Читать книгу: «Schüchterne Gestalten», страница 6

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Sonnabend, 13. November 2010, in den späten Abendstunden

Remsen roch es schon auf dem Gang in sein Büro. Die haben doch nicht…? Doch, sie haben es getan: wieder beim Thailänder so eine Mischung aus halbgarem Fleische, gedünsteten Grashalmen und matschig-süßem Grünzeug bestellt. Reiskörner klebten dem Nöthe noch zwischen den Zähnen, als dieser den Chef erkannte und eine Begrüßung loswerden wollte. Dabei verteilte Nöthe etliche der Körner in seinem Umfeld. ‚Teilen‘ ist doch das Motto in der heutigen Facebook-Generation, oder nicht? Remsen schüttelte nur den Kopf.

Jutta Kundoban wischte sich die überschüssigen Körner ihres Kollegen mit Servietten weg. Vor allem jene, die es bis in ihre unmittelbare Nähe geschafft hatten und schmollte Nöthe mit einem derartigen Gesichtsausdruck, weil wenn es ihr Kollege fertigbrachte, ihr den Appetit gehörig zu vermasseln.

Remsen schaute von oben herab entsetzt in Kundoban‘s Styroporbehälter und meinte darin etwas krabbeln zu sehen. Zumindest kam es ihm so vor. Kundoban schaute ihn an und signalisierte ihm, dass sie eigentlich nicht …

Remsen war es egal und riss das Fenster auf: „Riecht ja hier wie in einer Frittenbude. Das Zeug kann doch keiner essen.“

Im Büro wurde es schnell recht kalt, sodass sein Team anfing zu murren. Es war ihm recht, denn er hatte sich für den Abend, gerade was sein Abendessen betraf, einen anderen Plan ausgedacht.

„Das Fenster bleibt auf. Wir treffen uns in drei Minuten alle am Kaffeeautomaten.“ Kaum gesagt, war er schon auf dem Weg dorthin, ohne nicht noch mal kurz im White Room reinzusehen.

Am Automaten angekommen, ließ eine brühend-heiße, dunkelbraun eingefärbte Flüssigkeit in einen Becher laufen, die nach Meinung der Automatenhersteller Kaffee sein sollte. Wenn Kaffee helfen soll, die Müdigkeit zu vertreiben, so weiß Remsen, dass er spätestens nach zwei von diesen Bechern hier Herzrasen mit aufgerissenen Augen bekommt. Deshalb versucht er meistens, diesen hier zu meiden. Aber jetzt am Sonnabendabend gab hier keine Alternativen, in der Zentrale vielleicht noch, doch bis dahin wollte er nicht… Und besser war die Brühe dort auch gerade, so seine Erfahrungen.

„Hier sind die Fotos der Überwachungskameras vom Grenzübergang. Exakt um 21:07 Uhr gestern Abend passierte Weilham jun. mit einer jungen Begleiterin und dem Audi VES CW 500 die Grenze und reiste nach Deutschland ein. Wir haben Fotos aus einschlägigen sozialen Netzwerken im Internet von ihm gefunden und mit diesen hier abgeglichen: Kein Zweifel: Carsten Weilham war da drin und jetzt tot.“

Jutta Kundoban war die erste aus dem Team, die zu ihm stieß, jedoch aus guten Gründen keinen Bedarf an Kaffee mehr hatte. Nöthe und die beiden Reservisten trafen inzwischen auch am Automaten ein; alle drei mit jeder Menge Unterlagen unterm Arm.

„Wir nehmen den Tisch da.“ Remsen deutete auf eine Besprechungsecke und steuerte darauf zu. „Dr. Ansbaum hat das auch schon festgestellt und Eva Weilham brach zusammen, als ich ihr das Foto ihres toten Mannes zeigte.“

„Jan, waren Sie mal wieder so einfühlsam wie der berühmte Holzklotz?“ Kundoban wusste einerseits, dass das Überbringen von Todesnachrichten auch ihr nicht leicht fiel, aber andererseits, dass Remsen nach dem „Jetzt-oder-Nie-Verfahren“ die Betroffenen einfach mit der Tatsache konfrontierte und abwartete was danach passiert. Wenn es irgendwie ging, dann überließ sie immer einem anderen ihrer Kollegen diesen Job.

„Haben wir inzwischen irgendwelche Anhaltspunkte, wer die Tote auf dem Beifahrersitz sein könnte?“

Da alle am Tisch mit dem Kopf schüttelten, war klar, dass sie in dieser Angelegenheit dringend mehr Informationen bräuchten. Möglichst schnell, möglichst viele.

„Herr Nöthe, was hat Ihnen die Frau Weilham erzählt?“ Bevor der junge Mann einschläft, wecken und befragen wir ihn doch mal. Remsen war angespannt und erwartete von seinem Team, dass alle sich ebenso in die Ermittlungen reinhängen. So wie er es vorlebte.

Benjamin Nöthe schaute etwas unsicher: „Naja, nicht so viel Verwertbares. Sie sprach von ihrem Mann, dem Herzinfarkt Anfang des Jahres und von der vielen Arbeit bei CodeWriter. Sie meinte, dass ihr Mann wohl schon ziemlich lange mit dem Partner bei CodeWriter, Karl Hausmann, im Clinch lag, unterschiedliche Auffassungen zur Firmenführung und zur weiteren Entwicklung hatten, aber auch, dass nach dem Zusammenbruch die Rangfolge bei CodeWriter geklärt sei. Etwas süffisant, eher abwertend betonte sie das.“

„Ja und, das war’s? Mehr nicht?“

„Sonnabends geht der alte Weilham immer seine eigenen Wege. Sie weiß wohl nur, dass er mit sich alleine sein will, viel Sport macht, immer sein Rad dabei hat. Meistens ist er zur Sportschau wieder zurück.“

„Okay, das kennen wir alles. Was meinte sie dazu früher? Vor CodeWriter? Vor der Vereinigung? Wie haben sie sich kennengelernt?“

„Da war sie sehr zugeknöpft. Hat an der Universität gearbeitet und lebt seit einiger Zeit zurückgezogen. Sie verbringt wohl viel Zeit mit ihrer Schwiegertochter und dem Enkel. Von Konflikten oder so erzählte sie nichts. Habe wirklich einige Male nachgefragt. Wie mir schien, ist sie mit sich und der Situation recht zufrieden; oder hat sich arrangiert – wie man’s nimmt.“

„Partei? Stasi? War da was?“ Musste Remsen dem jungen Assistenten alles einzeln aus der Nase ziehen? Er kam sich wie ein HNO-Arzt vor; nur wollte er nicht mit der Zange ...

„Von einer Parteikarriere war nicht die Rede, aber das lasse ich überprüfen.“ Nöthe deutete auf einen der beiden Verstärker im Team, der den Hinweis nur bestätigte. „Sie hat sich eher kritisch zur Situation vor der Vereinigung geäußert. Ich glaube nicht, dass sie mit den Diktatoren gemeinsame Sache gemacht hat.“

„Wie lange sind die beiden eigentlich schon zusammen, ein Paar?“ Jutta Kundoban, eine Frau, pragmatisch und scharfsinnig. Die Frage kam von ihr, nicht ganz ohne Hintergedanken, denn heutzutage ist es fast schon unanständig, wenn eine einmal eingegangene Beziehung ewig hält.

„Keine Ahnung, auch das sollten wir rausbekommen.“ Der Assistent vom Assistenten machte sich dazu einige Notizen.

Kundoban sah jetzt Remsen an: „Hat denn Georg Weilham oder die Eva Weilham nichts dazu gesagt, mit wem Weilham jun. unterwegs war?“ Der Angesprochene zuckte nur mit der Schulter und verneinte die Frage. Er konzentrierte sich auf die Frage, von woher Weilham gestern Abend wieder zurückkam.

„Bekommen wir von polnischer Seite Informationen, wo er überhaupt war? Die müssen doch auch eine Autobahnüberwachung haben; bei so vielen Fördergeldern, wie die von der EU bekommen. Es muss doch rauszubekommen sein, ob sein Auto gesichtet wurde.“

„Jan, du weißt doch, da brauchen wir ein offizielles Amtshilfegesuch, muss von ganz oben genehmigt werden. Jetzt am Sonnabendabend?“

Oh, da war sie wieder, die schlimme Stelle in ihm: „Diesen Sepp muss ich ohnehin heute noch informieren; da kann er gleich mal loslegen und uns helfen.“

„Hat keiner gehört.“ Das war mehr eine Anweisung in Richtung der beiden Unterstützer, dichtzuhalten und Remsens Entgleisung zu vergessen; ist ja immerhin der Chef.

„Gibt’s was Interessantes zu CodeWriter?“

„Eher nicht. Zumindest der erste Eindruck bringt nichts Außergewöhnliches. Die Bilanzen scheinen zu stimmen. Wenig Öffentlichkeitsarbeit von denen. Hausmann ist gelegentlich auf Konferenzen im Sicherheitsbereich unterwegs. Auf einer internationalen Fachmesse der Astrophysiker in Kairo ist er mal von einigen Jahren als Redner aufgetreten. Es ging angeblich um irgendwelche Verfahren für Auswertungen eines Forschungsteams für einen Kometen. CodeWriter entwickelte die Software dazu. Sonst eher nichts Aufregendes.“

Nöthe setzte ein strahlendes Lächeln auf, weil er weiß, dass er bei den Nachforschungen für CodeWriter recht viel beisteuern konnte.

„Machen Sie hier ein Schülerpraktikum oder was?“ Remsen hatte seine eigene, andere Meinung zu den Ergebnissen seines Assistenten. „Sie sollen Unregelmäßigkeiten feststellen. Nur die helfen uns weiter. Da kommt der Junior Chef von einer Dienstreise aus Osteuropa zurück und sie erzählen mir was von einem Astrologenkongress in Kairo.“

„Astrophysiker, Jan.“ Kundoban‘s schlechter, unnützer Versuch, zu schlichten.

„Mir doch egal. Ich brauche Indizien, wer hinter der Tat stecken könnte. Warum und mit welchem Motiv. Hatten die Weilham's Feinde? Oder der Hausmann? Oder alle zusammen? Das will ich wissen und nicht wie die Sterne stehen.“

Bei Remsen stiegen der Unmut und natürlich auch der Puls in ungekannte Höhen. „Verdammt lange dauert mir das. Zu viert wart Ihr dran und dann so was.“

„Ein Grashalm wird auch nicht länger, wenn man daran zieht, Jan.“ Kaum sprach sie dieses, hier und jetzt unselige Zitat aus, wusste sie: Das war blöd von ihr.

„Klar, jetzt liegen die gegrillt bei uns im Büro und alle werden satt davon.“ Grashalme, Thai-Fraß. Remsen schüttelte nur den Kopf und stand auf, um sich einen zweiten Becher dieser Brühe zu genehmigen. Er schlürfte uninspiriert zum Automaten und ließ seine Truppe am Tisch zurück. Einmal Self Pain Soup bitte.

„Remsen.“ Hansi meldete sich auf seinem Handy: „Was gibt’s Neues von der Identifizierung des Toten?“

„Ja – er ist es. Die Alte ist erstaunlich cool geblieben; nur unser Weilham wäre uns beinahe aus den Latschen gekippt. Einmal Herz, immer Herz. Ich lass die beiden jetzt nach Hause fahren.“

„Nein. Frau Weilham kann fahren, aber Georg Weilham bringst du bitte gleich her, am besten in den VR3. Ich erwarte dich dort.“ Jetzt kommt Bewegung in die Sache und Remsens Plan für heute scheint aufzugehen. Minimale Erfolge befeuern den Eifer, erleichtern weitere Schritte und hartnäckiges Nachfassen. Nur so lassen sich auch die kniffligsten Fälle lösen.

Der Vernehmungsraum Nr. 3 ist ihm von allen der Unangenehmste. Dort gibt es kein Fenster und nicht mal eine Heizung. Remsen liebt diesen Raum, weil dort die Vernehmungen erstaunlich kurz dauern. Muss wohl an der ganz speziellen Atmosphäre liegen; Remsen grinste in sich hinein. Was bisher noch niemand bekommen hat, ist immer noch sein Geheimnis: Von Hamburg her hatte er eine ganz besondere Vernehmungsmethode mitgebracht: die Qual des Stillsitzens. Eines Nachts kürzte er ganz einfach die beiden vorderen Beine des Stuhls. Jener Stuhl, auf dem die Vorgeladenen saßen, um etwa 6 bis 7 Millimeter. Seitdem achtete er peinlich darauf, dass der Stuhl niemals ausgetauscht wird und ausschließlich den Gästen vorbehalten blieb.

„Nöthe, Sie und Sie beide…“ er deutete auf die Verstärkung, „recherchieren weiter: CodeWriter; Weilham's, beide Sippen: Ob jung oder alt – heute und früher, ich will alles wissen; Hausmann ganz besonders und ach ja, gibt es schon Informationen zu Igor Abtowiz?“

„Noch nicht allzu viel Verwertbares. Er ist Inhaber einer Sicherheitsfirma, die sich interessanterweise recht seriös gibt. Nichts Auffälliges.“

„Nichts Auffälliges? Ein Russe führt ganz sauber eine Sicherheitsfirma? Klingt ganz so, als wenn ein Wahnsinniger die Klicke in Nordkorea zu Superdemokraten auf Lebenszeit ernannt hat.“

„Pole.“ Der ganz diskrete Hinweis aus dem Hintergrund kam von Kundoban. „Abtowiz ist ein Pole, kein Russe.“

„Okay liebe Leute, ab morgen sind eure Autos sicher.“ Schlechter Scherz, aber mehr fiel Remsen dazu nicht ein. „Das macht die Sache auch nicht besser. Und jetzt? Wenn bei der Sicherheitsfirma nicht mindestens eine Leiche im Keller liegt, verkaufe ich meine Vinylsammlung bei eBay – komplett.“

„Wenn es dafür Abnehmer gibt…“ Jutta Kundoban konnte sich das nicht verkneifen, denn sie wusste, dass Remsen das niemals übers Herz bringen würde und dass Safety Objects mit absoluter Sicherheit nicht sauber war. Tolles Wortspiel, so spät am Abend, fiel ihr aber erst später auf.

„Also los, worauf warten wir noch. Morgen früh um 8:00 Uhr sehen wir uns alle hier wieder.“ Remsen stand auf und wollte schon losmarschieren, drehte sich aber wiederum: „Hat jemand eine Kaffeemaschine, die er mal entbehren kann? Mit Kaffee dazu natürlich, bitte.“

Holla, aus dem Hintergrund kam eine Antwort: „Gebongt.“ Ulrich trudelte gerade heran, hatte die Frage, war wohl mehr eine Bitte, noch mitbekommen und wedelte so mit dem Arm, dass allen klar war: Morgen am heiligen Sonntag gibt es vernünftigen Kaffee.

„Was machen wir mit Weilham? Er sitzt im VR3 und wird von Minute zu Minute nervöser.“ Ulrich besaß zwar seine eigene Theorie, wie er vorgehen würde, aber er weiß, dass sein Partner bei Vernehmungen äußerst geschickt und clever vorzugehen weiß. Genau deshalb überlässt er bei Befragungen gerne Remsen das Feld.

Remsen deutete an, dass sie sich erstmal Zeit lassen und im Büro die Dokumente sichten werden. Sofern dort Luft und Temperatur wieder Normalwerte annehmen. Der Thai-Geruch war fast nicht mehr vorhanden und die Heizung voll aufdreht. Also rein.

Remsen griff sich die Fotos von der Überwachungskamera und zeigte sie Ulrich. „Sollte Weilham uns weiterhin anlügen, dass darf er gleich für heute Nacht hier einchecken. Mal sehen, welche Taktik er sich zurechtgelegt hat. Haben wir noch etwas in der Hand?“ Ulrich schüttelte mit dem Kopf und sah nicht so aus, als wenn er mit Euphorie der kommenden Befragung entgegensah.

„Herr Weilham, mein Beileid. Vielen Dank, dass Sie uns geholfen und Ihren Sohn identifiziert haben.“ Remsen machte eine Pause, auch wenn ihm das außerordentlich schwerfiel. Immerhin log der Mann nachweislich. Er wartete auf eine Reaktion, aber Weilham rutschte nur etwas unbeholfen auf seinem Stuhl umher. „Dürfen wir Ihnen was zum Trinken anbieten, Wasser oder Kaffee?“

Weilham reagierte kaum wahrnehmbar ablehnend und war mehr mit sich selbst beschäftigt, als auf die Fragen der Polizisten zu achten. „Ich will nach Hause; meine Frau ist alleine. Das ist einfach nicht gut. Ich muss zu ihr.“

„Wir haben da noch ein paar Fragen an Sie. Wenn wir alles geklärt haben, dann bringen wir Sie nach Hause.“ Ulrich mischte sich ein und versuchte Weilham zu beruhigen.

„Kommen wir noch mal auf die Dienstreisen Ihres Sohnes der letzten Woche zurück. Sie sagten vorhin aus, er hätte Kunden besucht. Wer war das genau?“ Remsen begann mit einer ganz perfiden Vernehmungstaktik; ganz harmlos anfangen und dann richtig zermürben.

„Ich sagte doch er war bei Safe Guard United; einem langjährigen Kunden, um über Budgets und Aufträge für das neue Jahr zu sprechen. Planungsphase eben, wie jedes Jahr.“

Während sein Hansi den Assistenten mimte, tippte Kundoban auf ihrem Smartphone herum.

„Wo finden wir den Kunden? Wer ist dort Ansprechpartner?“

„In Berlin, irgendwo in Mitte glaube ich. An den Namen des Ansprechpartners kann ich mich nicht genau erinnern; irgendwas mit ‚Berg‘, Linderberg oder so. Muss aber nicht stimmen; aus der Kundenbetreuung bin ich komplett raus.“

Remsen legte nach: „Und wann war Ihr Sohn beim Kunden? Bitte ganz genau Her Weilham.“

„Was wollen Sie denn? Glauben Sie mir nicht? Carsten war dort, soweit ich mich erinnere. Er fährt kurz vor dem Jahreswechsel alle Kunden an und macht mit ihnen die Planungen. Ist doch überall so – bei Ihnen nicht?“

„Unsere Kunden überlegen es sich meistens kurzfristig, ob sie mit uns in Kontakt treten. Das kann man so nicht planen. Zumindest kennen wir hier keine Planwirtschaft.“ Allgemeines Gelächter im Raum bestätigte, dass Remsen mit seiner Art des Sprüche Klopfens gerade zur Höchstform auflief. Remsen der Meister des objektiven Sarkasmus. Obwohl sich seine Kollegen nicht sicher waren, ob an ihm nicht schon Züge eines ausgeprägten Zynismus erkennbar waren.

„Vielleicht Herr Weilham können Sie jetzt noch die Angaben zu den Reisedaten nachliefern oder sind Sie da auch raus?“ Remsen ließ mit seinen sarkastischen Sprüchen nicht locker. Wenn er einmal in Fahrt war…

„Hören Sie, mein Sohn liegt da unten auf dem Seziertisch oder vielleicht schon im Kühlregal und ich soll mich hier auf Kleinigkeiten konzentrieren, die mich eigentlich nichts angehen.“ Weilham versuchte sich am Delinquenten-Aufstand; ja, er stand sogar auf und rieb sich am Hinterteil.

Schmerzt wohl etwa, dachte sich Remsen. „Hinsetzen.“ Recht schneidend kam von ihm der Befehl zur Herstellung der Vernehmungsordnung. Weilham tat es auch. Widerwillig, das sah man ihm an.

„So, und jetzt bitte Tag und Uhrzeit für alle Dienstreisen und Termine der letzten Woche Ihres Sohns.“ Bei Remsens unmissverständlicher und mit knallharter Stimme formulierten Anweisung zuckten alle etwas zusammen.

„Meines Wissens von Dienstagmorgen bis gestern Abend. Genauer müsste ich es im Reisekalender nachschauen. Hier habe ich keinen Zugriff darauf.“

Jutta Kundoban dachte wie gewohnt recht pragmatisch: „Herr Weilham, Sie sind Informatiker, Softwareentwickler, und Sie wollen uns erklären, dass Sie kein Smartphone haben? Hier auf Ihrer Website…“ sie zeigte auf ihr eigenes Smartphone „bewerben Sie Ihre Apps. Sie wissen doch was Apps sind. Oder soll ich Ihnen das erklären?“

Remsen mischte sich ein: „Ich erklär Ihnen das mit den Apps mal.“ Logischerweise hatte Remsen davon keine Ahnung, aber als Laie könnte er einen hervorragenden Schulmeister abgeben. Seine Kollegin schaute skeptisch drein.

Es war die entstandene kurze Pause, die das Gespräch ins Stocken brachte. Weilham schaute jetzt doch etwas verdutzt drein und beendete diese mit einer Gegenfrage: „Welche Frage soll ich zuerst beantworten?“

„Meine!“, mischte sich Remsen wieder ein. „Meine erste Frage nach den Dienstreisen. Dann können Sie uns gerne einen Vortrag zu Ihren Apps halten. Wir hören dann auch nicht zu.“ Wir müssen uns ja nicht jeden Unsinn anhören, dachte sich Remsen. Doch Zynismus der ausgeprägten Art, Arroganz oder eine Mischung aus beiden; das war auf jeden Fall Remsens schärfste Waffe. Selbst Ulrich musste das immer wieder anerkennen.

„Ich sagte doch, von Dienstag bis gestern.“ Er wollte in die Innentasche seines Jacketts greifen, aber wie auf ein unsichtbares Kommando sprangen Remsen und Ulrich nach vorn, um Weilham daran zu hindern.

„Lassen Sie uns das bitte machen, morgen soll ein schöner Tag werden.“ Und den will ich gerne erleben, wollte Remsen noch anfügen, aber er griff nach dem Smartphone und beließ es dabei. Die Dinger sind nicht ganz sein Ding, sodass er es gleich an Kundoban weiterreichte.

Die stand bislang an der Wand gegenüber von Weilham gelehnt, legte ihr eigenes Smartphone weg und nahm jetzt an der Seite von Weilham Platz.

„Die PIN bitte.“ Remsen erkannte, dass Weilham in dieser Phase des Gesprächs ohne Druck überhaupt nicht mehr funktionierte. Denn der schüttelte den Kopf und rührte sich nicht.

„Herr Ulrich, könnten Sie bitte mal bei der Rezeption einen späten Gast anmelden und nach einem Einzelzimmer nachfragen?“ Remsen bekam sichtlich seinen Spaß, was man von Weilham nicht sagen konnte. Aber, er war plötzlich bereit, der Polizistin seine vier Ziffern zu nennen.

Sie tippte diese ein und bekam Zugriff auf alle Apps. „Wie finde ich den Reisekalender?“

Weilham half ihr beim Navigieren, bis sie beim Kalender von Carsten Weilham waren. Kundoban machte dessen Kalender auf, suchte die vergangene Woche und staunte nicht schlecht. Nein, sie schaute richtig irritiert. Remsen merkte das natürlich und schaute verblüfft auf das Display des Gerätes, welches Kundoban ihm vor die Nase hielt: Kein Eintrag!

Weilham schaute auch verunsichert drein: „Ja, was ist jetzt? Was steht da?“

Remsen übernahm die Antwort: „Wenn Sie raten dürften, würden Sie auf ‚Nichts‘ tippen?“

„Nein, da muss was stehen. Carsten ist, äh war, recht gründlich. Sein Kalender war immer gepflegt.“ Jetzt schaute auch er verdutzt auf das Smartphone und stellte fest, dass der Kommissar nicht gebluffte. „Wie kann das sein?“

„Die Frage gebe ich gerne wieder an Sie zurück, Herr Weilham.“ Ulrich wollte auch mitmischen und brachte sich mit dieser Antwort wieder ins Gespräch ein.

„Aber er war dort. Ich habe mit ihm mehrere Male die letzten Tage telefoniert. Das können Sie doch da sehen.“ Er deutete auf sein Smartphone; jetzt in den Händen der Polizistin. Sie scrollte schon durch die Anruflisten und sah in der Tat einige Anrufe von Carsten an Georg Weilham; den letzten gestern Nachmittag, etwa 7 Minuten lang.

Remsen stand etwas abseits und war mit sich beschäftigt: Ich mag keine Karussells, aber der Gesprächsverlauf erinnerte ihn an die permanente Rückkehr zum Ausgangspunkt. So ahnungslos kann er als Firmenchef und Vater doch gar nicht sein. Fakt ist: Carsten Weilham war unterwegs, nicht allein und vor allem nicht in Deutschland.

Sein Trumpfass wollte er aber noch nicht ausspielen. Er will Weilham dazu bringen, dass er seinen Irrtum selbst korrigiert, so etwas wie eine zweite Chance erhält. Wenn Weilham nur unter den besonderen Umständen des Todes seines Sohnes die Spur verloren hat und sich nicht traut, das ohne Gesichtsverlust zuzugeben, will er ihm wenigstens eine Brücke bauen. So hat er das schon oft gemacht und damit jede Menge erreicht. Seine innere Stimme jedoch sagt ihm, dass hier was nicht stimmt und der alte Weilham, trotz des Verlusts seines Sohnes, immer noch klar im Denken ist. Also, warum lügt dieser Mensch? Was verheimlicht er uns? Und warum tut er das? Was spielt er uns hier vor?

Er muss sich mit diesen Fragen beschäftigen und Antworten finden. Heute noch. Remsen weiß, dass die ersten 48 Stunden ganz entscheidend sind, ob ein Mord aufgeklärt wird oder sich die Ermittlungen quälend lange hinziehen, bis sie dann ohne richtiges Ergebnis eingestellt werden. Außer den Ermittlern hilft ein Zufall. Daran mag Remsen nicht glauben. Andererseits ist Weilham sen. ja kein Verdächtiger, noch nicht. Zum Tatzeitpunkt war er nach gesicherten Erkenntnissen zu Hause und scheidet zumindest vorerst aus. Dumm nur, dass er falsche Angaben zur Dienstreise seines Sohnes machte, wissentlich und bewusst oder nur, weil er unter Stress stand. Es muss jetzt was passieren.

Karl-Heinz Egger, Chef der Unlimited IT Equipment AG in Vesberg, ist ein begüterter Geschäftsmann. Er ist es gewohnt, dass der Erfolg an seiner Seite ist und er die Geschicke selbst bestimmt. KHE, wie ihn Freunde und Hasser gleichermaßen nannten – von beiden gab es in seinem Umfeld jede Menge, war selbstbewusst, eigentlich mehr arrogant. Denn er sah sich als personifiziertes Alphatier; als eines jener Exemplare, die kein weiteres neben sich akzeptieren. Das machte es ihm leicht, sich gegenüber Mitarbeiter und Geschäftspartner so zu artikulieren, wie er es für richtig hielt. Kompromisse sah er immer dann angebracht, wenn sie nach seinen Vorstellungen eingegangen wurden. Er war sich seiner Starke, bestimmte die Spielregeln und überlies es allen anderen, sich diesen unterzuordnen. Jede Menge Leichen pflasterten seinen Aufstieg. Nicht Leichen im eigentlichen Sinn, sondern ehemalige Mitstreiter, die er aus recht unterschiedlichen Gründen aus dem Weg räumen musste.

Das war nicht immer so. KHE galt zu Beginn seiner Laufbahn eher mittelmäßig. Das war in der DDR damals aber kein Problem. Sein Studium schaffte er irgendwie und danach wenig motiviert, sich zielstrebig eine Karriere aufzubauen. Schnell wurde ihm klar, dass es in der ehemaligen DDR mehr Chancen des Aufstiegs und der Anerkennung gab, wenn er sich auf die staatstreue und parteipolitische Linie einließ.

Als Parteimitläufer begann er als kleines Rad im Parteiengetriebe. Egger lernte recht schnell, wie man sich unentbehrlich machen konnte. Klug brachte er sich in die Parteiarbeit ein und wurde zu einem Eiferer, der ihm neue Freunde und immer mehr Feinde einbrachte. Weil er sich als aktives Parteimitglied bewährte, wurde für ihn in einem Staatskonzern eine Position als Abteilungsleiter freigemacht.

Er gab den Wonneproppen, fühlte sich in der Aufgabe richtig wohl und drangsalierte die Mitarbeiter seiner Abteilung. Weniger aus fachlichen Notwendigkeiten heraus, mehr als Parteifunktionär und Agitator. Egger wollte aus seiner Abteilung eine Vorzeigeorganisation, vor allem in politischer Hinsicht machen. Die Partei sollte sich auf ihn und seine Mitarbeiter voll verlassen können. Denn er nahm sich Größeres vor: Er wollte der hauptamtliche Hauptparteifunktionär im Kombinat, wie man die großen Unternehmen damals nannte, werden. Das versprach ganz viel Geld, enorme Achtung ihm gegenüber und vor allem Macht. Macht, um über das ganze Unternehmen, die Generaldirektion, die Möchtegernchefs und vor allem die Mitarbeiter herrschen zu können. Dieser Weg war für ihn vorbestimmt; davon war Karl-Heinz Egger überzeugt.

Es kam anders, ganz anders.

Als die Ära des politischen Ungehorsams auch in der DDR einzog, wurde es zunächst für ihn recht ungemütlich. Einige wenige der Revoluzzer, wie Egger sie bezeichnete, setzten ihm heftig zu; Parteisoldaten wie er hatten von nun an keine ruhige Minute mehr. Glück für ihn war, dass anders als in anderen ehemals kommunistischen Frontstaaten, hier keine Hetzjagden veranstaltet wurden. Natürlich, es gab recht heftige Auseinandersetzungen mit den Reformern, aber es blieb bei Wortgefechten. Meistens jedenfalls.

Über seine Zukunft machte er sich immer noch wenige Gedanken, denn er war fest davon überzeugt, dass sich alles wieder einrenkt und so wird, wie er es gewohnt war. In diesem Verständnis war er erzogen, Alternativen dazu sah sein Lebensentwurf nicht vor. Bis zu jenem Tag, der im Oktober 89 alles, auch sein Leben veränderte. Nachdem die Parteiführung sich zum letzten Mal feiern ließ und alle Versuche, die sich anbahnenden Veränderungen bis zu diesem Tag im Keim zu ersticken relativ erfolgreich waren, verhinderte der Liebesentzug des großen Freundes Blutvergießen nach der Party. Die eigentliche Wende war da und KHE spürte es.

Egger dachte um und verließ seine Partei. Je eher, umso weniger erinnern sich die neuen Machthaber später daran, welche Rolle er in der Diktatur einmal gespielte. KHE war clever und inszenierte sich als Welterneuerer. Er setzte sich durch und übernahm die freigewordene Leitung im Unternehmen, dieses Mal als Direktor. Egger besorgte sich Bücher über Marktwirtschaft und Unternehmensführung. Nächtelang verschlang die Seiten und wandelte sich zum „Direktor gnadenlos“. So nannte ihn die Belegschaft immer mehr.

So paradox es auch klingen mag: Aus seiner Sicht kamen KHE die wegbrechenden Aufträge, später waren es ganze Märkte und der immer weniger wirksame Schutz der kommunistischen Finanzglocke zu Hilfe. Er betätigte sich als harter Sanierer und entließ vor allem jene Eiferer, die ihn selbst noch vor Kurzen aus dem Unternehmen vertreiben wollten. Obwohl monatlich die Umsätze immer weniger wurden, verstreute er bei seinen Auftritten vor der verbliebenen Restbelegschaft Zuversicht und appellierte an das Durchhaltevermögen. Egger konnte aber ebenso wenig verhindern, dass das Unternehmen der Insolvenz entgegen schlitterte, wie die Tatsache, dass damit seine Tage als Unternehmenschef gezählt waren.

Es musste Hilfe her.

Die kam in Gestalt der Treuhand. Noch vor der offiziellen Vereinigung gegründet, erhielt sie den Auftrag, die Unternehmen der DDR zu einem Spottpreis zu verscherbeln und den sogenannten Investoren den Zugriff auf neue Märkte zu sichern. Zumindest nahm Egger das so wahr und ihm konnte eigentlich nichts Besseres passieren. Da sein Unternehmen trotz der schlechten Entwicklung der letzten Monate noch über ausreichend Reputation, Wissen und gute Mitarbeiter verfügte, dauerte es nicht lange, bis er mit Anstaltsvertretern an einem Tisch saß.

Deren Plan war bereits beschlossene Sache; Egger konnte nur noch versuchen, das Beste daraus zu machen. Er nutzte seine Kontakte zu seinen damaligen Parteifreunden, von denen es einige in die Treuhand geschafften. Egger brachte Details zur geplanten Privatisierung in Erfahrung und empfahl sich bei den potenziellen neuen Eigentümern. Die Verhandlungen waren nervenaufreibend, denn die Rolle, in der er sich hierbei befand, war eher die eines Bittstellers. Und darin kannte er sich einfach nicht aus. Die Hoffnung, im neuen Unternehmen an vorderster Front mitzuspielen, schien sich lange Zeit nicht zu erfüllen. Das Unternehmen wurde für einen lächerlichen Preis einem global agierenden IT-Konzern zugesprochen; es entstand die Unlimited IT Equipment AG. Vesberg war anscheinend für die neuen Eigentümer ideal, um erst einmal hier und dann in Osteuropa gute Geschäfte zu machen.

Egger begrub beinahe seine Ambitionen, als das Schicksal es wieder gut mit ihm meinte. Aus lange für ihn unerklärlichen Gründen, zeigten die Besitzer der uIT AG doch Interesse an seiner Person, sodass recht schnell und im Stillen über seine Anstellung verhandelt wurde. KHE stieg zum mächtigen Vorstandsvorsitzenden der uIT AG auf und begann sofort, sich sein eigenes Reich zu bauen. Seine neuen Geschäftspartner brachten reichlich Kapital mit, machten klaren Vorgaben und ließen ihm jede freie Hand der Umsetzung. Egger wäre nicht Egger, wenn er diesen Spielraum nicht für sich genutzt hätte.

Inzwischen sitzt er fast 15 Jahre fest im Sattel. Mit eiserner Disziplin hat er die uIT AG zu einem erfolgreichen Unternehmen gemacht; ohne zu vergessen, Mitbewerber zu attackieren, ihnen mit legalen und durchaus auch anderen Mittel den Marktzugang zu erschweren oder gar die Kunden ganz abzuwerben. Sein Steckenpferd war von Beginn an die Geschäftserweiterung in Richtung Osteuropa. Oh, wie schön war es doch, dass die alten Kanäle und Kontakte noch immer funktionierten und sich auch dort viele ehemalige Kommunisten in Unternehmen oder Behörden festsetzen konnten.

Traumhaft!

Egger war realistisch genug, um sich seiner Sache nie sicher zu sein. Die uIT AG hatte jede Menge Feinde; viele davon befanden ganz speziell mit KHE im Streit. Denn KHE nannten ihn nicht nur Freunde. Es waren vor allem Feinde, alte Feinde, die nicht vergessen wollten. Die einen staunten ehrfürchtig, weil er trotz allem Erfolge nachweisen konnte; die anderen mit Abscheu, weil sie seine Skrupellosigkeit kannten und hassten.

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