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33 Vgl. zur Versicherung noch 3.5.

34 Bräuninger, 606ff.

35 AI M. K.

36 Imf VV, 24f.; 190; Imf Kerns, 217f.

37 In Engelberg gab es dafür einen speziellen Ausdruck: «kööschä». Imf MW, 470.

38 AI V. N.

39 Allemann, 285.

40 Interessanterweise wurde entgegen dem eingangs erwähnten äusseren Anschein der Landschaft die Frage in OW eher negativ beantwortet: Von Egoisten, Einzelgängern, Konkurrenten war dort mehr die Rede.

41 Zu den Wegrechten noch Fuchs, 74.

42 Vgl. 3.4.

43 Vgl. 5.4, 6 und 7.3.

44 Mir ist kein weiteres vergleichbares Beispiel bekannt. Eine gewisse Parallele war mit Einschränkungen der Freitagsmarkt im ausserrhodischen Hauptort Herisau. Auch in der lokalen Literatur wurde der Appenzeller Markt noch kaum thematisiert, abgesehen von Inauen J., Heimweiden, 42ff. Sein Entstehen liegt im Dunkeln. Allg. zu den bäuerlichen Märkten Weiss, 123f.; zu OW Hugger, Handbuch, 536ff.

45 Wer keine grösseren Geschäfte zu erledigen hatte, ging oft auch erst nach dem Mittagessen, umgekehrt kehrten nicht allzu weit entfernt Wohnende schon vor diesem nach Hause zurück.

46 Bessere verfügten über einen Tuch- oder Lederrucksack.

47 Auch das Viehinspektorat befand sich in einer Wirtschaft nahe am Viehmarkt, der «Sonne».

48 Ein Trunk besiegelte das Geschäft; es war üblich, dass dabei der Käufer die Zeche übernahm.

49 Schweizerische Variante des bekannten Kartenspiels.

50 AI R. I. Der Mittwoch galt vielfach als Unglückstag, in AI war es jedoch eher der Freitag. ASV 2/141–143, Karten 271ff.; Zihlmann, 317.

51 Zu OW dazu Imf VV, 536ff.

52 Fuchs. Der Autor war gebürtiger Appenzeller und Kapuzinerpater und promovierte mit seiner Arbeit in Volkskunde. Erstaunlich ist, dass er mögliche Zusammenhänge mit der Religion – die in unserer Untersuchung im Vordergrund stehen – kaum je thematisierte. Könnte es sein, dass er sich gerade wegen seines geistlichen Status hier mehr als nötig zurückhielt? Viele Hinweise zur bäuerlichen Tätigkeit auch bei Inauen J., Heimweiden.

53 Zum agro-liturgischen Kalender ausführlich Hersche, 635ff und Abb. S. 350.

54 Dort läutete man zwischen 14 und 16 Uhr den Sonntag ein, was das Zeichen dafür war, die Arbeit nach und nach zu beenden. Altermatt, 271; Zihlmann, 151. Zum Tirol vgl. Wopfner II, 316; III, 24. In III, 92, bringt Wopfner sogar das Beispiel eines Gelöbnisses von Bauern, den Feierabend schon um 13 Uhr zu beginnen. Mit dem auch sonst verbreiteten Brauch hängt der Begriff «Sonnabend» für Samstag zusammen. Vgl. allg. HDA, Lemmata «Abendläuten», «Feierabend», «Samstag». Auch in protestantischen Gegenden war eine frühere Arbeitsniederlegung am Samstag gebräuchlich. BE H. W.

55 Vgl. bes. 6 und 7.1.

56 Die genannten Zeiten hängen natürlich sehr stark von der Anzahl der Tiere ab, deren Bestand in OW offenbar im Schnitt etwas kleiner war.

57 Erst später tränkte man im Stall. Fuchs, 111.

58 Dieselbe Praxis soll im Ausserrhoder Hinterland üblich gewesen sein, allerdings ging man zu diesem Zweck in die Wirtschaft. AR H. H.

59 Zur disziplinierenden Funktion der Milchzentralen vgl. 3.4.

60 Fuchs, 84ff.

61 AI W. F.

62 Vgl. 7.5.

63 Diese Pflegearbeiten begannen schon im Frühjahr. Fuchs, 72.

64 Etwa in OW dem Maikäfersammeln. OW B. D. AI war von dieser früheren Plage kaum betroffen.

65 Die Waldarbeit wird von Fuchs nicht thematisiert. Sie konnte natürlich nur in den paar freien Stunden zwischen den Stallzeiten stattfinden. Das Mittagessen wurde dann, wenn das Waldgrundstück allzu weit entfernt war, vorverlegt oder mitgenommen. In diesem Fall wurden oft auch einige dem Melken vor- oder nachgelagerte Stallarbeiten anderen überlassen, etwa den Söhnen, um die Zeit im Wald besser nutzen zu können. In aller Ruhe konnte man nachher zu Hause, damals selbstverständlich noch ohne Maschinen, das Brennholz herrichten. Nur die Reisigwellen («Pöscheli») musste man im Wald selber binden.

66 AI M. S.

67 Man überliess solche Dinge eher Handwerkern, war wohl auch nicht immer genügend mit Werkzeug ausgerüstet.

68 Die Engelberger Tourismuszentren wurden schon in der Zwischenkriegszeit weitgehend mit Bahnen erschlossen, welche dann auch im Winter einige Arbeitsmöglichkeiten boten.

69 Offenbar mehr in AI als in OW.

70 Denkbar ist vielleicht das Ausleihen von Pferden an Bauern, die mit ihnen umgehen konnten.

71 AI H. K.

72 Auch die Furcht vor Diebstählen mag eine Rolle gespielt haben.

73 Die meisten Strassen waren noch nicht asphaltiert und mussten daher ständig gepflegt werden.

74 Dies war aber etwa im Berner Oberland der Fall. Im Lötschental gab es die Maskenschnitzerei.

75 Zur Stickerei bes. Neff, K. A.; Vogler; Bräuninger, 72ff.

76 Grosser, 495. Die dörfliche weibliche Bevölkerung stickte nur wenig.

77 Deren Herstellung widmeten sich nunmehr die wenigen nach der Krise verbliebenen Stickereiunternehmer bevorzugt.

78 Bilder mit stickenden Frauen im Freien sind gestellt.

79 Eine Frau, die dabei erwischt wurde, musste den Verdienst als Opfer der Kirche abliefern. Vogler, 64.

80 Garovi, 182f.; Furrer, 87.

81 Die vom Schweizerischen Heimatwerk in den 1930er-Jahren unternommenen Versuche, in OW die Handweberei einzuführen, verliefen schliesslich im Sand. Anderswo (Graubünden, Berner Oberland) waren sie erfolgreich. Vgl. zu den Anfängen Laur, 583ff.

82 PB Schlatt 1956.

3 Traditionelle bäuerliche Mentalität und Vorboten des Wandels

3.1 Hochwertung des Bauernstands und Ablehnung des Industrialismus

Eines der wesentlichsten Charakteristika der beiden grossen Konfessionskulturen in der Frühneuzeit ist ihre verschiedene wirtschaftliche Orientierung.1 Die Protestanten (und in gewissem Masse auch die Franzosen) wurden zu Vorreitern der modernen Entwicklungen in Protoindustrie, Manufakturen, Welthandel, Verkehrsinfrastruktur, theoretischer Nationalökonomie, technischen Wissenschaften, Finanzinstrumenten, Versicherungen und so weiter. Die Katholiken, vor allem in Südeuropa, zogen sich, so weit sie sich überhaupt darin betätigt hatten, seit dem frühen 17. Jahrhundert wieder daraus zurück und legten den Primat auf die Landwirtschaft. Sie entwickelten eine eigentliche agrarische Ideologie, die sich in Theorie und Praxis äusserte. In Italien kam es sogar zu Prozessen der Reagrarisierung. Diese für den Katholizismus spezifische agrarfreundliche Einstellung war in unseren beiden Kantonen um 1950 durchaus noch spürbar.

Die Bauern in Appenzell und Obwalden verfügten um 1950 noch über ein gut entwickeltes Selbstbewusstsein. Sinnfällig kam dies in Appenzell jeweils am Mittwochsmarkt zum Ausdruck, wenn die dort Zusammenstehenden nur unwillig die Hauptgasse für ein passierendes Auto frei machten. Ebenso wusste die in Innerrhoden beinahe die Hälfte der Bevölkerung ausmachende Bauernschaft, dass politisch an der Landsgemeinde nichts gegen ihren vereinigten Willen entschieden werden konnte. In Obwalden kam dieses Selbstbewusstsein vielleicht eher indirekt zum Ausdruck: Gemäss dem damals noch herrschenden und allen jungen Schweizern in der Schule vermittelten Geschichtsbild galt die Schweiz in der Vorstellung der Eliten wie des gewöhnlichen Volkes als «Bauernstaat»: Die Eidgenossen, welche 1291 auf dem Rütli den Bund geschlossen und dann heroisch in vielen Schlachten gegen den Adel gekämpft hatten, waren ja Bauern gewesen. Und Obwalden war einer der drei Urkantone, die mit Arnold von Melchtal von Anfang an dabei gewesen waren.

Die Bauern in den beiden Kantonen fühlten sich als tragender Stand, der sich seiner Wichtigkeit für die Gesamtgesellschaft voll bewusst war. Sie sicherten die Ernährung aller anderen und befriedigten damit ein menschliches Grundbedürfnis. Auch in der Fremdeinschätzung durch die Nichtbauern genossen sie in unseren beiden Gebieten ein hohes Ansehen. Nun darf man dabei allerdings den unmittelbaren historischen Hintergrund nicht vergessen: Im Zweiten Weltkrieg, als nur noch limitierte Zufuhren von Lebensmitteln über die Grenze möglich waren, hatten die Bauern grosse Anstrengungen unternommen, die minimale Ernährung des Volkes zu sichern. Die «Anbauschlacht», der berühmte «Plan Wahlen», so problematisch er sich in der Praxis manchmal auch auswirkte,2 war noch in allen Köpfen gegenwärtig und wirkte in der Politik noch eine Zeit lang nach.3 Die Bauern waren nach der Meinung fast aller Interviewpartner wichtig und ihre Arbeit wertvoll. Sie galten als «Könige im Land» und stellten (vorläufig noch) eine der tragenden Säulen der Gesellschaft dar. Gewisse Elemente des bäuerlichen Daseins wirkten prägend auf die übrige Gesellschaft ein. Nur vereinzelt tauchten negative Urteile auf, etwa in jener abschätzigen Bemerkung, dass Dumme, die zu keiner Berufslehre fähig seien, ja immer noch Bauern werden könnten.4 Ein wenig relativiert wurde die Stellung der Bauern ferner durch die bereits erwähnte Feststellung, dass sie eigentlich alle arm seien, was sie aus der Perspektive der dörflichen Oberschicht ja sicherlich auch waren.

Der Hochschätzung des Bäuerlichen entsprach auf der anderen Seite die Geringschätzung, ja Verachtung der anderen Berufe. Handwerker zu sein mochte noch angehen, denn einige von ihnen benötigte man ja selber für gewisse Bedürfnisse und diese Fachleute waren entsprechend wohl gelitten. Ganz unten in der sozialen Pyramide hingegen stand nach der Einschätzung der Voralpenbewohner klar der Industriearbeiter. Er war, weil lohnabhängig und nicht Selbstversorger, der eigentliche «Arme» und daher im Grunde genommen bedauernswerter als ein armer Bauer. Ausserdem war er stets verdächtig, vom gefährlichen Bazillus des Sozialismus infiziert zu sein. In Innerrhoden hatte man ferner die gewaltige Krise der Maschinenstickerei im benachbarten Ausserrhoden nach dem Ersten Weltkrieg noch vor Augen. Damals standen zeitweise 90 Prozent der Maschinen still, die meisten Stickerfamilien gerieten in eine existenzbedrohende Notlage, und Tausende mussten ausserhalb der Heimat ihr Brot zu verdienen suchen.5 Lieber bloss ein wenig Land und ein paar Kühe darauf als eine solche Krisenexistenz: Das war, wie die Reiseberichte zeigen, schon immer die Devise der Innerrhoder gewesen, und hatte der von Ausserrhoden gelegentlich herüber schwappenden Industrialisierung stets Grenzen gesetzt.6 Deren Ablehnung durch die Bauern korrespondierte mit der Industriefeindlichkeit der dörflichen Elite, welche ihr Kapital lieber in Boden und Schuldbriefen anlegte, als in ein unsicheres Gewerbe zu investieren.

In Obwalden war diese industriekritische Grundstimmung zwar ebenfalls vorhanden, allerdings etwas weniger ausgeprägt und weniger von Bauernstolz getragen als in Appenzell. Man hatte ja selber einige Fabriken im Land, vor allem des holzverarbeitenden Gewerbes.7 Gegen die Aufnahme von Fabrikarbeit in grösserem Umfang wurden hier vor allem praktische Gründe vorgebracht, nämlich in erster Linie die zu grosse Distanz zu auswärtigen Industriebetrieben, etwa von Sarnen in Richtung Luzern, die ohne eigenes Auto nicht gut zu bewältigen gewesen wäre. Weiter wurden mangelnde Ausbildung und ein gewisses politisch bedingtes Misstrauen erwähnt.8 Die Angst vor dem Sozialismus bestimmte sicherlich auch hier die Eliten in ihrer reservierten Haltung gegenüber dem industriellen Fortschritt. Ein Beispiel für die Ablehnung eines Industriebetriebes, der nicht mit heimischen Rohstoffen arbeitete, sind die 1939 gegründeten Pilatus-Flugzeugwerke. Sie sollten eigentlich in Alpnach entstehen, doch wurde kein Bauland zur Verfügung gestellt, sodass die Initianten die Fabrik im benachbarten Nidwalden errichteten.9

Man wollte also in unserem Untersuchungsgebiet wenn immer möglich Bauer sein und bleiben.10 Doch diesem allgemeinen Wunsch stellte sich bei vielen Familien ein gewichtiges Hindernis entgegen, das wiederum mit dem Kinderreichtum zusammenhängt und letzten Endes zu einem unauflösbaren Widerspruch im herrschenden katholischen Wertekanon führte. In aller Regel konnte nur ein Sohn den Hof übernehmen. Für die anderen war eine Einheirat in eine Bauernfamilie, welche bloss Töchter hatte, die grösste Chance. Reiche Grossbauern konnten vielleicht einem nichterbenden Sohn eine verschuldete Liegenschaft ohne eigene Zukunft kaufen. Eine Teilung der meist kleinen Besitzungen hätte die Existenz in Frage gestellt und kam daher kaum vor. Dass ledig gebliebene Brüder beim Erben des elterlichen Hofes mitarbeiteten, kam immer wieder vor, doch waren dieser Tätigkeit wegen der Grösse der Betriebe ebenfalls deutlichere Grenzen gesetzt als beim Ackerbau im Mittelland. Oder die Mitarbeit war, etwa bei Betrieben mit grösseren Alpen, saisonal beschränkt und machte deshalb im Winter die Nebenbeschäftigung in anderen Bereichen notwendig.

Welche Berufe ergriffen jene Söhne, die keinen eigenen Hof übernehmen konnten? Die Antworten auf diese Frage entsprechen dem bereits Gesagten und bezeugen einmal mehr die Skepsis gegenüber der Industrie. In eine Fabrik zu gehen, war für nichterbende Söhne in jedem Fall die letzte Möglichkeit, fast vergleichbar mit einem Gefängnisaufenthalt. Zu ihr griff man höchstens aus Verzweiflung, wenn alles andere scheiterte. Glücklich waren jene Bauernsöhne, welche in der Heimat oder auch auswärts eine Pacht übernehmen konnten. So konnte man, wenn auch ohne totale Sicherheit, völlig im angestammten Metier bleiben. Die Alternative dazu war eine Stelle als Bauernknecht in einem der grösseren landwirtschaftlichen Betriebe der angrenzenden mittelländischen Kantone, für Appenzeller also St. Gallen oder Thurgau, für Obwaldner Luzern. Diese Möglichkeit wurde sehr häufig genannt. Zuverlässige, aufmerksame und arbeitsame («schaffige») Knechte waren gesucht und verdienten dann vielfach nicht schlecht. Bei längerer Anstellung bot sich im Glücksfall die Gelegenheit, den Hof übernehmen zu können, für viele wohl die Erfüllung eines Lebenstraums. Im Grunde genommen war der Dienst als Knecht auswärts eine alte Tradition, die früher noch einen viel weiteren geografischen Radius umfasst hatte. Schon im 19. Jahrhundert waren viele dieser Bauernsöhne nach Deutschland, bis weit in den Norden und Osten, gezogen, und hatten dort als sogenannte «Oberschweizer» die Milchgewinnung und -verarbeitung auf den vergleichsweise riesigen Domänen organisiert.11 Nicht wenige waren dabei reich geworden und konnten dann in der Heimat einen ruhigen Lebensabend verbringen. Diese Möglichkeiten waren nun allerdings schon seit längerer Zeit versperrt, und massenhafte Auswanderung, wie im 19. Jahrhundert, kam nicht mehr vor.

Zweite Wahl waren Berufe, die eine gewisse Verwandtschaft zur Landwirtschaft aufwiesen oder bei denen man wenigstens im Freien arbeiten konnte. Das waren zunächst Förster und Käser, auch der Sägeroder Zimmermannsberuf, eher weniger andere Tätigkeiten auf dem Bau.12 In Obwalden absorbierte das holzverarbeitende Gewerbe viele Bauernsöhne. Auch bei der Bahn, die damals für den Geleiseunterhalt, die Güterabfertigung und den Rangierdienst noch viele kräftige Hände brauchte, arbeiteten verhältnismässig viele von ihnen. Andere wurden Briefträger oder Strassenarbeiter. Auch der Tourismus bot einige wenige, zum Teil interessante Arbeitsmöglichkeiten (Bergwirtschaften, Sportbahnen, Hotels). Eine Handwerkerlehre blieb weniger gut gestellten Kindern damals generell versagt, weil dies in der Regel einen finanziellen Aufwand bedeutete, den nicht alle ohne weiteres erbringen konnten und Bauernfamilien vielleicht auch nicht wollten. Das gleiche gilt für ein Studium, wobei praktisch nur die Theologie in Frage kam. Unter ihren zahlreichen Kindern eines dem geistlichen Stand widmen zu können, war sicherlich der Wunsch vieler frommer Mütter. Aber auch hier gab es finanzielle Probleme: Sehr viele Bauernsöhne, die später als Pfarrer und Kapläne wirkten, hatten sich das Geld für ihr Studium zusammenbetteln müssen.13 Einfacher war der Eintritt als Laienbruder in den Kapuzinerorden. Für Büroberufe oder die Tätigkeit als Lehrer interessierten sich Bauernsöhne weniger. Es gab allerdings zunehmend solche, die als Arbeiter, aber auch in anderen Berufen, definitiv in die Stadt zogen, in der Anonymität landeten und damit, wie ein Pfarrer bemerkte, schlechten Einflüssen erlagen, womöglich noch eine Mischehe eingingen und sich so der angestammten Religion entfremdeten.14 Doch dieses Problem hatte sich die Kirche mit ihrer negativen Stellung zur Geburtenregelung selber eingebrockt.

3.2 Arbeitsethik zwischen Freiheit und sozialer Kontrolle

Der Berufsalltag des Bauern war anstrengend und schweisstreibend, im Sommer lang und wegen der täglichen Stallarbeit auch kaum weniger zeitgebunden als ein Fabriktag. Gleichzeitig aber war der Stand des Bauern sozial hoch bewertet und wurde von vielen, die keinen Hof erben konnten, als Traumziel angestrebt. Wie war das Verhältnis der Bauern zur Arbeit? War sie bloss eine Last, unabänderliches Schicksal, gemäss der Bibel herrührend von Adams leidigem Fall? Oder verschaffte sie auch Freude und Befriedigung? Praktisch alle Interviewpartner waren der letzteren Auffassung und meinten, man habe trotz allen Anstrengungen gerne und deshalb, wo nötig, auch viel gearbeitet. Die Notwendigkeit der Arbeit, die Tatsache, dass man arbeiten musste, wurde kaum hinterfragt. Einige sahen Arbeitseifer als unabdingbar für den Erfolg an; ohne ständige und gute Arbeit würde der Betrieb sehr bald Rückschläge erleiden. Das ging bis zu kategorischen Aussagen, wie «Wenn einer die Arbeit als Belastung empfunden hätte, so wäre er kein guter Bauer gewesen»15 oder «Wenn ein Bauer keine Freude an der Arbeit hat, dann ist er kein Bauer».16 Gelegentliche innerfamiliäre Spannungen oder Erschöpfungszustände etwa während der belastenden Zeit des Heuens waren kein Grund, auf Dauer die Freude an der bäuerlichen Arbeit zu verlieren.

Gründe für diese positive Bewertung der eigenen Arbeit gab es viele. Der erste ist sicher die Selbständigkeit. Zwar war man, wie jeder wusste, als Landwirt stark von den Launen der Natur, insbesondere vom wechselnden Wetter, abhängig. Aber lange Erfahrung lehrte, mit diesen zuweilen widrigen Umständen so gut als möglich umzugehen, und letztlich nahm man diese Imponderabilien doch lieber hin als die Willkür eines Fabrikherrn, der einen Knall auf Fall entlassen und damit brotlos machen konnte. Eigene Lebensmittel- und Energieversorgung verschaffte ein Gefühl der Sicherheit. Auch wenn es grundsätzlich viele Zwänge, in erster Linie die zweimal täglich wiederkehrende Stallarbeit und die saisonalen Arbeitsspitzen gab, so hatte doch der Bauer gewisse Freiheiten, wie er seine Tätigkeit im Einzelnen gestaltete und wie er die Zeit genau einteilte, welche Schwerpunkte er setzte und was ihm eher vernachlässigbar schien. Der zweite Grund ist wohl die Sichtbarkeit des Arbeitsresultats, etwas, was dem Fabrikarbeiter, vor allem in grösseren Betrieben mit weitgehender Arbeitsteilung, abging. Der wohlgefüllte Heustock, die schön geformte Kuh, die vollen Milchkannen und die von Obst überquellenden Körbe: Das Produkt der eigenen Arbeit lag einem Landwirt vor Augen, und er verfügte selber und allein darüber. Allgemeiner Stolz auf das vollendete Werk und Zufriedenheit mit der eigenen Leistung waren sicherlich eine hohe Arbeitsmotivation. Dazu kam die Anerkennung (und wohl auch der Neid) von Anderen, Bauern und Nichtbauern. Ferner war das Arbeitsjahr nicht eintönig wie in der Fabrik, sondern saisonal bedingt abwechslungsreich. Es gab dabei zweifelsohne auch Tiefpunkte: langanhaltendes zu trockenes oder nasses Wetter, oder aber Viehseuchen und Unglücksfälle und dergleichen; andererseits aber auch Höhepunkte, Momente der Freude: die Geburt eines gesunden Kalbes, der jährliche Alpsommer, überreiche Ernten, eine Auszeichnung bei der Viehschau, ein geglückter Verkauf oder die traditionellen bäuerlichen Feste. Die Befriedigung, selber die Kinder zu einer sinnvollen Tätigkeit hinführen zu können, wurde in den Interviews ebenfalls erwähnt. Auch die Handarbeit wurde trotz der daraus resultierenden Körperbeanspruchung im Allgemeinen positiv bewertet, wenngleich die ersten, noch einfachen Maschinen als Entlastung von Schwerarbeit durchaus begrüsst wurden. Die spätere Entwicklung zur Vollmechanisierung hingegen wurde von einigen Befragten ziemlich skeptisch beurteilt. Sie hätte zuletzt nur mehr Stress und Hetze gebracht und den Bauern zum Sklaven der Maschine gemacht: «Man muss den Maschinen nachrennen wie ein Verrückter.»17

Bei der Einstellung zur Arbeit waren alle diese Motivationen sicher nicht nur bei den katholischen, sondern auch bei den meisten protestantischen Bauern vorhanden. Dennoch gibt es kleine Unterschiede. Auf sie hat bekanntlich zuerst Max Weber in seiner bekannten und viel diskutierten Publikation zur «Protestantischen Ethik» aufmerksam gemacht.18 Die von ihm bei den Protestanten gefundene religiöse Überhöhung der Arbeit findet sich in der Tat bei unseren katholischen Bauern trotz den erwähnten positiven Urteilen nicht: Keine Aussage ging in diese Richtung, was natürlich nicht heisst, dass sich die Interviewten keine entsprechenden Überlegungen gemacht hätten. Die wenigen Bemerkungen aus dem protestantischen Raum scheinen hingegen Webers These zu bestätigen.19 Die Arbeit war im Protestantismus, so hatte es schon Luther formuliert, Gottesdienst und eigentlich gleichbedeutend mit dem Gebet – in Appenzell oder Obwalden hätte man dabei wohl eher Andachten und den Rosenkranz im Sinn gehabt. Das Leben war für den Protestanten in erster Linie Arbeit, diese stiftete Lebensinhalt und Sinn. Man arbeitete daher auch, wenn man eigentlich keinen Anlass mehr dazu hatte. Zeitverschwendung wäre eine Sünde gewesen.20

Den Kontrapunkt zur protestantischen Arbeitsethik formulierte ein Innerrhoder etwas drastisch mit der Bemerkung, die «Überwerker», die daran gestorben wären, seien seinerzeit für die grössten Narren gehalten worden.21 Es scheint also, worauf bereits verschiedentlich hingewiesen werden konnte, im katholischen Raum in der Tat noch in grösserem Ausmass religiös-brauchtümlich bestimmte Mussezeiten gegeben zu haben. Die Mussepräferenz der Hirtenvölker ist eine Vorstellung, die bis auf das arkadische Ideal der Antike zurückgeht und dann von den Reiseschriftstellern des späten 18. und des 19. Jahrhunderts in topischer Form aufgenommen, weitergetragen und gerade auf das katholische Europa als negatives Stereotyp projiziert wurde. Allein für Innerrhoden gibt es dazu zahlreiche Hinweise, gipfelnd in den Vorwürfen der «Trägheit», der «Arbeitsscheu» und des «mangelnden Fleisses».22 Der «faule Katholik» war seit der Aufklärung innerhalb der protestantischen Eliten ein feststehender Topos. Er war aber, wie auch unsere Nachfragen residuell noch zeigen konnten, nicht ganz aus der Luft gegriffen, sondern fand in der Realität eine gewisse Stütze, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

Zu diesem Vorwurf hinzu kam noch eine ebenfalls in der Tradition verhaftete Abwertung der bäuerlichen Arbeit überhaupt. Das Bildungsbürgertum der Moderne hatte die jahrhundertealte Bauernverachtung des Adels weitgehend übernommen. Die Arbeit in der Industrie, gar nicht zu reden von derjenigen in Büros und Studierstuben – mithin einer Produktionsweise, deren Protagonisten ja zuerst und zum allergrössten Teil protestantische bürgerliche Unternehmer waren –, bedeutete eine fortgeschrittenere und höher entwickelte Stufe der Ökonomie als die schmutzige Tätigkeit des Bauern, insbesondere die des Viehhalters, der umgeben von Kot und üblen Gerüchen seinem Beruf nachging. Auch der Arbeiter, so ausgebeutet und geradezu versklavt er zunächst auch war, konnte wenigstens auf einen noch Niedrigeren, nämlich den Bauern, hinabblicken: Von sozialistischen Ideen durchtränkt und religiös vielfach ein Atheist, sah ein Industriearbeiter wie seine Führer im Bauern bloss noch den Produzenten der notwendigen Lebensmittel, die er zu möglichst billigen Preisen liefern sollte.

Unabhängig von der Konfession ist nun allerdings noch auf eine weitere Motivation einzugehen, die ebenfalls arbeitstreibend wirken konnte, nämlich die soziale Kontrolle durch die Nachbarn, ja das ganze Dorf. Fleissige und gute Arbeit verschafften soziale Reputation. Im Umkehrschluss zogen Nachlässigkeit und Faulheit, wenn gutes Zureden, wohlwollende Kritik und nützliche Ratschläge nichts mehr ausrichteten, Ablehnung und Verachtung durch die Mitwelt, im Extremfall Sanktionen durch die Gewalthaber nach sich. Bisweilen gab es ganz konkrete Gründe, weshalb man ein solches Verhalten nicht dulden wollte und konnte: Bekämpfte ein unmittelbarer Nachbar die Blacken nicht, so riskierte man, dass sie sich schnell auf der eigenen Weide ausbreiteten. Verweigerte er landesübliche Hilfeleistungen, so sah man nicht ein, weshalb man selber Gegenrecht halten sollte.

In welchem Ausmass gab es solche Leute, und wie stellte man sich ihnen gegenüber? Die Frage wurde zunächst vielfach kaum verstanden: Angesichts der allgemeinen Knappheit, der mageren Ressourcen und der verbreiteten Armut hätte es sich niemand leisten können, die Arbeit nachlässig zu verrichten und übermässig die Musse zu pflegen – es hätte die Existenz bedroht. Auf weiteres Nachfragen hin wurden dann allerdings vielfach doch einige persönlich bekannte Beispiele genannt, relativiert durch die Feststellung, es seien dies aber seltene Fälle gewesen und es habe auch das Gegenteil gegeben, eben die genannten «Überwerker», welche keinen Moment ohne Arbeit sein konnten. Ferner wurde gelegentlich hinzugefügt, dass man es allgemein etwas gemächlicher als in späteren Zeiten genommen habe.23 Vier Kategorien von Aussenseitern schälten sich schliesslich am Ende heraus. Da gab es welche, die es bei ihrer Tätigkeit zweifellos gemütlicher als der Durchschnitt nahmen, aber trotzdem jeweils einigermassen rechtzeitig damit fertig wurden und kaum schlechtere Erträge erzielten als andere. Darüber verwunderte man sich und fragte sich, wie das möglich sei. An Zauberkräfte und hilfreiche Zwerge glaubte zwar niemand mehr. Aber vielleicht boten aussergewöhnliche Geschicklichkeit oder die (möglicherweise etwas versteckte) mehr als landesübliche Mithilfe der Ehefrau eine Erklärung. Eine zweite Gruppe dieser «Lebenskünstler», wie sie vereinzelt bezeichnet wurden, nahm es ebenfalls gemütlich, wies aber im Gegensatz zur ersten doch sichtbare Leistungsdefizite auf, die der Mehrheit eigentlich nicht mehr akzeptierbar schienen. Es waren die «Minimalisten», die mit wenig zufrieden waren. Aber sie kompensierten diesen Mangel durch andere Fähigkeiten, welche sie beliebt machten und ihnen sogar ein zusätzliches Einkommen verschaffen konnten. Als typisches Beispiel wurden Bauern als nebenberufliche Tanzmusiker genannt, die jeweils an den verschiedenen Festen aufspielten. Aber auch ausserordentliche technische Begabung, allgemein geübte Herzensgüte oder (in Appenzell) das Talent, gute Witze erfinden zu können und so weiter, liess Kritik an diesen speziellen Figuren verstummen. Eine dritte Gruppe bildeten diejenigen, die nicht auf einen grünen Zweig kamen, weil sie einfach zu ungeschickt waren, da ihnen fast alle Fähigkeiten zu einem guten Bauern abgingen, sie infolgedessen intellektuell oder körperlich von der Arbeit überfordert wurden und daher oft resignierten. Man konnte ihnen gute Ratschläge geben, aber meist blieben diese ohne erkennbare Wirkung. Solche Dorfgenossen wurden eher bedauert; manchmal wechselten sie dann wirklich nach einiger Zeit in einen anderen Beruf, überliessen die Landwirtschaft der Frau oder einem Bruder oder übten sie nur noch nebenher aus. Das allgemeine Gerede bis zur vollen Verachtung traf die vierte Gruppe. Es waren die wirklich Liederlichen: Besonders Trinker, die ständig in der Wirtschaft hockten, dort jassten und jeweils als Letzte von Festen nach Hause kamen, im Betrieb vor allem die Frau und die Kinder arbeiten liessen, selber nur das Notwendigste taten und vieles liegen liessen, sogar das liebe Vieh vernachlässigten, sowie in und um den Hof überhaupt nicht Ordnung hielten, wie jeder Vorübergehende ja leicht erkennen konnte. Kurz die «Luftibusse», «Lotschli», «Zattli», «Säuniggel» und wie alle die prägnanten dialektalen Ausdrücke dafür lauteten. Hierfür gab es im Urteil der Anderen keine Entschuldigungen.24

Was alle vier geschilderten Gruppen eint, ist die relativ grosse Toleranz der Gesellschaft gegenüber den Aussenseitern. Selbst bei der vierten Gruppe, die nicht auf allgemeines Verständnis stiess und bei der man höchstens die darunter leidenden Angehörigen bedauerte, kam es kaum zu Interventionen der Behörden. Sie schritten erst bei kriminellem Verhalten ein. Ermahnungen durch Geistliche, die oft bei der jährlichen Haussegnung mit diesen Zuständen konfrontiert oder durch besorgte Nachbarn darüber informiert wurden,25 sind sicher vorgekommen, aber nicht dokumentiert. Dass die Toleranz gegenüber Aussenseitern in der katholischen Schweiz etwas grösser als in der protestantischen war, kann nach unseren Recherchen wenigstens vermutet, wenn auch nicht stringent bewiesen werden. Als Gründe dafür können die traditionelle Mussepräferenz, die schwächere und später erfolgte Disziplinierung des Einzelnen, die weniger rigorose religiöse Ethik und der noch bescheidenere staatliche Apparat genannt werden.

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