Читать книгу: «Schüchterne Gestalten», страница 11
„Jetzt verstehe ich wirklich nichts mehr. Um was streiten die sich?“ Jutta schaute Bit fragend an. „Was bitte Bit ist eine Backdoor? Ein Hintereingang oder so?“
„Angeblich kann CodeWriter illegal Verbindungen zu Kunden aufbauen, die deren Software einsetzen. Einmal im Netz der Kunden drin, können die wohl mit Agenten, das sind kleine Programme, die bei hergestellter Verbindung eingeschleust werden, gezielt nach Informationen suchen und diese zu sich übertragen.“
„Ach, du sprichst von Trojanern. Das habe ich schon einmal gehört.“ Jutta fühlte sich wieder auf etwas sicherem Terrain.
„Vereinfacht gesagt, ja. Aber in Wirklichkeit geht das heute viel komplexer ab. Man kann über die Rechner seiner Kunden weiter in andere Firmennetze eindringen, die mit den Kunden der CodeWriter zusammenarbeiten. Wie weit man das treiben kann, hängt vom Geschick der Entwickler ab.“ Das letzte Stück Pizza kämpfte ums Überleben, aber Bit war mit seinem Mahlwerk stärker.
Jutta hörte inzwischen mit dem Essen auf. Zu sehr beschäftigte sie sich mit dem, was Bit gerade Gesagte. Sie hatte weder eine Vorstellung noch irgendwelche Ahnung, wie so ein Ausspähen funktionierte. Kundoban beschlich das Gefühl, dass sie bei diesem Thema verloren war und ohne Hilfe versagen würde. Sie fühlte eine große Leere in sich und befand unbedingt mit Remsen darüber sprechen. Ansonsten würde sie als Schwachpunkt in der Ermittlungskommission wahrgenommen werden. Ihr war unwohl, fühlte sich überfordert, ausgelaugt.
Es entstand eine kleine Pause. Claudia schaltete zwischendurch den Fernseher aus, sodass es unheimlich ruhig im Zimmer wurde.
Jutta hatte plötzlich einen Gedanken. Jedoch überlegte sie es sich mehrmals und wog ab, ob sie es wagen könnte. Da Remsen telefonisch nicht erreichbar war, entschied sie sich, Bit einfach zu fragen.
„Sag mal Bit, könntest du nicht…?“ Sie kam überhaupt nicht zum Ende ihrer Frage. Aus zweierlei Gründen: Sie kannte das Ende der Frage gar nicht und wurde dazu noch von Bit und seinem übermäßigen Grinsen voll ausgebremst.
„Jutta, das mache ich doch gerne. Wo soll ich unterschreiben?“
Jutta konterte jetzt: „Du, das war kein Auftrag, sondern nur eine Bitte.“
„Klar, ich meine doch nur den Geheimhaltungsvertrag.“ Bit grinste immer breiter.
„Wenn du der Presse irgendetwas sagt, dann nehme ich dich in U-Haft. Untersteh dich.“
„Gerne, aber nur, wenn wir beide eine Gemeinschaftszelle bekommen.“ Bit entwickelte sichtlich Spaß, Jutta zu verunsichern und mit seinen Kenntnissen zu prahlen. „Keine Sorge Mädchen, ich schweige wie ein Grab. Wir Nerds reden ohnehin nicht gerne.“
„Sag nicht Mädchen zu mir. Und außerdem: Für einen Nerd bist du heute sehr gesprächig.“
Sie saßen noch etwas beisammen und tranken den Rest des Weins. Claudia schaltete Musik ein; irgend so ein Mainstream-Getöse, würde zumindest Remsen dazu sagen. Dessen war sich Jutta sicher, denn ihr selbst ging die Musik auf die Nerven.
Bit war inzwischen gegangen. Gleich nach Juttas Bitte oder Auftrag, egal wie er es sah, machte er Anstalten, um zu gehen. Wahrscheinlich sitzt er schon wieder zwischen seinen Servern und Monitoren und sucht nach „Backdoors“. So ein Typ, denkt sie sich. Wahrscheinlich ist er der Überzeugung, dass sein Schaffen nur durch Schlafen unterbrochen werden muss. Und Pizzaessen natürlich. Weltveränderer oder sowas. Wie überleben eigentlich Nerds?
Der Wein wirkte bei Jutta. Sie spürte eine unendliche Müdigkeit und haderte noch, ob sie gehen oder bei Claudia bleiben sollte. Nach dem Wochenende und in Erwartung einer nicht minder anstrengenden Woche wünschte sie sich nichts sehnlicher als eine lange Nacht, mit Tiefschlaf und möglichst ohne Traum.
Claudia erahnte wohl die Gedankenwelt ihrer Freundin und schickte sich an, in die sonntägliche Badewanne zu steigen. „Kommst du mit? Ich massiere dich auch, damit du richtig gut schlafen kannst.“
Ob Jutta die Frage noch registriert hat, kann sicher keine der beiden beantworten. Jutta war eingeschlafen und offensichtlich in Schallgeschwindigkeit in die Tiefschlafphase entschwunden. Claudia seufzte, sie wäre so gerne mit Jutta in die Wanne gestiegen. Aber gut; sie besaß Verständnis für den Job ihrer Freundin. Sie zog ihr die Schuhe aus und brachte Jutta in eine etwas bequemere Stellung, die morgen beim Aufwachen nicht gleich Nackenschmerzen verspricht. Mit einer Decke sorgte sie dafür, dass Jutta über Nacht nicht friert. Claudia dämmte das Licht im Zimmer und schlich ins Bad.
Jutta wehrte sich nicht dagegen gewehrt. Ihr fielen einfach die Augen zu; sie fand es ganz gut, denn sie fühlte sich hier bei Claudia aufgehoben. Zu mehr konnte sich sie sich ohnehin nicht mehr aufraffen.
Jetzt schlief sie tief und fest, solange bis ihr Telefon klingelte.
Mitten in der Nacht.
In Delft.
Er telefonierte aufgeregt und organisierte seinen Plan C. Besser: Er korrigierte ihn.
Eigentlich wollte er bis morgen warten, aber nach vielem Hin und Her rang er sich dazu durch, es selbst in die Hand zu nehmen. Auf die Leute in Vesberg war noch nie Verlass. Ihm war das schon immer klar, nur hörte niemand auf ihn.
Lass uns das machen, wir bekommen das schon hin, damit vertrösteten sie ihn immer und immer wieder. Wie dumm von ihm, dass er darauf vertraute, als sie ihm die besten Auftragskiller aus ganz Osteuropa versprachen.
Dilettanten waren das und nicht mehr.
Wieder aktivierte er die Maschinerie, denn er wollte absolut sicher sein. Er wählte eine Nummer an. Eine, die er bisher als eiserne Reserve zurückhielt und nie nutzen wollte.
Nachdem der Angerufene sich meldete, begann er auch schon: „Ihr holt sie euch aus dem Haus. Wenn ich das richtig sehe, müsstet ihr im Dunklen über das linke Nachbargrundstück ungesehen rankommen. Euren VAN könnt ihr daneben parken, da müssten ein paar Büsche oder so etwas sein. Betäubt beide und weg damit. So schnell es geht verschwindet ihr mit denen. Ich will keine weitere Leiche im Haus, verstanden? Morgen muss Weilham weg sein, sonst wird es für euch ungemütlich, verstanden? Lenkt die Bullen ab und inszeniert in der Nähe einen Unfall oder eine Schlägerei. Das bekommt ihr wohl noch hin, oder?“
Er legte auf und begab sich in seinen Ankleideraum. Auf der Ablage neben der Tür lag sein Koffer, in den er lustlos und unkonzentriert Wechselsachen warf. Diese Reise wollte er so nicht antreten. Aber er musste die Geschichte jetzt durchziehen, ansonsten wird er selbst eines Tages als Treibgut aus der Nordsee gefischt. Mit seinen Auftraggebern ist nicht zu spaßen.
Sein Flugdienst signalisierte ihm, dass sie noch eine Flugerlaubnis bekamen, wenn er sich beeilen würde und sie innerhalb der ein bis zwei Stunden starten würden.
Zweifel überkamen ihn. Soll er oder soll er nicht? Er überlegte hin und her und irgendwann wischte er alle Gedanken beiseite: Ja, er musste es tun.
Es war schon 20 Uhr durch, als sich in der Geertryt van Oostentraat in Delft ein Garagentor öffnete und ein schwarzer Jaguar XJS sich in Richtung Flughafen auf den Weg machte. Der Fahrer wusste, dass es sehr schwierige Reise, vielleicht seine letzte, werden würde. Aber er trat sie an.
Remsen fühlte sich wohl, so richtig wohl. Er genoss seinen Laphroaig. Getreu seiner Devise, je älter umso besser, zeigte Stahlburg stolz den Ältesten seiner Schätze vor. Und teilte diesen mit ihm.
Oberstudienrat a.D. Dr. Kurt Stahlburg ist einer der wenigen Vertrauten in seiner neuen Heimat. Remsen hatte in einem seiner ersten Fälle in Vesberg mit einem Mord in Verbindung mit illegaler Schwarzarbeit zu tun. Ein Informatikprofessor ist Opfer seines eigenen Geschäftsmodells geworden. Dieser ließ Studenten seines Lehrstuhls für sich arbeiten und kassierte gleichzeitig bei seinen Kunden kräftig ab. Einer seiner Studenten fand das irgendwann nicht mehr witzig und wollte seinen Prof erpressen. Mit Hilfe von Dr. Stahlburg fand Remsen die richtige Spur. Studenten halfen ihm dann, den Fall aufklären.
Remsen ist seitdem mit ihm lose verbunden. Anfangs war Stahlburg noch im aktiven Dienst und leitete eine höhere Berufsfachschule für Informatik. Inzwischen ist er pensioniert und ein äußerst dankbarer Gesprächspartner für Remsen. Stahlburg ist im Alter noch immer rege und beschäftigt sich mit den Verwerfungen nach der Einheit. Er trennt säuberlich zwischen dem, was die Menschen hier erreicht haben und dem, was aus seiner Sicht den Bach runtergegangen ist.
Stahlburg ist ein Kind des Ostens. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs ist er mit seinen Eltern in einem Flüchtlingstreck in der Nähe hängengeblieben. Seine Eltern akzeptierten nie, dass sie aus der Heimat vertrieben wurden. So sahen sie den Aufenthalt in Vesberg nur als Übergang an und planten immer eine Rückkehr. Die Grenzen zogen für sie aber andere und sorgten dafür, dass aus den Plänen nie etwas wurde. Stahlburg machte Karriere in der DDR, obwohl er sich nie als angepasst, schon gar nicht als Mitläufer oder als Eiferer sah. Er konzentrierte sich auf seinen Beruf, ließ sich nicht beirren oder gar anwerben und umschiffte viele Klippen in der Diktatur; etwas geheimnisvoll manchmal, in jedem Fall mit Geschick und etwas Glück.
Mit dem, wie es heute gerne beiläufig heißt, Wendegeschehen, hat er so seine Probleme, noch immer. Was ist hier Mitteldeutschland? Die Mitte von oben und unten oder links und rechts? Stahlburg kam nie und kommt noch immer nicht mit der wenig differenzierten Betrachtung der Entwicklung seit ’89 klar. Für die Zeit der Pensionierung dachte er sich etwas Besonderes aus und machte keinen Hehl daraus: Er wird alles so aufschreiben, wie er es erlebte, es er es sieht und für sich als richtig befindet. Ob das Buch je erscheinen wird, ob es je gelesen wird, war ihm egal. Darauf angesprochen antwortete er, dass es seine Art des Friedenmachens ist.
Remsen holte sich in den Gesprächen mit Dr. Stahlburg Ideen und ließ sich davon leiten, so zu denken, wie es die Leute hier seit vielen Jahren tun und noch nicht so richtig ablegt haben. Stahlburg erläuterte ihm an den besonders langen Abenden, warum Skepsis und Misstrauen noch immer fester Bestandteil der geistigen Kultur in Vesberg und Umgebung sind. Und warum die Menschen hier so sind.
„Was bedrückt Sie Herr Remsen? Heute war ja die Pressekonferenz Ihrer Kollegen. Ich hab davon etwas mitbekommen im Fernsehen und mich schon gefragt, warum Sie nicht dabei waren. Sie sind doch der leitende Ermittler?“
„Ich hatte noch einen Termin für ein Essen. Schon länger, aber heute war mir so, die Einladung anzunehmen.“
Remsen schaute leicht schmunzelnd drein, sodass Stahlburg es eine mehr oder wenige geschickte Ausrede quittierte. Oder war es schon die Wirkung des Whiskys, die bei seinem Gesprächspartner eine aufgesetzt entspannte Stimmung erzeugte?
„Mal ehrlich Herr Remsen, der Staatsanwalt – halten Sie den für gut? So wie er auf die Journalisten losgegangen ist. Wie er sich gibt zeigt doch, dass er nichts in der Hinterhand hat. Dünnheutig, aufgesetzt, gereizt. Das macht man doch nicht. Schon gar nicht im Fernsehen.“
„Seit ich hier bin und mit ihm arbeite, komme ich mit ihm nicht zurecht. Ja, das stimmt. Aber er ist der Staatsanwalt und muss mit unseren Ermittlungsergebnissen umgehen können. Kann er aber nicht immer und versucht deshalb unsere Arbeit zu beeinflussen und sich dabei gleich noch zu profilieren.“
„Sie meinten wohl, Sie müssen zusammenarbeiten. Immerhin ist ein Procurator fast Ihr Vorgesetzter. Sie müssen sich arrangieren, denke ich.“
Remsen hielt noch immer sein Whiskyglas in der Hand. Mit beiden Händen tat er so, als wollte er das flüssige Gold darin wärmen und für immer und ewig konservieren. Nach einigem Nachdenken entschloss er sich für einen weiteren Schluck. Die Flüssigkeit drang durch seine Kehle sehr schnell bis in die Magengegend und wärmte ihn durch. Ein angenehmes und Remsen wohliges Gefühl. Mit einer Antwort ließ er sich Zeit.
„So ein Karrieretyp liegt mir einfach nicht. Stiegermann macht alles, um die Fälle möglichst schnell abzuschließen und manchmal klagt er einfach Unschuldige an. Hauptsache ‚Ergebnis‘ und ‚abgeschlossen‘. Überhaupt nicht fein ist er. Nein, der Mann ist mir nicht nur unsympathisch, er ist ein Widerling.“ Remsen setzte an und kippte einen weiteren Schluck Whisky in sich hinein. Er kannte sich und verspürte so nach und nach eine Wirkung seines Lieblingsgetränks.
„Wissen Sie, die Leute hier denken entweder ganz zurückhaltend, fast noch devot und unterwürfig oder ganz die Macher. So oder so! Das ist anders als bei Ihnen in Hamburg. Wenn wir hier früher nicht Mitläufer waren, mussten wir uns eine Strategie ausdenken, um nicht in die Fänge der Staatssicherheit und in deren Gefängnissen zu landen. Dieses perfide System machte es möglich, dass es selbst in Familien Spitzel gab; ja sogar Ehepartner sich dafür hergaben, ihre bessere Hälfte zu denunzieren. Wenn es sein musste mit Fotos und anderen Beweisen, sogar in ganz intimen Situationen. Schlimm nicht?“
Remsen dachte darüber nach, was Dr. Stahlburg gerade Gesagte. Er fand darauf keine Antwort, denn er war nicht von hier und wollte sich nicht darauf einlassen, zu verstehen, warum die Leute so sind.
Heute nicht, morgen nicht, niemals!
„Nordkorea lässt grüßen. Aber was hat das mit mir und dem Stiegermann zu tun?“ Für Remsen ist Stiegermann ein typischer Lackaffe, mit durchschnittlicher Begabung und so gepolt, möglichst schnell und ohne Hindernisse auf seiner Karriereleiter hinaufzukommen.
„Herr Remsen, Stiegermann ist ein lebendes Beispiel, wie jemand mit Hilfe des Apparats hochkommen konnte. Das müssen Sie wissen. Die Familie Grundberg war in Vesberg während der DDR-Diktatur stramm linientreu. Ich kannte noch den alten Grundberg, als der aus der russischen Gefangenschaft, lange nach Ende des Krieges, zurückkam und begann, hier die Zügel in die Hand zu nehmen. Er und ein paar seiner Gefolgsleute mit Russlanderfahrung fanden sich recht schnell zu einer Clique zusammen, drängten Unwillige aus den Ämtern oder waren sie gleich in Gefängnisse. Unberechtigterweise, ohne Grund. Oh doch, einen Grund hatte man schnell erfunden: Sie standen Grundberg und seiner Kommunistengarde im Weg oder wetterten gegen die aufkommende Diktatur. Jeder Widerstand wurde systematisch ausgetreten, die Leute brutal fertiggemacht. Sie kennen Bautzen II, Hoheneck, Brandenburg? Mitten in Berlin folterte die Staatssicherheit, niemand außerhalb der Mauern wusste etwas davon. Oder interessierte sich dafür. Hier in Vesberg gab es auch so einen Ort. Im Volksmund ‚Endstation Hölle‘ genannt; heute ein Museum. Wir schauen uns das mal an; ich nehme Sie mit. Und vergessen Sie Remsen, über Rechtsstaatlichkeit zu debattieren.“
Remsen brachte nach den letzten anstrengenden Tagen nicht mehr die Energie auf, all die Details zu durchdenken, von denen Dr. Stahlburg gerade sprach. Und nein, er wollte sich keinen Stasi-Knast ansehen.
Nicht mit Stahlburg!
Nicht mit einer Larissa, wenn sie noch leben würde!
Nein, niemals!
Nicht seine Welt!
Aus!
Vorbei!
Ich will heute nicht mehr. Seine Aufmerksamkeit ließ merklich nach. War es die Wirkung des Laphroaig oder machte sich der Stress der letzten Tage bemerkbar? Oh ja, jünger wurde auch ein Jan Remsen nicht. Er begann sich einen Plan für einen stilvollen Abgang zurechtzulegen, um den Abend nicht unnötig auszudehnen. Aber ein paar Informationen brauchte er noch.
„Dr. Stahlburg, kennen Sie vielleicht Georg Weilham, einen der beiden Geschäftsführer der CodeWriter? Das ist eine Softwarefirma, nicht groß, müsste Ihnen aber bekannt sein.“
Der Oberstudienrat a.D. dachte lange nach und tat so, als hoffte er mit seinen suchenden Augen einen Hinweis in seinem Studierzimmer auf die Frage seines Gegenübers zu finden.
„Eigentlich mehr den anderen, Hausmann. Das ist ein alter Informatiker, immer neugierig auf neue Ideen und Techniken. Er hat bei uns öfter Vorlesungen gehalten. Die Schüler waren begeistert und wollten alle in der IT bleiben und groß rauskommen. Sind sie natürlich nicht, aber er hat nebenbei ganz lebendig Werbung für seinen Beruf gemacht. Er versteht was davon, sehr viel sogar. Als er dann mit Weilham CodeWriter gründete, habe ich beide etwas beraten. Na ja, ein paar kluge Ratschläge gegeben. Zur Seite gestanden eben.“
Dr. Stahlburg schaute recht zufrieden Remsen an, der immer noch hoffte, hier schnell und elegant wegzukommen. Auf der anderen Seite war er neugierig; vielleicht erfuhr er doch noch etwas wirklich Neues von ihm.
„Sie sagten, Hausmann hat mit Weilham... Wer war der Bestimmende, der Tonangebende? Soweit ich Georg Weilham kennengelernt habe, kann der nicht der Motor gewesen sein. War CodeWriter mehr Hausmanns oder mehr Weilham's Idee?“
CodeWriter! Das ist schon lange her, sehr weit weg für einen alten Mann. Stahlburg war ganz in sich versunken und versuchte sich, an die Zeit damals zu erinnern. Die verrückten Ideen von Karl, diesem Self-Made Menschen, der sich für viele Dinge begeistern ließ und dem selten was gelang. Er mochte ihn richtig und gab sich dafür her, mit ihm die Ideen für die neue Firma zu entwickeln, über Marktchancen und Potentiale zu diskutieren und ihn auf Risiken aufmerksam zu machen. Damals, so erinnerte er sich, gefiel es ihm, Karl und dann Georg Weilham als vertrauter Berater zur Seite zu stehen und von beiden gefragt zu werden.
„Das ist lange her, Herr Remsen. Es ist doch wie immer: Zwei Leute, Meister ihres Fachs, haben eine tolle Idee und wollen damit die Welt retten und nebenbei reich werden. Dann kommt jemand daher und rückt die Geister zurecht. Beliebt ist man da nicht. Nicht, dass ich etwas damals dagegen hatte. Nein, nein. Ich habe mich eher den Realisten gegeben und Fragen gestellt, die beide nicht hören wollten. Egal, CodeWriter wurde gegründet und hat in den letzten 15 Jahren einen guten Weg eingeschlagen. Ich glaube, dass eher Hausmann derjenige war, der in der Firma das Sagen hat. Wenn ich ehrlich bin, habe ich CodeWriter etwas aus den Augen verloren und erst wieder Anfang des Jahres von denen etwas gehört. Cordula rief mich an und erzählte von Torstens Zusammenbruch. Mir war klar, dass er an die Grenzen der Leistungsfähigkeit gehen würde. Nicht klar war mir allerdings, dass die Ursache des Infarkts Karl war. So schätzte ich das nicht ein und erwartete es nie. Scheinbar waren beide so zerstritten, indem Karl Hausmann Torsten so unter Druck setzte, dass der sein Lebenswerk in Gefahr sah und der Konflikt dessen Gesundheit angriff. Was soll man machen, wenn man sich zwanghaft einigen muss, Herr Remsen?“
Remsen lauschte zwar den Ausführungen vom Studienrat a.D. Dr. Stahlburg, jedoch stellte er fest, dass er sich nichts davon merkte. Sollte er es zugeben oder einfach mit Fragen sein Interesse heucheln?
Stahlburg kam ihm zuvor und konfrontierte Remsen mit seiner Sicht auf die Dinge. „CodeWriter war erfolgreich die ersten Jahre, nicht übermäßig, aber immerhin. Nachdem Hausmann bei den Behörden anfangs Aufträge für wissenschaftliche Einrichtungen gewinnen konnte, kam Stillstand in die Entwicklung von CodeWriter. Die Astrophysiker-Geschichte, sagte ich damals immer, wird euch niemals ernähren: Ihr braucht neue Geschäftsfelder, habe ich immer gesagt. Dann kam der Deal mit Safety Objects, der mir nicht gefiel.“
Dafür, dass er nur anfangs mit dabei war und sich für die Anfänge von CodeWriter interessierte, war dieser Mann gut informiert. Remsen begann zu erahnen, dass er heute doch noch etwas Interessantes für seine Ermittlungen erfuhr. Seinen Abgang wird er etwas schieben müssen.
„Wir sprechen doch von Igor Abtowiz, dem Inhaber der Safety Objects. Was wissen Sie von dem?“ Remsen spitzte die Ohren, denn er hoffte, dass ihm sein Gegenüber jetzt von seinen eigenen Recherchen berichtete. Tatsächlich, er tat es.
„Wenn Abtowiz nicht ein Pole wäre, würde ich ihn als Wendehals bezeichnen. So wie viele andere hier auch. Zunächst dachte ich, er wäre auch einer dieser zwielichtigen Gestalten, die etwas legale und jede Menge illegale Geschäfte miteinander vermischen. Geldwäsche, Prostitution, Türsteher und Bodyguards – Sie wissen schon Herr Remsen, wie so etwas läuft. Ihr habt doch in Hamburg jede Menge davon.“
Remsen nickte nachdenklich und versuchte mehr oder minder geschickt mit dem Glas in der Hand die Aufmerksamkeit des Spenders dieser edlen Flüssigkeit auf sich bzw. auf das inzwischen leere Glas zu lenken. Dr. Stahlburg verstand schnell, denn auch sein Glas war leer. Gegen einen zweiten Whisky hätte auch er nichts einzuwenden.
Stahlburg schien Remsens Gedanken lesen zu können. „Noch einen Stimmungsmacher zum Manipulieren der Gedanken?“ Er stand auf, griff sich die Flasche Laphroaig und goss beiden nach. Sich zeitlassend nahm er in aller Ruhe wieder Platz, prostete Remsen zu und sog das braune Gold äußerst genüsslich ein.
„Bis Anfang der 1980-iger Jahre, als in Polen die Solidarnosc begann, den Kommunisten dort das Leben schwer zu machen, war Abtowiz bei einem berüchtigten Ableger der polnischen Staatssicherheit, dem Ministerium für Öffentliche Sicherheit und darauf spezialisiert Informanten zu gewinnen, zionistische und feindlich gesinnte Leute ausfindig und wenn es sein muss, mundtot zu machen. Ich habe meine Erkundigungen eingeholt und Karl informiert.“
„Wusste Weilham davon?“ Remsen zweifelte an Dr. Stahlburgs Darstellungen; eine innere Stimme warnte ihn.
Der Oberstudienrat a.D. rutschte etwas nervös in seinem Sessel herum und zeigte sich unwirsch ob der Unterbrechung seines Gegenübers.
„Nein, nein. Weilham hätte dem Deal mit Safety Objects niemals zugestimmt, wen er gewusst hätte, mit wem sie es zu tun hatten. Schon früh schien sich Abtowiz tatsächlich als Chef einer üblen Truppe von Drogenbeschaffern versucht zu haben. Zumindest saß er einige Jahre deswegen hinter Gittern und musste für seine untauglichen Versuche büßen. So genau habe ich das nie rausbekommen. Was ich weiß ist, dass er über Verbindungen in Kaukasien an richtig harte Sachen rangekommen war und das Zeug in Polen und in Russland oder wie sich die Staaten gerade nannten, verkaufte. Es gab die üblichen Revierkämpfe, Tote und Ärger mit der Staatsgewalt. Seine eigenen Leute von einst spürten ihn auf. Ironie der Wende damals.“
Remsen dachte nach und suchte die Verbindung zum Mord an den jungen Weilham und seiner hübschen Mitfahrerin. Betrieben parallel zum Geschäft mit der Sicherheitssoftware Hausmann und Abtowiz noch illegale Dinge? Wenn ja, welche? Ist ihnen der junge Weilham in die Quere gekommen? Ahnungslos, zufällig? Setzte er sie unter Druck und wollte mit abkassieren? Musste er das mit dem Tod bezahlen?
Dr. Stahlburg genoss sichtlich einen weiteren Schluck aus seinem Glas, sog den Duft tief ein und ließ den Whisky langsam, ganz langsam durch die Kehle gleiten.
„Ich stellte mir dann die Frage, wie Abtowiz es schaffte, zu uns nach Vesberg und als Chef einer Sicherheitsfirma zu Ruhm und Ehre zu kommen.“
Remsen unterbrach ihn und wollte wissen, ob Hausmann und Abtowiz sich schon vor dem Deal kannten; wenn er sich in seiner Zeit als Pensionär schon einmal als Detektiv betätigte.
„Das glaube ich nicht, zumindest habe ich keine Indizien dafür. Abtowiz verließ nach seiner Haft Polen und wollte irgendwo in England neu anfangen. Viele Polen versuchten sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs dort. Unser Freund war aber wenig bereit, regelmäßig zu arbeiten. Also verlegte er wieder sich auf illegale Geschäfte und importierte junge Frauen aus Osteuropa für Liebesdienste auf die Insel. Er versprach denen Jobs und gutes Geld, was ja nicht einmal gelogen war. Abtowiz hatte das Pech, den Yakuza, Sie wissen schon, der japanischen Mafia in die Quere zu kommen. Die waren gerade dabei, von Amsterdam aus in England Fuß zu fassen. Abtowiz kehrte der Insel den Rücken und ging nach Deutschland und blieb in Vesberg hängen.“ Stahlburg unterbrach sich selbst, sah selbstgefällig drein, denn er wusste ganz genau, dass er mit dieser Geschichte Remsen beeindruckte.
Oder auch nicht!
„Dr. Stahlburg, das ist ja fast schon ein richtiges Dossier. Das kostet Zeit und Geld. Und braucht vor allem Verbindungen, Kontakte. Mal ehrlich, warum haben Sie sich so sehr für Abtowiz interessiert? CodeWriter alleine ist mir ein zu dünnes Brett, rein argumentativ.“
„Warum so skeptisch Herr Remsen? Ich hab das für Karl gemacht. Der Junge hatte es endlich mal in der Hand, was aus seinem Leben zu machen. CodeWriter war damals ein noch kleines Pflänzchen, um es Leuten wie Abtowiz auszuliefern.“
„Eine Frage Dr. Stahlburg: Sind Sie an CodeWriter beteiligt? Kommt daher Ihr Interesse?“
„Selbst wenn ich unehrlich wäre, bekommen Sie es ja ohnehin raus. Ja, als Minderheitsbeteiligter, aber ohne Mandat, operativ in die Geschäfte einzugreifen.“
„Wer hat die Recherche finanziert? Hausmann? Sie? Oder wer?“ Remsen sah sich mal wieder bestätigt, nicht gleich alles zu glauben, was einem so erzählt wird. Selbst wenn eine vertraute Quelle, wie ein Dr. Stahlburg, als durchaus glaubwürdig einzustufen ist.
Da Stahlburg nicht antwortete, fragte Remsen weiter nach.
„Hören Sie Dr. Stahlburg, hier könnten Verbindungen bestehen, die uns helfen, den Mord aufzuklären. Sagen wir mal so: irgendetwas stimmt hier nicht. Hausmann ist angeblich in Südamerika, der alte Weilham vögelt jeden Sonnabend Nutten drüben in den Clubs und sein Sohn baumelt zeitgleich mitten in der Nacht an einem Baum. Seine unbekannte Mitfahrerin stammte wahrscheinlich aus der Ukraine und ist auch hinüber. Erklären Sie es mir!“
Dr. Stahlburg bat um eine Auszeit. Er erhob sich und schlürfte zur Toilette. Unnatürlich lange, für Remsen viel zu lange, hielt sich Stahlburg in seinem selbstgewählten Schutzraum auf. Remsen überlegte, wie er reagieren sollte. Er vernahm keine Anzeichen, dass sich bei Stahlburg im Bad irgendwas regte. Unruhig, ungeduldig wie er war, klopfte er an der Tür und horchte. Er vernahm einen dumpfen Hall und hörte, dass irgendwelche Gegenstände auf den Boden fielen.
„Dr. Stahlburg, alles in Ordnung?“ Nichts regte sich, keine Antwort, keine Geräusche mehr. Remsen entschied sich und drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Remsen sah sich um und stellte fest, dass in dieser alten Villa die Türen noch aus richtigem Holz und einigermaßen dick waren und wahrscheinlich nicht nur blaue Flecken garantieren. Remsen hörte noch einmal an der Tür und konnte noch immer nichts in drinnen hören.
Versuchen wir es. Er prüfte die Anlaufstrecke im Flur, versuchte aber erst einmal mit geringem Schwung. Wie erwartet regte sich nichts, die Tür gab nicht nach.
Ja, er musste.
Mit etwas mehr Anlauf startete Remsen den zweiten Versuch und sprang schwungvoll gegen die Tür. Mit einem heftigen Knall sprang die Verriegelung auf und die Verankerung des Schlosses löste sich. Holzspäne ragten heraus. Remsen trat energisch mit dem linken Fuß gegen die Tür, die nun endlich nachgab und auf ging.
Er stürmte in das geräumige Bad und sah Stahlburg mit heruntergelassener Hose neben der Kloschüssel liegen. Remsen nahm seinen linken unterm Arm über dem Handgelenk und fühlte von Stahlburg den Puls. Er lebte. Remsen schaute sich um und konnte nichts von einem Suizidversuch erkennen. Kein Messer, kein Blut, keine offenen Tablettenschachteln nichts.
Herzinfarkt!
Remsen rief auf der W36 an, gab seine Adresse durch und orderte einen Rettungswagen. Das Herz wahrscheinlich. In jedem Fall ein Zusammenbruch. Remsen war erschüttert, verzweifelt und vor allem entsetzt. Über die Wendung, die das Gespräch nahm, die enge Vernetzung des ehemaligen Studienrats mit CodeWriter und die unglaubliche emotionale Nähe von Stahlburg zu Abtowiz.
Warum beschäftigte sich Stahlburg so sehr mit Abtowiz? War es nur wegen Hausmann? Warum nur? Welche weiteren Verbindungen gab es zwischen den beiden? Leider schaffte es Stahlburg nicht mehr, ihm zu erklären, wer das Ganze bezahlt. So detaillierte Recherchen, in England, Polen und sonst wo auf dieser Welt kosten eine Stange Geld. Aus Eigennutz? Aus Welchem? Gut, er ist an CodeWriter beteiligt. Solange die Geld verdienen, verliert er keines. Das ist keine ausreichende Motivation, sich so zu engagieren. Und was ist, wenn Hausmann, Abtowiz und er, Stahlburg, so ganz nebenbei krumme Geschäfte machen. Hatte Stahlburg etwas mit dem Mord an Weilham jun. zu tun?
Am späten Sonntagabend landete die Cessna Citation Excel gut 150 km von Vesberg entfernt auf einem kleinen Flugfeld. Der Umstieg in den bereitgestellten Mittelklassewagen älterer Bauart dauerte nur wenige Minuten, um gleich darauf über den Autobahnzubringer in die Nacht zu verschwinden.
Nach wenigen Minuten Fahrtzeit schaltete er die Beleuchtung des Autos aus und hielt am Straßenrand.
Sicher ist sicher!
Er durchsuchte sein Gepäck und fand den eigens gebauten Peilsender. Jeder Laie würde das Gerät so nennen, aber es konnte viel mehr. Jetzt ging es erst einmal um seine Sicherheit. Mit eingeschaltetem Gerät umrundete er mehrmals das Auto. Er musste absolut sichergehen, dass ihn niemand orten und verfolgen konnte.
Nachdem er seiner Sache sicher war und er sich vergewisserte, verstaute er das Gerät wieder und setzte seine Fahrt fort.
Ziel war ein Anwesen, ein schon vor Jahren modernisierter und gekaufter Komplex von Wohnhaus und Werkstatt, welcher regelmäßig für diskrete Treffen mit Geschäftspartnern genutzt wurde.
Im Kellerbereich des Hauses hatten seinerzeit seine Mitarbeiter ähnlich wie in Delft damit begonnen, eine sichere Arbeitsstation aufzubauen. Wie von zu Hause aus, konnte er sicher und nicht verfolgbar telefonieren.
Die Fahrt dahin dauerte maximal zwanzig Minuten. Als er die Ortschaft erreichte und in die Straße einbog, suchte er in der Ablage nach dem Öffner, fand ihn und bestätigte den Knopf „Open“. Etwa dreißig Meter weiter vorne begann sich die massive eiserne Doppeltür langsam zu öffnen. Vorausschauend verzichteten sie beim Bau gänzlich auf Signalleuchten und Außenbeleuchtung, beziehungsweise sorgten dafür, dass diese wunschgemäß ausblieben.