch mit außersprachlichen Faktoren korreliert ist (Kap. 68).

Wie gut die Methode funktioniert, habe ich selbst von Schülern einer 10. Klasse eines Berliner Gymnasiums erfahren können. In einem kleinen Projekt sollten die Schüler das Berlinische untersuchen: Lautstand, Wortschatz, Grammatik. Auf die Frage, wie wir schnell authentische Sprachproben erhalten können, kam eine Gruppe von Schülern auf eine trickreiche Idee, die sie dann auch in die Tat umsetzte. Mit einem kleinen Aufnahmegerät bewaffnet stellten sie sich an Berliner U-Bahnhöfe und fragten Passanten: ›Die BVG plant die Fahrpreise demnächst zu verdoppeln, wie sehen Sie das?‹ Empörte Berliner sagten lautstark in ihrer natürlichen Umgangssprache ihre Meinung. An einem Nachmittag konnten die Schüler zahlreiche Sprachproben erheben, die sie anschließend teilweise verschrifteten und auswerteten.

7 Wer war die erste Professorin für Sprachwissenschaft in Deutschland?

Die Philologin und Sprachwissenschaftlerin Agathe Lasch war die erste Germanistikprofessorin in Deutschland. In seiner Rede vom 1. April 2004 zur Benennung eines Platzes in Berlin-Halensee nach Agathe Lasch sagte der damalige Berliner Baustadtrat Klaus-Dieter Gröhler: »Die meisten werden fragen: Wer war Agathe Lasch? Und ich hoffe, dass diese Platzbenennung dazu anregt, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, denn sie hat uns auch heute noch viel zu sagen, und ihr Schicksal steht für den Teil unserer Geschichte, der nicht in Vergessenheit geraten darf.2«

Am 4. Juli 1879 in Berlin als drittes von fünf Geschwistern einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, wuchs sie in Berlin auf und legte 1906 am Kaiserin-Augusta-Gymnasium in Berlin-Charlottenburg ihr Abitur ab, nachdem sie zuvor das Lehrerinnenseminar besucht und mehrere Jahre an höheren Mädchen- und Fortbildungsschulen unterrichtet hatte. Sie studierte anschließend in Halle und Heidelberg Germanistik und promovierte 1909 bei Wilhelm Braune (1850–1926) mit der Arbeit Geschichte der Schriftsprache in Berlin bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts, die 1910 als Buch erschien. Danach lehrte und forschte sie mehrere Jahre in den USA und erhielt einen Ruf als Associate Professor an die Frauenuniversität Bryn Mawr in Pennsylvania. Dort entstand auch ihre Mittelniederdeutsche Grammatik (1914). Im Herbst 1917 kehrte sie nach Deutschland zurück und habilitierte sich 1919 an der im selben Jahr neu gegründeten Hamburgischen Universität. Am 29. Juni wurde sie dort zum Professor ernannt, 1926 zur Außerordentlichen Professorin für niederdeutsche Philologie berufen. 1928 erschienen die ersten Teile des Mittelniederdeutschen Handwörterbuchs und die bis heute unübertroffene Arbeit zum Berliner Dialekt: Berlinisch. Eine berlinische Sprachgeschichte. Dort heißt es im Vorwort: »Meiner Vaterstadt Berlin haben meine ersten wissenschaftlichen Arbeiten gegolten. Es ist mir eine besondere Freude, daß ich jetzt, auch fern von Berlin, meiner Geburtsstadt meinen Dank und meine Anhänglichkeit beweisen darf« (Lasch 1928: IX). Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde sie am 30. Juni 1934 aus ihrem Amt entlassen, sie erhielt schließlich Publikationsverbot und wurde am 15. August 1942 nach Riga deportiert und vermutlich auf dem Weg dorthin ermordet.


Abb. 2: Agathe Lasch

8 Wer schrieb die erste Grammatik?

Die älteste erhaltene Grammatik verfasste der indische Grammatiker Pāini der vermutlich im frühen 5. Jahrhundert v. Chr. lebte. Er schrieb ein Regelwerk zum Sanskrit, einer historischen indoiranischen Sprache, in erster Linie eine Liturgiesprache im Hinduismus. Der Hauptteil von Pāinis Werk ist das acht Kapitel umfassende Aādhyāyī, in dem Lautregeln, Verbwurzeln und -basen behandelt werden, ebenso komplexe Verbindungen, Wort- und Formenbildungen. Der bekannte Sprachwissenschaftler Leonard Bloomfield (1887–1949) charakterisierte Pāinis Arbeit als »one of the greatest monuments of human intelligence« (Bloomfield 1933: 11).

inis Grammatik wurde von dem Indologen Otto Nicolaus von Böhtlingk (1815–1904) zwischen 1839 und 1840 herausgegeben und hatte für die Indogermanistik und Allgemeine und Vergleichende Sprachforschung eine große Bedeutung. Für die moderne Linguistik hat Pāini nur noch historischen Wert, aber einzelne Begriffe aus seiner Sanskrit-Grammatik sind heute Fachbegriffe.

Sandhi ( sadhi ›Zusammengesetztes‹) bezeichnet einen lautlichen Änderungsprozess, wenn zwei Wörter (Morpheme) aufeinandertreffen. Dem Wort Sandhi selbst liegt ein solcher Prozess zugrunde, es ist zusammengesetzt aus sám (zusammen) + dhi (setzt) → sandhi; der Labiallaut m gleicht sich dem d an, indem der Artikulationsort von d (alveodental) auf m übertragen wird und so aus m der Laut n wird. Ein anderes Phänomen ist das des Tonsandhi, dem man beim Chinesischlernen rasch begegnet. Das Chinesische ist eine Tonsprache (s. Kap. 40). Das Wort n () ›du‹ wird im Fall-Steig-Ton ausgesprochen wie auch das Wort ho () ›gut‹. Nun gibt es eine Regel, die besagt, dass wenn zwei aufeinanderfolgende Silben im Fall-Steig-Ton gesprochen werden, die erste im Steig-Ton gesprochen wird. N ho ›guten Tag‹ wird also ní ho gesprochen, die Folgesilbe beeinflusst die vorangehende Silbe hinsichtlich des Tones. Allerdings wird dies in der Alphabetschrift Pinyin normalerweise nicht angezeigt.


Abb. 3: Sanskrit-Handschrift aus dem 9. Kapitel des 2. Buches Śrīmad-Bhāgavata-Purāņa

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