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7

Neonblau. Giftgrün. Latzhosenlila. Wo waren die orangefarbenen? Mit Schwung riss er die zweitoberste Schreibtischschublade auf, so dass sie krachend in die Arretierung schlug und die lose in ihr verstreuten Gegenstände nach vorne gekullert kamen. Da war sie, die orangefarbene Dose, aber sie war leer, das konnte Stahnke schon am Klang erkennen. Ärgerlich warf er die Lade wieder zu.

Neonblau, giftgrün oder latzhosenlila? Die grünen waren erfahrungsgemäß am besten geeignet, seine Stimme wieder aus dem Weinkeller hervorzulocken, in dem sie sich irgendwann im Laufe der vergangenen Nacht verkrochen hatte. Eukalyptus. Die aber schlugen ihm auf den vom Weingenuss überreizten Magen, auch darüber gab es gesicherte Erfahrungswerte, und um seinen Magen stand es ohnehin wieder einmal nicht zum Besten.

Brubbelnde Geräusche erschütterten sein Gekröse, und was da ein ums andere Mal mit mühsam unterdrückter Geräuschentwicklung nach oben gestiegen kam, schien konzentrierte Salzsäure zu sein, wie Sumpfwasser durchsetzt mit Blasen aus Faulgas. Nein, keine Giftgrünen. Auch keine Neonblauen. Menthol linderte zwar, half aber nicht wirklich und brannte mindestens ebenso schlimm wie Eukalyptus. Orange wäre ein guter Kompromiss gewesen. Orange aber war alle. Und die Lila mochte er nicht.

Warum hatte er sie dann gekauft, wenn er sie doch nicht mochte? Er wusste es nicht. Grübelnd hockte er da, starrte vor sich hin und unterdrückte einen weiteren Säuregeysir. Old Faithful, ach ja. Ob er doch mal eins von diesen lila Johannisbeerdingern versuchen sollte? Jeden Moment konnte das Telefon klingeln, dann brauchte er wenigstens so etwas Ähnliches wie eine Stimme.

Stahnke räusperte sich. Ein wohlgenährter Rülpser nutzte die Gelegenheit zu einem Ausfall aus dem Hinterhalt. Die Eruption klang wie ein Kanonenschlag.

Oberkommissar Kramer stand im Türrahmen wie hingezaubert, und Stahnke glaubte ihn durch verwehenden Pulverdampf hindurch zu erblicken. Gedankenverloren wedelte er mit der Hand vor seiner Nase herum. Kramer blieb existent, und seine Konturen wurden nach und nach deutlicher. Beamvorgang erfolgreich abgeschlossen, vielen Dank, Scotty.

»Morgen, Chef.« Ach, das war das Schöne an Kramer. Niemals grüßte er aufgekratzt, niemals missmutig, auf seinen angenehm neutralen Tonfall war Verlass, da konnte es stürmen oder schneien, da konnte das Polizeigebäude brennen oder der eigene Chef rülpsen wie der Krakatau. Sollte Kramer einmal groß im Lotto gewinnen, ihm würde man es gewiss nicht anmerken. Oder hatte er schon? Wer konnte es sagen?

»Sind Sie reich, Kramer?«, krächzte Stahnke.

»Nein, Chef«, sagte Kramer und verschwand im Nebenzimmer.

»Aber für einen Kaffee wird’s doch reichen.«

»Kaffee immer, Chef.« Inge hatte Urlaub, eine Vertretung gab es nicht, und weil niemand außer Inge jemals daran dachte, Kaffeepulver für die Maschine zu kaufen, blieb nur noch der Automat. Beim Gedanken an das bittere Zeug in den Plastikbechern, von denen es sich auch farblich kaum unterschied, krampfte sich Stahnkes Magen bedrohlich zusammen.

Aber etwas Warmes trinken musste er jetzt unbedingt, der Kehle wegen. Warum konnte man eigentlich nicht zwischen Speiseröhre und Magen eine Weiche einbauen und das Zeug einfach ableiten, nachdem es in Hals und Rachen seine Wärme verströmt hatte? So etwas hätte er letzte Nacht schon gut brauchen können, für den Wein. Jedenfalls für die zweite Halbzeit.

Kramer stellte den dampfenden Kaffeebecher vor ihn hin, und er trank. Erst tat es gut, dann tat es weh. Wie erwartet. Wie kochendes Wasser auf eine offene Wunde. Wie immer.

»Was liegt an heute?«, fragte er, nachdem der krampfartige Schmerz abgeklungen war.

»Unser Kung-Fu-Meister«, antwortete Kramer. »Sie wissen schon, dieser Karatekämpfer mit Knobelbechern. Letzte Nacht aufgegriffen, als er zu seiner Freundin wollte. Genau wie vermutet. Hat kaum Widerstand geleistet.«

»Geständig?«

»Nicht wirklich. Sollte aber eigentlich kein Problem darstellen«, sagte Kramer.

Nein, das sollte es in der Tat nicht. Jan-Habbo Janssen war ein kleines Licht, selbst nach den dürftigen Maßstäben der Leeraner Neonaziszene. Dicke Arme, aber ebenso viel Verstand wie Haare. Einer, der sich schicken ließ, weil ihm selber nichts einfiel. Was ihm schon mehrere Verurteilungen wegen Einbruchs und Körperverletzung eingetragen hatte. Jan-Habbos Bewährungstage waren längst vorbei.

»Und sonst?«

»Einer von uns wird auf die Insel müssen«, sagte Kramer.

Stahnkes Magen krampfte sich erneut zusammen. Ganz automatisch musste er bei Insel an Wasserleiche denken, und Wasserleichen waren nicht gerade ein Hobby von ihm. Aber so schlimm musste es nicht gleich kommen. Obwohl es zu diesem Morgen passen würde.

»Borkum? Was gibt’s da?«

Kramer wedelte mit einem Fax: »Angeschwemmte Wasserleiche.«

»Na prima.« Stahnke zerdrückte einen weiteren Aufstoßer zwischen den Zähnen, zerbiss ihn fast bis zur Unkenntlichkeit. Fast. Hatte sich Kramers linke Augenbraue nicht um einen Millimeter gehoben? Schwer zu sagen. Gewöhnlich ließ sich Kramer niemals auch nur irgendetwas anmerken, schon gar keine Kritik an seinem direkten Vorgesetzten. Dabei gab es genug zu kritisieren, das war Stahnke klar, und gerade das machte ihn immer wieder wütend und verleitete ihn zu ungerechten Grobheiten, die er meistens schon bereute, ehe die Worte noch ganz ausgesprochen waren. So rutschte er immer tiefer in die Schuld seines Assistenten, dessen Tüchtigkeit nur noch von seiner Loyalität übertroffen wurde.

»Ein älterer Herr von 70 oder 75 Jahren.« Kramer strich sich mit der rechten Hand über sein glatt rasiertes Kinn, während er das Inselfax studierte. »Anzug und Schuhe, keine Papiere, kein Portemonnaie. Allem Anschein nach kein Badegast, jedenfalls ist auf Borkum keiner abgängig.«

Auch kein Wassersportler, bei der Kleidung. Also vermutlich ein Passagier von einer der Fähren, überlegte Stahnke. Unerfahren, unvorsichtig, unbemerkt über Bord. Ein Alleinreisender, deshalb nicht sofort vermisst, aber das würde schon noch kommen. Vielleicht lag eine entsprechende Anzeige ja schon irgendwo vor, und man musste nur eins und eins zusammenzählen. Wie auch immer, zunächst einmal musste man sich kümmern.

Wie lange der wohl im Wasser gelegen hatte? Ein wichtiger Faktor für die Entscheidung, wer von ihnen auf die Insel fahren würde. Stand sicher auch auf dem Fax. Das er sich natürlich längst selber hätte holen können, schließlich war er ja vor Kramer im Büro gewesen. Jetzt aber hatte der es, und Stahnke musste fragen.

Gerade hatte er den Mund geöffnet, als die Tür in einer Weise aufplatzte, dass er den Luftzug am Zäpfchen zu spüren glaubte. Eine büffelbreite, schwarzlockige Gestalt, bekleidet mit einem perfekt sitzenden grauen Anzug und geschmückt mit einem extrabreiten Grinsen, stürmte ins Zimmer, schnell genug, um der vom Gummistopper zurückprallenden Tür zu entgehen. Mit langen Schritten eilte der Mann auf Stahnkes Schreibtisch zu, als wollte er eine Schneise hineinwalzen, stoppte aber ein paar Zentimeter davor ab, streckte zwei lange Arme aus und stemmte zwei haarige Fäuste auf die Tischplatte. »Genug gestaunt«, dröhnte eine unverschämt muntere Stimme. »Sie können den Mund wieder zumachen, Stahnke. Das Reden übernehme jetzt sowieso ich.«

Hätte ich mir ja denken können, dachte Stahnke und wünschte sich plötzlich sehnlichst auf die Insel, Wasserleiche hin oder her. Und wenn’s ein verwesender Wal wäre.

»Habe Sie gar nicht klopfen hören, Herr Zimmermann«, sagte er leise. »Und Sie dürfen mich auch gerne Herr Stahnke nennen.«

»Weiß ich doch, weiß ich doch, Herr Hauptkommissar«, dröhnte der Rechtsanwalt. »Hier geht’s aber nicht ums Dürfen, hier geht es ums Müssen. Und ehe Sie mich zur Toilette schicken: Ich meine nicht die menschliche Notdurft, ich meine das deutsche Recht. Nicht wahr? Alles zu seiner Zeit.« Er lachte kehlig. Die Schreibtischplatte unter seinen Fäusten begann leicht zu beben.

Wäre Stahnke an diesem Morgen nur etwas wacher gewesen, ihm wäre schon bei der ersten Erwähnung von Jan-Habbo Janssen klar gewesen, was ihm da bevorstand. Jeder Rechtsgestrickte in dieser Region, der irgendwelche Probleme hatte, sei es mit Argumenten oder mit dem Gesetz, kam sofort zu Helmut Zimmermann gerannt. Jeder, vom Dunkelschwarzen bis zum Kinderkackebraunen, ob er nun Kampfstiefel zur Tarnhose trug oder Lackschuhe zur Bügelfalte oder die Hosen ganz einfach nur voll hatte, weil er die Welt nicht verstand und deshalb Angst vor ihr hatte, Angst vor allem und jedem und vor den Ausländern ganz besonders. Sie alle hatten diesen Zimmermann zu ihrer Ikone gekürt, zu ihrem Wortführer. Mindestens.

Und der genoss es. Zimmermann maß seine eigene Lebensqualität in Aufmerksamkeitseinheiten, ganz egal mit welchen Vorzeichen. Angebetet oder angebrüllt zu werden, das war für ihn praktisch eins. Politik bestand für ihn aus Provokation und Anbiederung. Immer abwechselnd, wie es gerade passte. Ein Eiertanz der Instinkte, den er traumwandlerisch sicher beherrschte.

Was in seinem Kopf wirklich vorging, war umstritten; womöglich war er rein zufällig auf dem rechten Flügel gelandet, quasi als populistischer Stimmungsindikator der Anziehungskraft der Stammtische folgend. Machte das einen Unterschied? Zufallsärsche sind auch Ärsche, pflegte Stahnke zu sagen, wenn die Rede auf Zimmermann kam. Was im Leeraner Polizeigebäude recht häufig geschah. Aber so einfach war es natürlich auch wieder nicht.

»Wenn Sie so dringend eine Stütze brauchen, dann sollten wir vielleicht mal Ihre Zulassung überprüfen«, sagte Stahnke und wedelte mit der rechten Hand, wie um eine lästige Fliege zu verscheuchen. »Darüber hi­naus wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie Ihre Ankündigung jetzt mal wahrmachen würden. Reden Sie. Aber sagen Sie auch was.«

Schnaufend richtete Zimmermann sich auf, das Grinsen tief in die erstarrende Mundpartie eingemeißelt. Er war noch einige Zentimeter größer als Stahnke, der auch schon etwas über einen Meter 80 maß, ebenso breit in den Schultern und fast genauso massig. Aber er war fitter als der Hauptkommissar, Stahnke wusste das, und man konnte es auch sehen. Zimmermann war Sportler von Kindesbeinen an, war viele Jahre Fußballer und danach Schiedsrichter gewesen und ließ auch heute noch kaum ein Sportfest aus; vermutlich war das die Basis seiner Popularität. Stahnkes Sportlertage dagegen waren längst Geschichte, und zwar ungeschriebene.

Gut so, dachte Stahnke, als Zimmermann gerade zum Reden ansetzte und im selben Moment das Telefon klingelte. Geschieht ihm recht. Schnell nahm er mit der linken Hand den Hörer ab, führte ihn zum Ohr und grinste Zimmermann scheinheilig zu, während er mit der flach erhobenen Rechten die Geste des Abstoppens machte: Moment, mein Lieber, erst die wichtigen Dinge.

Es war Kramer; neckische Idee, aus dem Nebenzimmer anzurufen. »Neues Fax, Chef. Dürfte Sie interessieren.«

Stahnke schwieg. Ohne Frage keine Antwort – das machte Kramer mit ihm auch immer so.

»Krüger, Chef. Doktor Wendelin Krüger.«

Stahnke fixierte Zimmermann, dessen zahnreiches Lächeln nun doch zu schwächeln begann. Ob er es schaffte, ihn mal so richtig wütend zu machen? Eine echte Herausforderung, denn Zimmermann war in zahllosen kommunalparlamentarischen Debatten erprobt, und gewöhnlich war er es, der die anderen wütend machte. Stahnke lächelte gnadenlos weiter. Und schwieg weiter ins Telefon.

»Krüger ist tot, Chef.« Ha, Kramer hatte aufgegeben. Punkt für Stahnke. Das konnte ja doch noch ein erfolgreicher Tag werden.

Was hatte Kramer da eben gesagt?

»Heute früh, kurz nachdem er sein Büro betreten hatte, ist er dort tot aufgefunden worden. Ein Arzt ist bei ihm. Hat gerade hier angerufen.«

»Ursache?«, fragte Stahnke.

»Unklar«, antwortete Kramer. »Keine Anzeichen für äußere Einwirkung. Aber der Arzt meinte trotzdem …«

»Sehr gut«, sagte Stahnke. »Kramer, Sie fahren auf die Insel.«

»Ja.« Es knackte im Hörer. Stahnke legte ebenfalls auf und erhob sich. »Und Sie, Herr Zimmermann«, sagte er, »Sie beehren mich bitte ein anderes Mal. Wenn Sie mal wieder müssen. Das dürfen Sie hier gerne, wenn’s recht ist. Und wenn Zeit ist.«

Zimmermanns Gebrüll schallte hinter ihm her bis auf den Flur. Nicht schlecht, dachte Stahnke. Gleich zwei Duelle gewonnen. Vielleicht wird das ja sogar noch ein richtig netter Tag.

8

»Kommen Sie, Stahnke, das kann doch einfach nicht alles sein.« Ungeduldig war Marian Godehau schon länger gewesen, jetzt wurde er ärgerlich. »Plötzlicher Kindstod, okay, davon habe ich schon gehört. Aber plötzlicher Tod einer überreifen Führungskraft ohne erkennbare Ursache, das ist ja wohl ein Witz.«

»Dann lachen Sie doch.« Stahnke war überhaupt nicht nach Spaßen zu Mute. Fast Mittag, die sensationelle Nachricht hatte sich längst herumgesprochen, Marian war zwar der erste, würde aber gewiss nicht der einzige Journalist bleiben, der hier im Verwaltungsgebäude der Optotrans auftauchte, und er wartete immer noch auf eine erste Tendenzmeldung der Ärzte. Bisher vergeblich.

Krügers Büro war groß, noch größer, als man es hatte vermuten können. So groß, dass sie ruhig im Eingangsbereich warten konnten, ohne unerwünscht viele Details von dem mitzubekommen, was die Ärzte da trieben. Der Tote lag rücklings auf dem rasenweichen Teppich, auf halbem Wege zwischen Schreibtisch und Fensterfront, die langen, hageren Arme und Beine merkwürdig asymmetrisch angewinkelt, so dass Stahnke sich unwillkürlich an ein Hakenkreuz erinnert fühlte.

Krügers Schreibtisch bestand aus seidig schimmerndem, dunkelbraunem Holz, war der Raumgröße entsprechend gigantisch dimensioniert und ausladend viertelrund, fast wie einer dieser Söller, von denen herab gekrönte wie ungekrönte Herrscher zu ihrem Volk zu sprechen pflegten. Auf der Schreibtischplatte hätte die gesamte englische Königsfamilie samt Queen Mom Platz gefunden. Stahnke konnte sich gut vorstellen, wie Krüger in dem breiten, hochlehnigen Sessel dahinter residiert und Hof gehalten hatte. Dort hatte er bestimmt eine bessere Figur gemacht als damals auf dem maroden Besucherstuhl im 1. Kommissariat, wo er wegen seiner dubiosen Lager vernommen worden war.

Hinter dem Sessel an der cremefarbenen, dezent strukturierten Wand hing ein Ölgemälde, ebenfalls riesig, eine Wiedergabe der Opto-Fahrzeugwerke, ziemlich naturalistisch, ziemlich langweilig. Stahnke hatte schon andere Gemälde von Industrieanlagen gesehen, hyperrealistische darunter, die von innen heraus zu strahlen schienen und ein deutliches Gefühl für die Faszination dieser Art von Architektur vermittelten. Dieses hier wirkte höchstens durch seine Ausdehnung. Klar, die Opto-Werke waren groß, riesengroß sogar, eine machtvolle Konzernmutter, und hier, im Angesicht des Geschäftsführers der Tochterfirma Optotrans, wurde man nachdrücklich daran erinnert. Sehr nachdrücklich und reichlich plump.

Weitere, deutlich kleinere Bilder waren über die anderen Wände verteilt, Wände, an denen Stahnke die sonst üblichen Bücher- und Aktenregale vermisste. Deren zumeist ohnehin nur symbolische Bedeutung wurde vermutlich von dem Computer wahrgenommen, dessen 19-Zoll-Monitor auf dem linken Schreibtischflügel thronte.

Mangels anderer Beschäftigung ließ Stahnke seinen Blick über die Bilder wandern. Norddeutsche Landschaften in Aquarell und Pastell hingen neben abstrakten Werken, ein Stilmix ohne erkennbares Auswahlprinzip. »Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen«. Faust, oder? Immer gib ihm Bildung!

Dem Schreibtisch gegenüber sah es etwas anders aus, dort hingen ausschließlich kleinere Bilder, lauter Porträts. Würdige ältere Herren; in jedem einzelnen von ihnen glaubte Stahnke auf den ersten Blick Doktor Wendelin Krüger persönlich zu erkennen.

Auf den zweiten aber blieben nicht einmal familiäre Ähnlichkeiten, sondern höchstens – wie sagte man unter Autobauern? Typbedingte? Alle zeigten dieses aufmunternde Lächeln, das Überlegenheit transportierte und ein wenig Hohn. Erfolgsmenschen. Eine Ahnengalerie leitender Optotrans Angestellter, vermutlich.

Stahnke zuckte zusammen, als Marian ihn anstupste. Doktor Mergner hatte sich vor ihnen aufgebaut und heischte Beachtung – hoffentlich noch nicht allzu lange. Stahnke hob die Augenbrauen und signalisierte Dienstbeflissenheit.

»Tjaa …« Mergner, der mit seinen halblangen, struppigen, leicht ergrauten Haaren und den flaschenbodendicken Brillengläsern eher an einen vom Weltgeist beseelten Philosophen als an einen Naturwissenschaftler erinnerte, breitete die Arme aus, und Stahnke sah seine Hoffnung auf eine klare Diagnose schwinden. »Ganz allgemein gesprochen, haben wir es hier mit Tod durch Herzversagen zu tun. Eine Todesursache, die Sie auf Tausenden von Totenscheinen finden werden. Wenn der Tote alt ist und nicht gerade Geschäftsführer eines bedeutenden Betriebes, gibt man sich ja für gewöhnlich auch damit zufrieden.«

Stahnke nickte. Wie viele perfekte Morde wohl schon mit diesem einen Wort besiegelt worden waren? Die Pflege alter, kranker Angehöriger war eine aufreibende Sache, die ganze Familien bis an die Grenze des Erträglichen belasten konnte, und jahrelang unerfüllte Erbschaftshoffnungen gingen an die Nerven. Am Ende reichte dann ein Kissen, ein verkramtes oder falsch dosiertes Medikament, ein über Nacht offen stehendes Fenster, eine laut knallende Tür. Und letztlich hörte ja bei jedem Tod ein Herz auf zu schlagen.

Krüger jedoch war zwar alt, aber keineswegs pflegebedürftig gewesen. Die Pensionsgrenze hatte er hinter sich gehabt, das aber zählte bei Führungskräften bekanntlich wenig. So hatte ihn der Tod buchstäblich mitten aus dem aktiven Leben gerissen. Nur welcher?

»Eine Vorschädigung des Herzens liegt bei Doktor Krüger nicht vor, sagt sein Hausarzt.« Mergner hatte bereits recherchiert. »Überhaupt war der Mann für sein Alter bemerkenswert gesund. Trieb auch regelmäßig Sport.«

Stahnke entschied, den Seitenblick nicht bemerkt zu haben. »Soll ja auch nicht ganz ungefährlich sein«, sagte er. »Gestern ist Krüger fast elf Kilometer gelaufen und hatte anschließend einen Schwächeanfall. Kann es da einen Zusammenhang geben?«

Mergner schüttelte den Kopf. »Wenn, dann hätte es während des Laufs oder unmittelbar danach, wenn sich der Körper von erhöhter auf normale Belastung umstellt, passieren müssen. Woher wissen Sie das übrigens?«

»Stand praktisch direkt daneben«, sagte Stahnke.

»Ich auch«, ergänzte Marian, der sich kein Wort hatte entgehen lassen.

Mergner stutzte, blickte von einem zum anderen, entschied sich dann jedoch, keine Fragen zu stellen, und fuhr fort: »Es gibt aber noch eine andere Möglichkeit, nämlich das zentrale Nervensystem. Haben Sie sich sein Gesicht mal angesehen? Augen und Mund stehen offen, die Gesichtshaut ist bläulich verfärbt, die Zunge ebenfalls blau. Das deutet auf plötzlich aufgetretene Atemnot hin. Möglicherweise Atmungsversagen.«

»Demnach wäre er auf dem Weg zum Fenster gewesen, um nach Luft zu schnappen«, sagte Stahnke und deutete mit dem Kinn auf die Stelle, wo Krügers mittlerweile abgedeckter Körper lag. »Atemnot tritt aber auch bei Herzinfarkt auf, oder?«

»Richtig«, entgegnete Mergner. »Alles andere als ein klares Bild also. Dazu dann noch diese unnatürlich geröteten Hautpartien, vor allem im Nacken. Passt nicht so recht zusammen.«

»Sonnenbrand vermutlich«, sagte Marian und bewegte vorsichtig seine eigenen versengten Schultern unter dem unangenehm scheuernden Hemd.

Mergner runzelte die Stirn: »Eher nicht. Dafür ist die Rötung zu partiell. Außerdem gibt es auch rote Stellen im Rückenbereich. Und beim Laufen hat er doch wohl ein Hemd getragen.«

»Unnatürliche Todesursache also nicht ausgeschlossen?«, fragte Stahnke.

Mergner nickte. »Nicht ausgeschlossen, weil ich noch keine zwingende natürliche erkennen kann. Aber eben nur deshalb.«

»Also Obduktion?«

»Ja«, sagte Mergner. Stahnke seufzte.

»Was heißt das nun?«, fragte Marian.

»Das heißt: Keine Stellungnahme«, sagte Stahnke. »Sie kennen ja die Regeln.«

»Und was sage ich meinem Chef?«

»Was sage ich meinem?«

Diesmal seufzten sie beide.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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232 стр. 5 иллюстраций
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9783839264164
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