Читать книгу: «Der Tod läuft mit», страница 2

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Merkwürdig nur, dass dieser Helfer trotz der Hitze eine langärmlige Jacke getragen hatte. Und merkwürdig blasse Hände hatte er gehabt. Aber das lag wohl daran, dass die Haut vom vielen Anfeuchten schon ganz aufgequollen war.

Das erinnerte Marian daran, dass die Spitzengruppe vermutlich schon lange im Ziel war. Und das Schlusslicht nicht mehr fern.

Sofort war der Durst wieder da. Ächzend stolperte er weiter.

4

Traurig, dachte Stahnke, einfach nur traurig. Wie kann der Mensch so tief sinken. Hängende Schultern, schlackernde Arme und die Fußsohlen knallen aufs Pflaster, dass er die Schläge bis hinauf in sein armes, gemartertes Hirn spüren muss. Wenn er überhaupt noch etwas spürt, so wie er nach Luft schnappt, mit vorgestülpten Lippen, krampfhaft und verzweifelt wie ein Fisch auf dem Karren kurz vor dem Markt. Grellrote Flecken im Gesicht und glasige Augen – der hat glatt durch mich hindurchgesehen. Da fragt man sich nicht: Wo läuft der denn hin? Da fragt man sich doch nur: Wovor läuft der wohl weg?

Stahnke schwang das rechte Bein über den Sattel seines gelben Fahrrades, erspähte eine Lücke im Läuferstrom, trat an und fädelte sich ein, Marians schwankenden Rücken immer im Blick. Kurz vor Holtland würde er ihn überholen und ihn dann, wie geplant, am Ziel erwarten. Bis dahin konnte er ebenso gut noch ein bisschen zuschauen, sich ein bisschen daran weiden, wie sich der Mann da vorne quälte.

Mit dem Fahrrad hatte er überhaupt keine Probleme, sich dem Tempo der Läufer anzupassen. Die grobstolligen Reifen schienen ganz von allein zu rollen, die Pedale ließen kaum Widerstand spüren, während seine Finger die Gänge durchprobierten. Spielerisch leicht klickten die Hebel, das Hoch- und Herunterschalten ging absolut narrensicher. Ein schönes Spielzeug, in der Tat.

Wie nannte man das, wie er sich jetzt fühlte? Glücklich etwa? Glücklich, weil er hier an diesem schönen, sonnigen Tag auf einem hochmodernen Fahrrad dahinrollte, während alle anderen sich zu Fuß abquälen mussten? Stahnke fand den Gedanken pervers. Etwas frische Luft, ein Mangel an Mühe, ein funkelndes Stück Besitz, ein Vorteil gegenüber den Mitmenschen – doch, schon möglich, dass es Leute gab, die sich ihr Glück so definierten. Nicht nur möglich, sondern todsichere Tatsache. Aber Stahnke verbot sich das. Seit der Trennung von Katharina hatte Glück außerdem für ihn aufgehört zu existieren.

Was für ein Unsinn! Heftig schüttelte er den Kopf, hielt aber gleich wieder inne, schließlich war er hier nicht allein. Diesen theatralischen Quatsch nahm er sich nicht einmal mehr selber ab, und für seinen dämlichen Hang zum Selbstmitleid konnte er sich selber hassen. Katharina hatte eine Entscheidung gefällt, und er hatte eine Weile darunter gelitten. Beides nicht unnormal, mit einigem Abstand betrachtet. Die außergewöhnliche Länge seines Leidens hatte vor allem mit verletztem Stolz zu tun gehabt. Mittlerweile aber diente dieser gut konservierte Schmerz doch nur noch dazu, Entscheidungen zu vermeiden und Untätigkeit zu begründen. In seinen ehrlichen Momenten gestand er sich das ein. Ein solcher hatte ihn offenbar gerade wieder erwischt. Auch so ein Frühlingsgefühl.

Unwillkürlich hatte er etwas stärker als beabsichtigt in die Pedale getreten und musste nun abstoppen, um nicht auf den Läufer direkt vor ihm aufzufahren. Ein älterer Herr, lang und dürr. Stahnke hatte ihn noch nie in Turnhose und ärmellosem Leibchen gesehen, aber er erkannte ihn sofort, allein schon an dieser schneeweißen Tolle, die auch beim Laufen makellos in Form blieb, als wäre sie mit Spray fixiert. Was sie vermutlich auch war.

Wendelin Krüger. Stahnke kannte den Mann gut, was weiter kein Wunder war, schließlich prangte Krügers Bild seit Monaten alle paar Tage in der Zeitung. Geschäftsführer einer Tochterfirma der Opto-Werke, des größten Arbeitgebers weit und breit, Mitglied im IHK-Vorstand, Gastprofessor an der Fachhochschule in Emden, Wirtschaftskolumnist in diversen Blättern. Kürzlich erst hatte die Regionalzeitung einen großen Artikel über ihn gebracht: »Ein Mann arbeitet für Ostfrieslands Wohlstand«. Ganz allein offenbar und im Gegensatz zu allen anderen, das jedenfalls schien die Überschrift zu suggerieren. Stahnke hatte sich mächtig darüber geärgert, das wusste er noch gut.

Aber er hatte den Mann auch schon vor dessen jüngstem Popularitätsschub gekannt. Wendelin Krüger, Im- und Export, vor allem Rohkaffee und Schalenfrüchte. Keine sehr glanzvolle Erscheinung damals. Umweltschützer und Gesundheitsfanatiker hatten noch vor kurzem einige seiner Lager verwüstet, angeblich, weil Krüger verdorbene und giftstoffhaltige Lebensmittel in den Handel brachte. Stahnke hatte damals gegen Unbekannt ermittelt, wegen Vandalismus, seine Kollegen vom Betrugsdezernat gegen Krüger selbst, wegen Verstoßes gegen irgendwelche lebensmittelrechtlichen Paragraphen. Beide Verfahren waren eingestellt worden. Stahnke hatte Krüger als zwielichtig eingestuft und sich vorgenommen, ihn im Auge zu behalten. So war er Zeuge eines erstaunlichen Aufstiegs geworden.

Die Strecke knickte ab in den Wald und Stahnke musste sich etwas mehr aufs Fahren konzentrieren, denn der Boden war hier locker und voller Furchen und glatter Tannennadeln. Es roch unangenehm modrig; er hasste diesen pilzigen Waldgeruch, atmete verstärkt durch den Mund, um ihn so wenig wie möglich wahrnehmen zu müssen, wurde dann aber von der Vorstellung überfallen, wie winzige Sporen mit der Atemluft in Hals und Lunge eindrangen und sich ein grünlich-weißer Schimmelpelz in seinem Körper auszubreiten begann, grünlich-weiß wie der VW-Bulli von Rieken und van Dieken. Stahnke stöhnte auf, hustete krampfhaft und hielt dann die Lippen fest aufeinander gepresst.

Zum Glück war das Gehölz nicht sehr groß. Schon wurde es lichter, Zuschauer tauchten am Wegesrand auf, Trommeln waren zu hören. Krügers bolzengerader Rücken direkt vor ihm schien sich noch mehr zu strecken, die langen Beine holten noch raumgreifender aus. Stahnke sah, wie Krüger sich anschickte, Marian zu überholen, während der gerade auf den Erfrischungsstand zuhielt wie ein schlingerndes Wüstenschiff auf eine Oase. Der Hauptkommissar bremste ab, unschlüssig, ob er nun hinter Marian bleiben oder die Gelegenheit zum Überholen nutzen sollte, um vor ihm am Ziel zu sein. Dann hielt er an, keine fünf Meter vom Getränketisch entfernt.

Marian trank nicht, er soff, fand Stahnke. Unbeherrscht und unästhetisch, wie nur Menschen saufen konnten. Es war nicht fair, für so etwas denselben Ausdruck zu benutzen wie für die kontrollierte und wohl dosierte Wasseraufnahme von Tieren.

Jetzt goss er sich den Rest aus seinem Becher sogar noch über den Nacken und presste sich einen nassen Schwamm ins Gesicht. Keine Haltung, der Mann. Lässt sich gehen. Statt seine Erschöpfung tapfer zu verbergen, drängt er sie geradezu exhibitionistisch seiner Mitwelt auf. Da könnte er sich wirklich ein Beispiel an Wendelin Krüger nehmen, der kam ohne solche Mätzchen aus. Na ja, nicht ganz; aus den Augenwinkeln konnte Stahnke sehen, dass auch Krüger nicht ohne nassen Schwamm davonkam. Offenbar war das so etwas wie ein Ritual, dem man sich als Läufer eben unterwerfen musste. Merkwürdiges Volk, diese Läufer, dachte Stahnke. Ich werde sie nie begreifen.

Marian lief jetzt weiter und auch Stahnke nahm wieder Fahrt auf. Fast hätte er mit seinem Fahrrad einen Läufer gerammt, der aus dem Gebüsch am Rand der Strecke hervorgebrochen kam wie ein dunkellockiger Büffel, ein schwerer, aber ziemlich fit wirkender Bursche etwa in seinem Alter, der ihn gar nicht wahrzunehmen schien, sondern schnurstracks an Marian vorbei den vorderen Teilen des Läuferfeldes zustrebte. Wie das Leben so spielt, überlegte Stahnke, der den Mann sofort erkannt hatte: Die einen trinken, und die anderen müssen pinkeln. Fast wie bei den Daltons: Joe säuft Whisky, und Averell wird betrunken. Sweet Genevieve.

Eine Zeile aus einem John-Lennon-Song stand ihm plötzlich vor Augen: »Life is what happens to you, while you’re busy making other plans.« Gar nicht schlecht. Der Mann kannte sich aus mit dem Leben. Vielleicht wurde er ja deshalb ermordet. »Es wusste zu viel« – für einen wie Joe Dalton wäre das allemal ein ausreichendes Motiv gewesen, damals im Wilden Westen.

Stahnke fuhr sich mit der Hand durch seine sonnenwarmen Stoppelhaare. Vielleicht hätte er doch so eine Schirmmütze aufsetzen sollen.

5

Und wenn ich jetzt sterbe? Wenn ich jetzt tot umfalle? Marian konnte sein rasend pochendes Herz bis in die Mundschleimhäute hinein spüren. Beim Laufen konnte man sterben, das wusste er. Hatte neulich erst wieder in einer Illustrierten gestanden. Immer wieder starben Menschen beim Sport, auch junge Menschen, meist im Wettkampf, meistens Männer. Weil sie sich keine Blöße geben mochten, keine Schwäche eingestehen konnten. Einfach weitermachten, bis die Pumpe genug hatte. Und peng.

Sein Herz tat einen deutlichen Hüpfer. Hatte er nicht letzte Woche erst eine Erkältung gehabt? War das vielleicht ein Infekt gewesen, ein Virus? Konnte es beim Sport nach verschleppten Virusinfektionen nicht zu Herzmuskelentzündungen kommen? Waren nicht schon weit kräftigere Naturen als er an so etwas gestorben? Oh Gott, dachte Marian, ogottogott! Und lief weiter.

Sein Nacken glühte, seine Brust ließ sich einfach nicht mehr weit genug dehnen, um genügend von dem Atem zu fassen, der rasselnd durch seine Kehle schabte, seine wundgescheuerten Achselhöhlen brannten, und seine Beine schienen in zähem Rübensaft zu stecken. Es reichte. Warum hielt er nicht einfach an? Was für ein herrlicher Gedanke: Die verkrampften, schmerzenden Arme aus ihrer Winkelhaltung lösen und langsam, ganz langsam senken, der Erdanziehung nachgeben, sie ausschütteln und dabei der Süße des nachlassenden Schmerzes in den entkrampfenden Muskeln nachspüren. Den Laufschritt verlangsamen, die Fußsohlen noch zwei-, dreimal auf den Asphalt klatschen lassen, dann ausscheren, vielleicht nach links, da war Gras, das sah weich aus, verlockend. Jetzt stehen bleiben, die Hände auf die Oberschenkel stützen und atmen, nur noch atmen, Luft schöpfen und immer weiter schöpfen, bis es reichte, bis er endlich wieder satt war an Sauerstoff, bis das wild trommelnde Herz in einen sanfteren Rhythmus gefunden hatte. Und dann langsam, langsam zu Boden sinken, ins weiche Gras, die Halme an Beinen und Händen spüren und den ausgehungerten Körperzellen bei der Fütterung lauschen. Ein Traum. Ein Traum? Lief er denn überhaupt noch? Ja, allerdings. Noch lief er. Aber musste er denn? Jederzeit konnte er Schluss machen, jetzt gleich, sofort, der Qual ein Ende machen. Arme, Beine, Lunge. Anhalten, hinsetzen, ausstrecken, einfach nur daliegen.

Und die anderen vorbeilaufen sehen?

Kilometer neun. Hier war schon Kilometer neun. Zehn Kilometer war die erste Etappe lang. Dann war er ja fast schon im Ziel. Nur noch einen Kilometer, das war doch so gut wie gar nichts. So kurz vor dem Ziel konnte man doch nicht aufgeben. Marian wiederholte diesen Gedanken, sprach ihn sich lautlos vor, um ihm die Gelegenheit zu geben, seine belebende Wirkung zu entfalten, zu Rhythmus zu werden, wartete ungeduldig darauf, dass ein neuer Energieschub durch Arme, Beine und Lunge prickelte.

Aber das Einzige, was da prickelte, war sein Kopf. Offenbar der einzige Körperteil, dem es etwas ausmachte, womöglich nicht bis ins Ziel getragen zu werden. Typisch. Der Kopf braucht nur zu wollen, der Rest muss dafür arbeiten. Leitendes Anhängsel. Und das Herz macht dann den Abgang. Wie aufs Stichwort glaubte er, wieder Rhythmusschwankungen in seinem Brustkorb zu spüren.

Einen Kilometer noch. Das waren 1.000 Meter. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie er sich in der Sportstunde vor dem 1.000-Meter-Lauf gefürchtet hatte. Schrecklich. Siedend heiß fiel ihm ein, dass diese Etappe außerdem nicht genau zehn Kilometer lang war, sondern gut zehn Kilometer. Also mehr als zehn. 10 Komma nochwas. Dieses kleine Plus war ihm vor dem Start unwichtig vorgekommen. Wie viel genau? 10,8. Also fast elf. Also fast noch 2.000 Meter, oh Gott, nein.

Aber er lief und lief und lief weiter. Das Gras am Streckenrand war noch immer grün, aber die weiche Stelle, die ihm so verlockend erschienen war, die lag schon ein Stück zurück.

Schnurgeradeaus ging es jetzt, zwischen aufgereihten jungen Birken hindurch, hinter denen sich graubraune Felder erstreckten, weit und eben wie Kuchenplatten. Da links musste irgendwo die Bundesstraße sein. Brannte es da? Nein, ein Bauer eggte sein Feld, und grauer Staub stieg hoch auf wie Rauch. Der Traktor hatte eine geschlossene Kabine, vermutlich klimatisiert und mit Stereo-CD-Player. Dem Mann da drinnen würde es wohl kaum einfallen, bei diesem Wetter draußen in der prallen Sonne herumzurennen. Der war ja nicht blöd. Der saß auf seinem gasdruckgedämpften, gut gepolsterten Treckersitz und hörte Techno, irgend so ein Daggadaggadaggadumpfdumpf, wie man es nachts durchs Schlafzimmerfenster hören konnte, wenn die Tiefergelegten ihre Runden drehten. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Macht schön stumpf, daggadaggadumpf. Eins zwo, eins zwo. Daggadaggadumpf. Dadumpf. Dadumpf.

Menschen. Klatschen. Rufe, unverständlich, aber anfeuernd. Die Birkenallee war plötzlich auf einen kleinen Rest zusammengeschrumpft, da war eine Kurve, da standen Leute. Den letzten Kilometer musste er wie in Trance gelaufen sein. Jetzt, jetzt endlich spürte er das Prickeln, auf das er vor anderthalb Kilometern vergeblich gewartet hatte, fühlte neue Kraft in seinen Oberschenkeln, an deren Innenseiten schon seit geraumer Zeit ein gut entwickelter Wolf knabberte, jetzt endlich war er sicher, das Ziel doch noch zu erreichen. Mit dem Kopf und mit dem Rest seines Körpers auch. Lebendig.

Da war das Ziel, da war die Einlaufgasse, da standen die Unentwegten, die aus Prinzip applaudierten, um auch wirklich jede irgendwie erbrachte Leistung zu würdigen, wobei viele Gesichter durchaus andere Motive verrieten. Die Ankunft der Nachhut, der schwankenden Gestalten, der Fußkranken des langen Marsches schien auch eine Menge wohliger Schadenfreude zu bereiten.

Viele der in kleinen Gruppen plaudernd Herumstehenden trugen Sportkleidung, lose um die Schultern hängende Trainingsjacken und kurze Hosen, standen völlig entspannt, atmeten ruhig, Stirn und Haare bereits wieder von der Sonne getrocknet. Die Läufer, die richtigen Läufer. Einige rüsteten schon zur Heimfahrt, winkten Grüße, vorbei an denen, die ein ganz anderes Rennen gelaufen zu sein schienen, das erst jetzt beendet war. Endlich.

Marian entdeckte Stahnke, während er die Ziellinie überquerte und unmittelbar dahinter stehen blieb, unfähig und auch nicht willens, auch nur einen weiteren Meter zu laufen, krebsrot und nach Luft schnappend wie ein Fisch. Der Gesichtsausdruck des Hauptkommissars war schwer zu deuten. Jedenfalls grinste er nicht, was Marian noch am ehesten erwartet hatte. Trotzdem drehte er sich weg. Nein, jetzt nicht. Irgendwer reichte ihm einen Becher, und er trank gierig.

Wo war Sina? In dem Getümmel zwischen Zielraum und Parkplatz, Krankenwagen und Getränkeständen konnte er sie nirgends entdecken. Dafür sah er den weißhaarigen alten Mann, der ihn unterwegs überholt hatte. Jetzt taumelte er zwischen zwei Sanitätern, die Arme um ihre Schultern gelegt, mit hängendem Kopf und eingeknickten Knien, und wurde zum Krankenwagen geführt, interessiert beäugt von zwei knorrigen Uniformierten. Keine Spur mehr von erfolgsgewohnter Führungskraft – ein Wrack.

Marian sah es mit einer Befriedigung, die von keinerlei Scham getrübt war. Immerhin hatte ihn dieser Mensch durch die selbstgefällige Demonstration seiner angeblichen Überlegenheit fast zur Aufgabe getrieben. Einer Überlegenheit, die es wohl vor allem in seinem Kopf gab und deren Demonstration der Körper hatte ausbaden müssen. Was offenkundig über seine Kräfte gegangen war. Alter Angeber. Geschah ihm recht.

Da war Sina. Sie palaverte schon wieder mit diesem schwarzlockigen Büffel, dem man es an der Nasenspitze ansehen konnte, wie sehr ihm gerade der Sinn nach einer gemischten Dusche stand. Die beiden gingen an ihm vorbei, ohne ihn wahrzunehmen, so nahe, dass er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um Sina zu berühren.

Aber er tat es nicht.

6

»Was ist mit ihm?« Stahnkes professionelle Neugier ließ sich nicht so einfach abstellen. Wendelin Krüger war immerhin ein Promi, da gehörte es schon zum beruflichen Selbstschutz, sich auf dem Laufenden zu halten.

»Kreislaufschwäche.« Den blonden Mann, der ihm antwortete, hätte er nicht ohne Weiteres als Arzt identifiziert. Er war jung und trug kurze Hosen unter seinem Sweatshirt, offenbar hatte er selber am Ostfrieslandlauf teilgenommen. »Erhöhte Pulsfrequenz, geht aber schon wieder runter. Außerdem hat er zu viel Sonne abbekommen.« Die Sanitäter, die Krüger inzwischen im Wagen verstaut hatten, warfen dem Doktor fragende Blicke zu. Als der den Kopf schüttelte, schlossen sie die Türen, starteten den Motor und fuhren an. Langsam bahnte sich der Krankenwagen einen Weg durch die immer noch wimmelnde Menge, ohne Sirene und Blaulicht. Allzu schlimm schien es wirklich nicht zu sein.

»Sind Sie ein Verwandter von Herrn Krüger?« Der junge Arzt schien seine unbefangene Auskunftsbereitschaft zu bedauern. »Oder sind Sie etwa von der Presse?«

Stahnke wies sich aus; der Doktor schien beeindruckt: »Personenschutz für Herrn Krüger? Na ja, hätte ich mir ja denken können.« Mit der rechten Hand deutete er an Stahnke vorbei, und als der sich umwandte, blickte er in die grinsenden Gesichter von Rieken und van Dieken.

»Ich hatte mich schon gewundert, warum hier so aufwändig gesichert wird«, fuhr der Arzt fort, nunmehr in fast vertraulichem Tonfall. »Eigentlich besteht dafür ja gar kein Anlass, was soll beim Ossiloop schon groß passieren?«

Wieder wandte sich Stahnke um, aber der bedeutungsvolle Blick, der Rieken und van Dieken zugedacht war und künftige Korrekturen der Dienstplangestaltung androhen sollte, fiel ins Leere. Die beiden schienen auch Meister im rückstandslosen Verschwinden zu sein.

»Einer wie Herr Krüger ist natürlich immer gefährdet.« Der Arzt nickte sich selber bestätigend zu, schien sich förmlich in seine eigene Personenschutzthese einzuwickeln. Stahnke ließ ihn gewähren. »Darum also waren Sie mit dem Fahrrad auf der Strecke. Hatte mich schon gewundert. Wissen Sie, eigentlich mögen wir Läufer das ja nicht, es könnte ja sein, dass jemand einen Schrittmacher vorausfahren lässt. Aber Sie haben ja öfter Ihre Position gewechselt.«

»Das haben Sie bemerkt?«

»Ja, ich war meistens hinter Ihnen. Bin keiner von den Schnellsten, wissen Sie.« Er lächelte ein verzerrtes, Nachsicht und aufbauendes Lob heischendes Lächeln; Stahnke fühlte sich peinlich berührt. Da er keinerlei Reaktion zeigte, plapperte sein Gegenüber weiter. »Aber vor sich selber kann man ja niemanden schützen, das gilt offenbar auch für Herrn Krüger. Aus dem gefährlichen Alter, in dem Männer den natürlichen Leistungsabfall nicht wahrhaben wollen und ihn einfach ignorieren, ist er ja eigentlich schon heraus. Aber sein Ehrgeiz ist wohl stark entwickelt, stärker als sein Kreislauf. Man kann es auch Eitelkeit nennen. Würde ich mir aber nie erlauben.«

»Wann ist denn dieses gefährliche Alter?«, fragte Stahnke.

»Na so zwischen 40 und 50«, sagte der Arzt. Er musterte den Hauptkommissar eingehend und öffnete den Mund. Als er aber in Stahnkes Gesicht schaute, kniff er die Lippen wieder zusammen, grüßte kurz und wandte sich ab.

Gefährliches Alter! Wenn überhaupt, dann pflegte Stahnke von sich selbst als Gefahr für andere zu denken, nicht aber als gefährdet. Dass ihm sein Übergewicht keinen sonderlich beneidenswerten Platz in der Lebenserwartungsstatistik sicherte, war ihm bewusst. Den Arzt aber, der ihm das anhand seiner Blutwerte vorgerechnet hatte, mied er schon seit Jahren – und ging es ihm deswegen etwa schlechter?

Prüfend fuhr er mit den Handflächen seine Rumpfkonturen ab. Sehr bedauerlich, dass sein Trenchcoat noch auf dem Gepäckträger klemmte. Ohne ihn fühlte er sich plötzlich deckungslos.

»Na, was macht Ihnen denn Bauchschmerzen?« Wie aus dem Boden gewachsen stand Sina Gersema vor ihm, strahlend und rosig, aufgekratzt und immer noch so erhitzt, dass sie ihn förmlich einhüllte in eine bauschige Wolke aus Körperwärme und Schweißduft. Ja, eindeutig Duft, ein wenig mit den Spuren eines überforderten Deodorants verbrämt, hauptsächlich aber der Duft frisch vergossenen Schweißes, vergossen von einem Frauenkörper. Von einem außerordentlich hübschen Frauenkörper, der in knappem Sportdress wenig mehr als eine Spanne vor seinen Hemdknöpfen zu vibrieren schien, offenbar immer noch unter den Nachwirkungen des Laufes. Sie schien ihn genossen zu haben – kein Vergleich mit dem Bild des Jammers, das Marian Godehau vorhin abgegeben hatte.

Stahnke ertappte sich dabei, wie er auf Sinas pinkfarbenes Trikot starrte, senkte seinen Blick, woraufhin Sinas sanft gebräunte Oberschenkel und sein eigener Bauch ins Blickfeld gerieten. Schnell hob er Kopf und Lider. Sina lächelte immer noch, war anscheinend in einer Stimmung, dass sie die Welt hätte umarmen können, und Stahnke spürte den Anflug der Vorstellung, wie es wohl wäre, wenn sie etwas mit ihm anfangen würde. Dann fiel sein Blick auf ein anderes Gesicht oberhalb von Sina Gersemas linker Schulter. Ein büffelbreites Gesicht unter schwarzen Locken über breiten Schultern und einem schweren Körper. Der Mann, der ihn vorhin auf der Strecke fast umgerannt hätte. Ach du Scheiße, dachte Stahnke und wünschte sich sein Fahrrad herbei.

Dieses impertinente Lächeln, diese affektiert gefletschten Zähne, diese grabschend ausgestreckte Hand. Stahnkes Rechte wurde gepackt und geschüttelt, ehe er sie noch hinter seinem Rücken in Sicherheit bringen konnte. »Herr Hauptkommissar, schön, Sie endlich einmal unter freiem Himmel anzutreffen!« Na klar, gleich zur Begrüßung eine Spitze, hübsch verpackt in Scheinheiligkeit, aber deutlich aus der Hülle herauspiekend. Stahnke wusste schon, warum er diesen Helmut Zimmermann nach Möglichkeit mied. Aber es war eben nicht immer möglich, schließlich war der Kerl unter anderem auch Rechtsanwalt und er Bulle.

»Mitlaufen hätten Sie sollen, statt hier nur rumzustehen. Das gibt Kraft! Kraft und Freude!«

Sina, von Zimmermann zur Seite gedrängt, drehte sich halb um und stemmte die Arme in die Hüften, wobei Stahnke einen verstohlenen Blick auf die Rückfront ihrer Radlerhose werfen konnte, die ihren Po perfekt und faltenfrei nachmodellierte. Selbst die üblichen Abdrücke eines Slips waren nicht zu erkennen. Lief sie etwa ohne? Er räusperte sich, ohne so recht zu wissen, warum.

Zimmermann hielt seine Hand immer noch gepackt, lachte dröhnend und schien weder das Händeschütteln noch das aufgepfropfte Gespräch so schnell abstellen zu wollen. Stahnke richtete seine wasserblauen Augen auf Zimmermanns schwarzbraune aus, tauchte förmlich ein in diesen provozierenden Blick, nahm die Herausforderung an und nagelte ihn dadurch fest. Während er nun ebenfalls die Zähne bleckte, tastete er mit Zeige- und Mittelfinger seiner Rechten über Zimmermanns Handrücken, presste sie in die Lücke zwischen dem zweiten und dritten Mittelhandknochen und verstärkte gleichzeitig den Druck seiner Hand. Zimmermanns Augen weiteten sich, während seine Hand erschlaffte und Stahnke die seinige endlich lösen konnte.

»Kraft«, sagte er, »Kraft kommt aus der Ruhe, Herr Zimmermann. Nicht aus der Hetze.«

Das war nicht übel, das sollte ich mir aufschreiben, überlegte Stahnke selbstzufrieden, während sich Zimmermann wortlos abwandte, wobei er seine rechte Hand mit der linken umklammert hielt. Der Druck hatte gepasst, der Schmerz musste heftig gewesen sein. Dass Zimmermann dabei nicht geschrien hatte, passte wiederum zu ihm.

Sina folgte ihm nicht. Wieso war sie überhaupt mit ihm zusammen aufgetaucht? Eine Zufallsbekanntschaft unter Läufern? Aber sie musste Zimmermann doch kennen, schließlich stand der noch häufiger in der Zeitung als Wendelin Krüger, und nach allem, was Stahnke von Sina wusste, sollte Zimmermanns Gesinnung ihr doch auch nicht sympathischer sein als ihm.

Sina stand immer noch mit den Händen in den Hüften da, und wenn das Laufen tatsächlich ein Hochgefühl in ihr erzeugt hatte, dann war es inzwischen verflogen. »Was war denn das für ’ne Show?«, zischte sie. »Sie haben sich ja aufgeführt wie ein Gockel. Oberpeinlich! Das hätte Marian auch nicht besser hingekriegt. Was denkt ihr euch eigentlich?«

Sie schleuderte ihren kastanienroten Haarbusch, der über ihre linke Schulter nach vorne bis über ihre Wange gerutscht war, mit einer energischen Kopfbewegung zurück in den Nacken. »Aber genau das ist es ja wohl, womit ihr Probleme habt. Denken. Scheint wohl wehzutun.« Wütend lief sie davon.

So kratzbürstig habe ich sie ja noch nie erlebt, dachte Stahnke, während er die erneute Gelegenheit nutzte, Sinas rückwärtige Ansicht zu bewundern. Und so anziehend war sie ihm auch noch nie vorgekommen. Ob es da einen Zusammenhang gab?

Bisher hatte er Marian Godehaus Freundin immer mit anderen Augen betrachtet, so wie die Ehefrauen von Kollegen; es schien da so etwas wie einen Filter zu geben, den er nur einzuschalten brauchte. Hatte sonst immer funktioniert. Gefährliches Alter? Der Arzt, den Sinas Auftauchen aus seinem Bewusstsein gelöscht hatte wie ein warmer Sommerregen eine Spur im Staub, fiel ihm jetzt wieder ein, und er drehte sich nach ihm um. Aber der junge Mann war nirgendwo mehr zu entdecken.

Auch Sina war zwischen den umherschlendernden Passanten, die langsam weniger zu werden schienen, verschwunden. Dafür tauchte Marian in Stahnkes Blickfeld auf. Ziemlich weit entfernt, immer wieder von Vo­rübergehenden verdeckt, stand er da und starrte zu ihm herüber.

Nein, jetzt nicht, dachte Stahnke und wandte sich ab.

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Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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232 стр. 5 иллюстраций
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9783839264164
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