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Читать книгу: «Schüchterne Gestalten», страница 2

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Remsen sah sich gerade mit Kundoban und Nöthe den Unfallort etwas genauer an. Von der Spurensicherung hatten sie sich dafür Lampen besorgt.

„Wissen Sie Jutta, das Ganze hier ist entweder wirklich nur ein Unfall oder eine ganz große Sauerei.“ Remsen begann wie immer sehr früh mit seiner Analyse.

„Der Tipp ‚Sauerei‘ stimmt in jedem Fall.“ Kundoban hatte auf ihre Art sicher Recht.

Remsen mochte sie – hier aufgewachsen, in NRW Kriminalistik studiert und noch ein paar Praktika in Skandinavien und Irland drangehangen. Im Team war sie noch nicht so lange, machte sich aber erstaunlich gut. War sogar richtig zuverlässig. Was sie sonst noch so macht, privat zum Beispiel, hatte Remsen bislang nicht in Erfahrung bringen können. Bis auf ein paar gemeinsame unverfängliche Abende im Refill ging nichts. Nein, Ambitionen hegte er nicht, denn er könnte fast als ihr Vater durchgehen. Sein Instinkt sagte ihm aber, dass sie … na mal sehen.

„Hier fahren doch regelmäßig Autos lang, gegen 10 Uhr abends doch sicher noch so viele, die den Hirsch, den Unfall oder was auch immer bemerkt haben müssten. Liegt keine Meldung vor?“

„Ich kümmere mich sofort darum.“ Nöthe wollte bei Remsen wieder Boden gutmachen und sich als fleißiger Assistent beweisen.

„Bitte gleich, besser sofort.“ Remsen hatte nämlich genau dieses Detail in der selbstformulierten Anweisung von Nöthe vermisst.

„Ja, ja.“ Nöthe war schon fast unterwegs.

„Und bekommen Sie raus, wer hinter CodeWriter steckt.“ Bisschen Arbeit kann nicht schaden. Unser Assistent sah richtig schläfrig aus, dachte sich Remsen.

„Wissen Sie Jan, solange es nicht hell wird, werden wir wohl auf weitere Erkenntnisse warten müssen.“

Jutta Kundoban war erst knapp ein Jahr bei der Mordkommission; der W36 wurde sie jedoch erst vor kurzem zugeteilt. Sie sollte von Remsen und den anderen lernen. Bislang bereute sie ihre Versetzung nicht. Remsen war nicht so ein Einzelgänger, wie alle von ihm dachten. Ja, er war manchmal wie ein alter Kauz, zu direkt und wirkte dadurch abweisend. Aber Jutta mochte ganz gerne mit ihm arbeiten, war er doch der Beste in der Truppe. Aber auch der Unbeliebteste.

„Was haben wir bis jetzt?“ Remsen beantwortete seine Frage gleich selbst. „Einen kapitalen Hirsch, nicht mehr unter uns, der nach Aussagen der Kriminaltechniker scheinbar erst nicht bei der Überquerung der Straße seine letzten Schritte machen durfte. Ein demoliertes Auto, welches in Vesberg auf eine Firma CodeWriter zugelassen ist. Oder war. Und eine unbekannte Tote. Kein Hinweis wer sie war, wo sie herkam und wohin sie wollte“.

„Doch, Osteuropäerin.“ Reiken trat zu den Kollegen der Mordkommission. „Dr. Ansbaum hat so eine Ahnung. Nein, Jan“, Reiken hob die Hand, „es gibt keine Hinweise darauf, aber du weißt ja, so schlecht sind seine Deutungen noch nie gewesen.“

„Zu spekulativ.“ Remsen entwickelte keine Lust auf großes Kino am Wochenende. „Wenn wir wissen, wer hinter CodeWriter steckt, werden wir dort einen Besuch abstatten. Vielleicht sind die Herren schon bei der Arbeit.“

„Oder Damen. Immerhin haben wir eine weibliche Leiche“ Kundoban achtete gerne auf Gender-Korrektheit. „Kann ja sein, dass die Firma von Frauen geführt wird. Nicht ungewöhnlich in Vesberg, sind doch damals in der DDR beide Geschlechter ausgebildet und zum Arbeiten genötigt worden. Egal ob ein Kind da war oder nicht.“

Mit damals meinte Jutta Kundoban die Zeit der Staatsdiktatur, die sie noch als Heranwachsende miterlebt, aber nie verstanden richtig hat. Jutta pflegte deshalb zu ihrer DDR-Vergangenheit ein eher entspanntes Verhältnis, was ihr einige Leute aus ihrem Umfeld übelnahmen.

Gerade die ältere Generation im Osten Deutschlands betrieb noch immer einen eigenartigen Umgang mit dieser Zeit. Während die Profiteure von einst, Parteigänger, Mitläufer, Schmarotzer, die diktatorischen Vorzüge und die sozialen Wohltaten priesen und wieder zurückhaben wollten, üben sich die Gewinner der friedlichen Revolution in Anklage und Verdammung.

Remsen wusste, dass Jutta in der DDR geboren und aufgewachsen war und kannte aus vielen Diskussionen ihre Variante vom Verständnis der Zeit ‚damals‘. Er selber tat sich schwer damit und folgte meist stumm den unendlich langweiligen Erzählungen von ‚damals‘. Okay, nicht ganz fair, aber es ging ihm schlicht nichts an und er wollte überhaupt nichts mit dieser Zeit zu tun haben.

„Entweder ist die Tote eine Angestellte von CodeWriter oder das Auto geklaut worden. Soll recht oft vorkommen, in der Gegend.“ Jetzt teilte Reiken seine Idee. Er verfolgte anscheinend den Verdacht, dass das Auto für eine illegale Grenzübertretung Richtung Osten geklaut war und in der Nacht hergerichtet werden sollte.

„Wenn jemand ein Auto klaut, dann tauscht man doch sofort die Schilder aus, oder nicht?“ Remsen hing der Theorie nach, konnte ihr aber nichts Entscheidendes abgewinnen.

„Vielleicht hatte es jemand erst unmittelbar davor gestohlen!?“ Reiken ließ nicht locker. Es war halb eine Frage, halb eine Feststellung. Ein Gestochere.

„Liegt eine Meldung vor, Nöthe?“ Remsen schielte nach seinen Assistenten. Von dem war weit und breit nichts zu sehen. Macht nichts, der wird kein ruhiges Wochenende haben, dessen war sich Remsen sicher.

„Kann ja sein, aber was macht dann ein Hirsch auf der Straße? Wollte den Autoklau verhindern und ist dabei selbst zu Schaden gekommen?“ Jutta musste selbst über ihren Gedanken lächeln.

„Ein toter idealistischer Hirsch? Vielleicht haben die es tatsächlich besser und ein Leben nach dem Leben.“ In einer Gourmetpfanne wollte Remsen noch hinzufügen. Jetzt war er wieder der, so wie ihn seine Kollegen kennen – der beste und bekannteste Zyniker in Vesberg.

„Hier können wir nichts mehr ausrichten. Jutta, Sie fahren mich nach Hause und halten dann die Stellung in der Arkadenstraße. Wir treffen uns später dort.“ Vielleicht fiel noch etwas Schlaf für ihn ab. Remsen fühlte sich hundemüde.

„Günther ich will, dass bei Tagesanbruch das ganze Programm anläuft. Also mit Rekonstruktion des Tathergangs, Untersuchung der Unfallstelle, Durchkämen des Waldes bis zur Autobahn, Hubschrauber mit Wärmebild, KTU vom Unfallwagen, Abschlussbericht der Obduktion. Die Straße bleibt komplett gesperrt. Sobald ihr was rausbekommen habt, will ich es wissen. Abfahrt Jutta.“

Auf der Rückfahrt dudelte das Radio. Beide hingen ihren Gedanken nach, wollten sich erst einmal ihre Theorien selbst zurechtlegen, Wissen und Spekulationen voneinander trennen. Für diese Konzentrationsübung braucht es keine Gesprächspartner. Jutta Kundoban lernte recht früh, dass die Klarheit der eigenen Überlegungen immer auch gut für den Fall und die immer notwendige Selbstdarstellung ist. Also suchte keiner von beiden das Gespräch.

Jutta kannte Remsens Adresse ohnehin, sodass es keinen Grund für irgendwelche Kommunikation gab.

Remsen bewohnte eine geräumige Dachgeschosswohnung, eine 3-Raumwohnung wie man hier sagt, in einem, gut einhundert Jahre alten Haus. Entweder hatte es den Krieg überstanden oder es mit wenig Liebe zum Detail danach wiederaufgebaut. Altbau eben, funktional und in die Jahre gekommen. Für Remsen war es ausreichend, denn die Wohnung hatte neben der Nähe zum Refill durchaus ihre Vorteile. Sie lag in einer ruhigen Nebenstraße, in der es immer Parkplätze gab. Seine Wohnung im Dachgeschoß war die einzige Wohnung. Damit verschonte er seine Nachbarn von seinen musikalischen Vorlieben, wenn er nachts und ohne Ohrschützer in diese, in seine Welt abtauchte.

Noch im Mantel suchte er gezielt in seiner Vinylsammlung nach einem seiner Lieblingsalben; genau die richtige Platte für jetzt. Gefunden! Van Morrisons „Astral Weeks“ sollte es sein. So richtig schon laut, wie immer auf dem Boden liegend, wollte er seine Gedanken sortieren. Zweimal dreißig Minuten, dann unter die Dusche und ab in die W36, sein Büro wie er die Wache in der Arkadenstraße nannte.

An Schlaf war nicht mehr zu denken. Obwohl…

Van Morrison versuchte sich an „In The Beginning“. Dazu röhrte ein Hirsch in weiter Ferne Was für ein Exemplar? Wollen wir ihn gleich erledigen? Die blonde Russin neben ihm vertrat die Absicht, mit dem Wagen weiter heranzufahren. Warum ist Van Morrison so leise. Ja, vielleicht steht der Hirsch wieder auf und reitet mit uns weg. Und überhaupt, wo kommt das viele Blut an der Russin her?

Sein Telefon weckte ihn unsanft.

Remsen fand den Hörer erstaunlich schnell und öffnete nur rein mechanisch den Mund: „Ja?“

„Jan, wir haben jede Menge Arbeit.“ Jutta Kundoban klang etwas gehetzt.

„Ja, ja, ich weiß. Muss wohl eingeschlafen sein. Ich komm gleich“. Remsen war es sichtlich peinlich, dass seine Selbstdisziplin nicht mal die erste Seite von „Astral Weeks“ überdauerte.

„Wir haben eine zweite Leiche.“ Jutta musste es schnell loswerden.

„Noch eine Frau? Wieder aus Osteuropa? Oder jetzt zur Abwechslung mal ein Elch?“ Remsen hatte sich erstaunlich schnell wieder im Griff und mit Sarkasmus gewürzt fanden seine Gedanken ungeprüft und ganz spontan den Weg in das Telefon.

„Wir sehen uns an der Unfallstelle Jan. Sie wissen wo.“ Jutta Kundoban wurde sauer, weil Remsen sie nicht ernst genommen hatte. Und sie tat etwas Mutiges– sie legte einfach auf.

„Okay, ich fahre jetzt selbst.“ Remsen legte auf und bekam nicht mit, dass er mit sich selbst telefonierte. So schnell wie er geduscht und wieder in neuen Sachen im Auto saß, hatte er es noch nie geschafft. Er sollte mal einen Wettbewerb daraus machen, befand er.

Seinen Buick Enclave liebte er über alles. Sein Monster, wie er ihn liebevoll nannte, denn darin kann er im Prinzip die ganze Mordkommission mitnehmen. Vor allem, weil er sich schon beim Kauf einen Sound nachinstallieren ließ, den wahrscheinlich noch niemand so gehört hat. Astrein, glasklar und mit jeder Menge Volumen; fast wie in einer Konzerthalle. Dieser schwarze SUV ist ohnehin ein Unikat. Nicht nur in Vesberg. Er erinnerte sich an den Papierkram, bis er das Gefährt endlich in Deutschland zulassen konnte. Es ist sein zweites Zuhause und leider einen riesengroßen Nachteil: Für Observationen ist es denkbar ungeeignet. Das hatte Remsen nicht bedacht und tauscht seinen Buick trotzdem nicht ein. Stattdessen musste er dann auf den Flottenbestand der W36 zurückgreifen.

Der kleine Bäcker um die Ecke hatte noch auf, obwohl die am Sonnabend immer so früh zumachen. Ein unschätzbarer Vorteil, einen richtigen Bäcker in Reichweite zu haben. Remsen schätzte schon, dass einige seiner neu erworbenen Kilo auf das Konto genau dieses Bäckers gehen. Er müsste mal mit dem Meister darüber reden; müsste mal…

„Wollen Sie auch Bohnenkaffee? So wie immer Herr Kommissar?“ Mit der freundlichen Verkäuferin war er fast schon befreundet. Denn immerhin reichte neuerdings ein Anruf und kurz danach hängt die Einkaufstüte an seiner Wohnungstür. Vielleicht gewöhnt er sich doch noch an Vesberg. Nichts ist unmöglich…

Sein Buick steuerte fast alleine Richtung Autobahn. Noch eine Leiche. Wer oder was ist eigentlich CodeWriter?

Die Nachrichten liefen inzwischen und berichteten von einer Straßensperre auf dem Autobahnzubringer. Seit der Nacht schon. Remsen registrierte erst nach der Nachricht die Meldung und rätselte, was der Nachrichtensprecher gesagt haben könnte. Aber er hatte eine Idee und wählte die Nummer seines Assistenten.

„Nöthe, was haben Sie über CodeWriter herausbekommen?“ Vielleicht konnte er doch was in Erfahrung bringen. Darauf spekulierte Remsen ein wenig.

„Ja, Chef. Das ist eine Softwarefirma. Die wird von einem Georg Weilham und einem Karl Hausmann geführt. Nichts Auffälliges. Kleines Team. Meistens in den schwarzen Zahlen. Sind wohl bei einigen Ministerien und Forschungseinrichtungen in der Gegend und deutschlandweit im Geschäft. Verkaufen Software für Sicherheitssysteme. Selbst entwickelt. Die soll wohl richtig gut sein.“

Remsen wurde neugierig: „Sind die auch im Ausland aktiv? In Osteuropa vielleicht?“

„Kann ich leider noch nicht sagen.“ Mit nur einer einzigen Frage war Nöthe schon wieder verunsichert.

„War die Tote eine Angestellte von denen? Konnte die schon identifiziert werden?“ Remsen machte wie gewöhnlich Druck und verunsicherte Nöthe damit weiter.

„Nein, noch nichts rausbekommen. Hausmann befindet sich im Jahresurlaub, ist wohl in Südamerika und Weilham ist wie jeden Sonnabend auf Selbstfindungstrip.“

Wahrscheinlich hinter der Grenze, um seine Kondition im Bett zu testen, murmelte Remsen vor sich hin.

„Was haben Sie gesagt?“ Nöthe wollte sich wieder fangen und vor allem Remsen beeindrucken.

„Nichts, nichts. Nöthe. Woher wissen Sie das?“, wollten Remsen wissen.

„Hat mir seine Frau gesagt; die vom Weilham. Wer mit dem Auto gestern Abend unterwegs war, wusste sie angeblich nicht. Vielleicht ihr Sohn.“

„Nöthe, gute Arbeit.“, lobte Remsen. „Fahren Sie zu dieser Frau und holen Sie aus ihr alles raus, was wir wissen müssen. Ach ja Nöthe, noch was: Ich habe ich den Nachrichten von einer Straßensperre heute Nacht auf dem Autobahnzubringer gehört. Und zwar bevor wir dort waren. Das kommt mir komisch vor. Prüfen Sie das mal. Bis später.“

Remsen stieg aus seinem Buick aus.

„Wer ist es? Wo ist er? Todesursache?“

Die Fragen kamen wie ein Stakkato und prasselten auf die armen Kriminaltechniker wieder. Nur auf Kundoban nicht, denn die wusste inzwischen sehr genau damit umzugehen.

„Richten Sie sich auf eine kleine Wanderung ein. Da hinten im Wald ist die Fundstelle.“ Kundoban ging voraus.

„Fundstelle? Gleich Tatort?“ Remsen kam mit so ungenauen Angaben einfach nicht klar.

„In diesem Fall wohl eindeutig ja.“ Jutta Kundoban hatte recht verlässliche Informationen, dass es genau dort passiert ist.

„Haben wir schon einen Namen, eine Idee wer es sein könnte?“ Remsen hatte immer noch den Kaffeebecher von seiner Bäckerei in der linken Hand. Obwohl der Kaffee längst kalt war, brauchte er seinen Koffeinspiegel, um klar denken zu können. Selbst wenn er kalten Kaffee nicht ausstehen konnte, kam wegwerfen nicht in Frage.

„Kann ich ein Stück davon haben?“ Da Jutta inzwischen die kleine Tüte vom Bäcker trug, schielte sie schon mal rein. Ihr Hunger machte sie unberechenbar. Das wusste Remsen ganz genau.

„Nur zu, ich hab schon. Und Sie ohnehin mit eingerechnet.“ Charmant wie immer erteilte er Jutta Kundoban die Erlaubnis, sich zu bedienen.

Auf dem Weg zur Fundstelle, wie Kundoban den Ort nannte, dem sie sich inzwischen näherten, waren beide mit Essen beschäftigt. Von Reiken wollte sich Remsen nicht wieder eine Ohrfeige einholen, deshalb behielt er den inzwischen leeren Kaffeebecher bei sich und enthielt sich jeglicher Entsorgung.

„Wie ist es passiert?“ Es war jetzt Reiken an der Reihe, Fragen zu beantworten. Nebenbei erteilte Remsen ihm kurzerhand mit der Übergabe des Kaffeebechers den Auftrag, diesen kriminalermittlungstechnisch korrekt zu entsorgen. Nach seiner Meinung die beste Lösung; für alle Beteiligten.

„Wahrscheinlich wie immer. Typisches osteuropäisches Muster. Erst windelweich klopfen, dann ausziehen und an den Füßen aufhängen. Wie so ein Schwein, welches abgeschlachtet wird. An genau den Stellen geschickt angeschnitten, sodass das Blut möglichst schnell, nicht zu schnell, entweicht und die arme Sau übel verblutet.“

Man sah Reiken an, dass ihn die Schilderung des mutmaßlichen Tathergangs an die Nieren ging.

Der Tote war inzwischen abgeschnitten und lag auf einer Plane, zugedeckt.

„Wie lange hat’s gedauert Doc?“ Remsen traf an diesem Tag schon zum zweiten Mal auf Dr. Ansbaum.

„Würde sagen keine Stunde. Muss so kurz nach Mitternacht gewesen sein. Mehr kann ich noch nicht sagen.“ Dr. Ansbaum hatte regelrecht aufgequollene Augen und bräuchte sicherlich mehrere Tage Schlaf. Wie Remsen auch, irgendwie.

„Ja, ja, unter Vorbehalt. Ich weiß. Sonst irgendwelche Besonderheiten?“

„Nicht erkennbar.“ Dr. Ansbaum wollte nur noch seine Arbeit machen und dann möglichst schnell in sein geliebtes Reich, in die Pathologie. Dort fühlte er sich wohler; würde sich doch dorthin kaum jemand verirren und ihm dauernd Fragen stellen.

„Wir haben die Hunde im Auto riechen lassen. Die haben recht schnell die Fährte aufgenommen und uns zur Leiche gebracht. Kein schöner Anblick Jan.“ Günther Reiken sah ein, dass er nicht nur heute, sondern auch noch den Sonntag wird abschreiben müssen.

„Und heute Nacht wussten wir nicht, dass die Frau in dem Auto nicht alleine unterwegs war?“ Remsen schaute in die Runde und suchte nach jemand, der ihm eine plausible Antwort darauf gehen würde. Allerdings war nur betretenes Schweigen, was er zurückbekam.

Dann meldete sich Reiken doch noch: „Wir werden das Auto auseinandernehmen. Irgendetwas muss zu finden sein. Den ersten Anzeichen nach waren mehr blonde Haare der Toten auf der Beifahrerseite zu finden, obwohl sie eindeutig die Fahrerin war. Meine Kollegen von der Spurensicherung sagten mir, dass sie aber mehr Schuppen und Haare vom Toten auf der Fahrerseite gefunden haben. Vielleicht haben die zwischendurch gewechselt. Keine Ahnung, wir finden das raus. Jan, das ist jetzt kein Unfall mehr. Es ist dein Fall. Viel Glück.“

„Klarer Fall von Ablenkung.“ Jutta Kundoban hatte so einen Gedanken. „Es sollte wie ein Unfall aussehen. Man hat die Beifahrerin auf die Fahrerseite bugsiert, um mit dem Fahrer noch ein Gespräch zu führen. Bevor auch er…“

„Klingt nach einem schlecht konstruierten Krimi, Jutta.“ Remsen war anderer Ansicht, aber welcher konnte auch er nicht sagen.

„Und noch was“, mischte sich Reiken ein. „Die Veterinärer haben sich den Hirsch oder das was davon noch übrigblieb, genauer angesehen. Der war schon einige Zeit tot, mindestens ein, zwei Tage und hatte einige unerklärliche Druck- oder Reibungsstellen. Als wenn das Fell von Seilen oder so abgerubbelt worden war.“

„Also hat jemand das Tier ganz bewusst geschossen und gezielt auf die Straße gelegt. Wenn dahinter ein Plan steckt, dann auch eine größere Logistik. Der Zeitpunkt musste ganz genau gewählt und der Verkehr auf der Straße angehalten werden. Wer kann so etwas?“

Remsen ahnte langsam auch, dass es mehr als ein Routinefall werden könnte. Hoffentlich nicht wieder so eine Mafia-Geschichte, die nur Ärger und nie einen Erfolg einbringt. Europa und die Öffnung bringen eben nicht nur Gutes mit sich.

„Doktor, wann können Sie uns mehr zu beiden Toten sagen?“ Irgendwo musste Remsen ja anfangen.

„Die Verabredung um 12 Uhr zum Essen kann ich jetzt nicht mehr einhalten. Bis zum Abend haben Sie den ersten Bericht, sicher noch nicht vollständig.“

„Gut, gut. Bis dahin kümmern wir uns mal um die CodeWriter. Vielleicht kann die Überwachungskamera von der Grenze was liefern. Schaut so aus, als ob die beiden tatsächlich in Polen oder woanders unterwegs waren.“

„Haben wir schon angefragt. Wir bekommen die Aufnahmen zugeschickt.“ Jutta Kundoban hatte für Remsen diese gute Nachricht parat.

„Doc., wenn Sie was rausbekommen haben, rufen Sie mich bitte gleich an – okay?“ Wer weiß, was hier noch alles los ist. „Bitte!“ Remsen wusste, dass genau dieses Wort bei Dr. Ansbaum Berge versetzte.

„Fahren wir zusammen?“ Remsen verspürte Gesprächsbedarf und wieder etwas Hunger. Solange Jutta Kundoban die noch halb gefüllte Tüte festhielt, hatte er schlechte Karten.

„Gerne, ich bin eh mit einem der blauen Taxen hier rausgefahren.“ Auch sie liebte den Komfort des Buick und diesen klasse Sound, auch wenn es nur für die eine Fahrt war.

Remsen steuerte seinen Buick wieder Richtung Vesberg und hoffte auf mehr Informationen. Deshalb hatte er den Nachrichtenkanal eingestellt, der regelmäßig, sogar viermal in der Stunde neue Nachrichten brachte. Manchmal konnte man sich schon wundern, woher und vor allem wie schnell die an neue Informationen kommen. Vielleicht sollten wir den einen oder anderen für uns rekrutieren.

„Haben wir schon was Neues von Nöthe und seiner Frau?“ Remsen nahm den Gesprächsfaden wieder auf.

„Wieso Frau? Nöthe hat meines Wissens keine Partnerin, aktuell zumindest.“ Kundoban war etwas irritiert.

„Nein, nein. Ich habe ihn zu einer Frau Weilham geschickt. Das ist die Frau eines der beiden Geschäftsführer der CodeWriter. Er ist wohl nicht da, sonnabends immer auf Selbstfindungskurs. Nöthe soll rausbekommen, wer das Auto gefahren hat, wer die beiden Toten sind usw. Vielleicht taucht Weilham inzwischen bei seiner Frau oder in seiner Firma wieder auf.“

Jutta Kundoban saß etwas gedankenversunken auf dem Beifahrersitz und traktierte ihr Smartphone. Das ist eine andere Generation, dachte sich Remsen. Die bekommen heute schon so ein Ding mit Internetanschluss in die Wiege gelegt.

„Also wenn ich das hier richtig sehe, dann gibt es in der Firma zwei Weilham's. Der eine, Georg Weilham scheint der Geschäftsführer zu sein, sein Sohn, nur Weilham jun. auf der Website genannt, ist auch mit dabei. Account Manager, was immer das sein soll.“

Jutta strahlte, weil sie mit dem kleinen Ding mehr Informationen zu den Ermittlungen beisteuerte als der kleine Benjamin. Der verstand es immer noch nicht, sich vorteilhaft in die Ermittlungen einzubringen.

„Finden Sie raus, wo der wohnt. Nöthe ist bei einem Weilham in der Nähe von Vesberg, wahrscheinlich beim Senior. Da kann der junge Weilham auch nicht weit weg sein.“ Remsen kombinierte und sinnierte. „Hoffentlich ist das nicht unser Freund im Wald. Ich meine, der Junior. Vom Alter her ist es jedenfalls nicht der Alte.“

Jutta Kundoban telefonierte sofort mit der Zentrale und gab die Anweisung weiter.

Remsen hatte schon wieder seine Telefonliste auf dem Display aktiviert und ließ die Nummer von seinem Assistenten, Benjamin Nöthe wählen. Vielleicht wird doch noch mal was aus dem. Remsen muss ihn nur fordern. Es wäre aber besser, für ihn und vor allem für uns hier, wenn er auf egal was, jedenfalls etwas Anderes umschulte.

Nach mehrmaligem Wiederholen baute sich endlich eine Verbindung auf, das Klingeln war äußerst schwach. „Ja, Kriminalassistent Nöthe hier.“

„Remsen – was erreicht bei der Weilham?“ Remsen machte es kurz und kam wie immer gleich zur Sache.

„Moment, ich gehe mal schnell vor die Tür.“ Anscheinend war Nöthe nicht allein.

„So, jetzt. Soweit sie weiß, kommt ihr Mann am Nachmittag zurück. Wegen der Geschäfte von CodeWriter kann sie nicht viel sagen, da hat sie keinen Einblick. Sie weiß nur, dass ihr Mann oder irgendwer von der Firma Kontakte zu neuen Kunden nach Osteuropa aufgebaut hat. Vielleicht in die Ukraine, aber genau weiß sie es auch nicht.“

Für den Nöthe war das schon fast ein vollständiges Referat, doch Remsen hatte einfach keine gute Meinung von seinem Assistenten. Normalerweise bekommt der keinen formal richtigen Satz zustande.

„Das Auto von heute Nacht; haben Sie da was erfahren können?“, wollte Remsen wissen.

„Nur, dass sie es kennt und es als Poolfahrzeug von den Mitarbeitern und regelmäßig von ihrem Mann genutzt wird. Wer gestern damit unterwegs war, konnte sie nicht sagen. Wenn ich eine Einschätzung geben darf: Mir scheint es so, dass sie wirklich nicht viel weiß.“

„Nöthe, überlassen Sie das einfach mir. Bringen Sie mir Fakten und Informationen.“ Er legte auf.

Jeder hing jetzt seinen Gedanken nach. Die Anspannung, die Müdigkeit. So nach und nach spürte jeder den Druck, den dieser Fall ausgelöst hat. Und niemand weiß genau, was die Ermittlungen noch alles an Arbeit und Nachtschichten bringen werden.

CodeWriter. Osteuropa. Unfall? Mord? Vielleicht ein Unfall und ein Mord? Nein, an dem Hirsch wäre bei normalem Unfallverlauf niemand gescheitert. Hier wurde kräftig nachgeholfen. Genickbruch die Frau; am Baum aufgeknüpft und arg zugerichtet der Mann. Die Geschichte ist mit größter Sorgfalt und nicht unerheblichem Aufwand vorbereitet worden. Generalstabsmäßig sozusagen. Das gelingt keinem Gelegenheitstäter. Wer hat was gegen CodeWriter? Oder sind die beiden nur zufällig zwischen die Fronten geraten? Jede Menge Fragen und noch keine Antworten.

Das machte Remsen nervös und vor allem hungrig.

„Pizza oder Thai?“ Die erste Frage nach der Ankunft in seinem Büro galt der Wahl des Mittagsmenüs. Jutta Kundoban ist da eher für die traditionell leichtere Kost zu haben, aber heute; sie sollte eigentlich nicht. Aber an so einem Tag darf man mal über die Stränge schlagen und sich seit langer Zeit wieder eine, na ja nicht ganz so gesunde Pizza gönnen. Obwohl lecker sind die schon, manchmal jedenfalls.

„Kriminalhauptkommissar Remsen.“ Das Telefon brachte die Reihenfolge in der Aufmerksamkeit durcheinander.

„Ja guten Tag, hier ist Dr. Mayer, der verantwortliche Redakteur der Nachrichtenredaktion. Ich wurde gebeten, mich bei Ihnen wegen der Straßensperre heute Nacht zu melden. Sind Sie der richtige Ansprechpartner dafür?“ Remsen bestätigte das mit einem Grunzen.

„Also, wir hatten eine Information, dass Autofahrer bei uns im Sender angerufen haben und wissen wollten, was auf dem Autobahnzubringer los ist. Es gab wohl eine Straßensperre, in beide Richtungen. Sie wissen ja, die Leute sind hier immer so neugierig und wollen gleich alles genau wissen. Als ob wir im Sender immer alles wissen und die Straßensperre aufheben können.“

„Ja und, das müssen Sie in den Nachrichten gleich melden, oder was?“

Obwohl Kundoban schon auf seinen Fingerzeig hin für beide die Bestellungen abgab und die Pizza bald geliefert werden würde, wurde sein Hunger unendlich größer, als das Interesse für eine Straßensperre jemals sein könnte.

„Wann waren etwa die Anrufe? Wie viele waren das denn? Können Sie das überprüfen?“

„Ich habe eine Liste hier. So etwa 20 Anrufer, nicht alle sind identifizierbar.“ Dr. Mayer begann die Zeitpunkte und Namen aller Anrufe und die dazugehörigen Telefonnummern herunterzurasseln.

„Stopp, stopp. Sie haben sicher ein Faxgerät. Schicken Sie es bitte rüber. Das kann sich ja sonst keiner merken. Was heißt eigentlich ‚nicht identifizierbar‘?“ Remsen kaute mal wieder auf seinem Stift rum.

„Da war keine Nummer mit dabei. Anonym. Wahrscheinlich haben die Anrufer das ausgeschaltet.“

„So, und dann haben Sie daraus gleich eine Headline gemacht?“ Wenn der Mayer nicht gleich die Hosen runterlässt und quatscht, lasse ich ihn vorladen, durchdachte Remsen die nächsten Schritte.

„Nein, wir haben bei der Feuerwehr, der Polizei und der Straßenverwaltung nachgefragt. Immerhin ist das eine der wichtigsten Straßen, um nach Vesberg oder wieder hinaus und um zur Autobahn zu kommen. Niemand wusste von irgendwas, alles sonderbar. Wir haben einen Ü-Wagen Richtung Autobahn geschickt. Die Kollegen haben tatsächlich Sperrschilder gefunden und Autofahrer, die entnervt umgedreht haben. Niemand dort wusste was los ist.“

„Wann war das?“

„So gegen halb zehn etwa, vielleicht etwas später.“ Dr. Mayer gefiel das Kreuzverhör am Telefon nicht.

„Und ihr Pressefuzzis seid dann weitergefahren?“

„Nein, die Kollegen hatten Order umzudrehen und eine Kurzmeldung für die nächste Sendung daraus zu machen. Damit wir wenigstens das Thema auf dem Radar haben. Man weiß nie.“

Remsen roch sie schon, bevor die Tür aufging. Der Wachhabende brachte seine Pizza. Auch Kundoban saß schon ziemlich unruhig vor ihrem Bildschirm.

„Dr. Mayer, danke bis hierhin. Schön, dass Sie angerufen haben. Sie haben uns wirklich geholfen. Ich warte auf hr Fax und rufe Sie später noch mal an.“

„Bin aber nur noch bis 18 Uhr im Dienst, dann erst morgen Abend wieder.“ Dr. Mayer wollte sich offensichtlich aus der Sache herauswinden. Mit der Polizei und irgendwelchen Ermittlungen nichts zu tun haben.

„Dann geben Sie bitte dem Wachhabenden Ihre mobile Nummer durch und sorgen Sie dafür, dass Sie immer erreichbar sind, okay? Ich verbinde Sie jetzt mit der Zentrale. Bis später.“

Remsen stellte das Telefonat zurück an die Zentrale. Mit unerträglichem Heißhunger stürzte er sich auf seine Pizza, bevor diese eine Chance hatte, kalt zu werden.

„He, he – wir sind hier nicht bei den wilden Vandalen. Und Zeit haben wir auch. Vorerst kommen wir hier nicht weg.“ Jutta Kundoban war Remsen schon voraus und amüsierte sich über die Art und Weise, wie ihr Kollege die Pizza förmlich verschlang.

„Wer war sie? Wer war er? Da müssen wir anfangen. Wir brauchen Profile von beiden und müssen alles von CodeWriter rausbekommen. Ich setze 10 zu 1, dass der Tote am Baum Weilham jun. ist. Gibt’s keine Fotos, in den sozialen Netzwerken oder so? Heute wird doch jeder Mist veröffentlicht. Surfe mal im großen Teich danach. Solange…“, er schluckte und würgte sich, denn er war ja noch mit der Pizza im Gefecht.

„Langsam Jan, sprechen und essen nacheinander. Sie wissen doch, Ihr Männer seid einfach nicht Multitasking-fähig. Also versuchen Sie es doch gar nicht erst.“ Kundoban fand es witzig, ihren Kollegen mal wieder zu ärgern. Solange sie sich inzwischen kennen und miteinander arbeiteten, war es fast immer ein Running Gag.

Jan Remsens Hunger war ebenfalls gestillt, die Pizzaschachtel wanderte rein zufällig auf die seiner Kollegin; die Vorzüge der Hierarchie.

„Keine Widerrede, ich besorge den Kaffee.“ Remsen war schon fast durch die Tür, als er sich für seine Art der Entsorgung entschuldigte. „Das mit den Vandalen sehe ich übrigens anders.“ Und raus war er.

Na, wenigstens besaß er Anstand, auf seine Art, freute sich Kundoban und brachte die Verpackungen weg. Der Nachmittag wird heftig werden, so viel war jetzt schon klar. Aber die Frage war doch, wer steckt hinter beiden Morden. Wie es aussah, war das Ganze richtig gut vorbereitet. Organisiertes Verbrechen? Osteuropäische Mafia? Wenn ja, welche?

Was macht eigentlich CodeWriter? Klingt so, als wenn die Software programmieren. Zumindest stand es so auf der Website. Jutta schmunzelt: Sie ist mit dem Internet, den vielen Netzwerken und Kontakten und den E-Mails und SMS groß geworden; aber sie hat überhaupt keine Ahnung, was dahinter an Technik und Software gebraucht wird, um all die Information und Kommunikation zu ermöglichen. Alles funktioniert so reibungslos, Tag und Nacht, weltweit. Toll, dass sie heute völlig anders kommunizieren können als noch wenigen Jahren. Remsens Kommunikationsstrategie kannte sie schon: abends im Refill. Da erfuhr er alles.

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