Читать книгу: «Vorgeschichte des politischen Antisemitismus», страница 6

Шрифт:

»Mit Naturgewalt brach sich die Überzeugung Bahn, daß die Hauptstadt des Deutschen Reiches nach den großen kriegerischen Siegen nicht in demokratischen jüdischen undeutschen Händen bleiben dürfe. Ein freudiges Arbeiten und Agitieren begann bei reich und arm, bei vornehm und gering … Zu dem in Hunderten von Volksversammlungen gesprochenen Wort kam das gedruckte hinzu. Der ›Reichsbote‹89) hatte schon das erste Aufflammen der christlich-sozialen Sache mit Freuden begrüßt, seitdem den Kampf mit seiner Teilnahme begleitet. Die ›Kreuz-Zeitung‹ verhielt sich einen Augenblick kritisch, stellte sich aber bald in die Reihen der Freunde. So war im Grunde alles, was sich in Berlin konservativ oder antifortschrittlich nannte, vereinigt und wirkte begeistert zusammen. Das Konservative Zentralkomitee, das viel geschmähte, viel gefürchtete C. C. C. kommandierte im Kampfe: Mit Gott für Kaiser und Reich.«90)

Am Vorabend der Wahl ließ Stoecker ein Flugblatt verbreiten, worin es hieß:

»Seit vier Jahren stehe ich in dem öffentlichen Leben von Berlin und bekämpfe offen und frei die Übermacht des Kapitals, unredliche Spekulation, schnöde Ausbeutung der Arbeit, großen und kleinen Wucher. Ich betrachte die Ansammlung des mobilen Kapitals in wenigen, meist jüdischen Händen als eine drohende Gefahr und als eine der Hauptursachen des sozialdemokratischen Umsturzes. Aber nicht bloß der Herrschaft des Mammons, auch den Revolutionsgelüsten der Sozialdemokratie, den unpraktischen und unerfüllbaren Versprechungen eines sozialistischen Volksstaates habe ich mich entgegengestellt und betont, daß die soziale Revolution überwunden werden müsse durch die gesunde soziale Reform auf christlicher Grundlage. Diese Reform steht gegenwärtig, von der starken Hand der Regierung angefaßt, als die größte Aufgabe der Gegenwart vor uns. Die Mitarbeit daran ist heute der wahre Fortschritt. Aber der Berliner Fortschritt, der sie mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln verhindern will, ist der Rückschritt … Will Berlin an der Spitze der sozialen und nationalen Bewegung bleiben, so muß es dem Fortschritt den Abschied geben … Herr Professor Virchow hat das Judentum verteidigt und für russische Wucherjuden (91) einen Aufruf unterschrieben … Ein fortschrittlicher Aufruf nennt ihn den Vertreter der Kultur und den Kandidaten der gebildeten Welt. Ich will keine Kultur ohne Deutschtum und Christentum; deshalb bekämpfe ich die jüdische Übermacht.«92)

Stoecker war es inzwischen gelungen, nicht nur Ladenbesitzer und Handwerker um sich zu scharen, sondern auch Offiziere und Beamte, Lehrer und Akademiker in freien Berufen – jene gebildeten Mittelstandsschichten, die sich immer stärker entfalteten, bisher aber wenig Interesse für die Konservative Partei bekundet hatten. Jetzt entstanden konservative Bürgervereine, und der 1881 gegründete Verein Deutscher Studenten gewann schnell an Einfluß. Die akademische Jugend, die bis 1848 liberalen und demokratischen Idealen gehuldigt hatte, dann aber in politische Gleichgültigkeit verfallen war, erwärmte sich langsam für die Idee des »nationalen« Staates. Die christlichsozialen Hilfstruppen der Konservativen waren eine Kraft geworden, auf die man im Kampf gegen die Liberalen nicht mehr verzichten konnte. Es gab sogar Anzeichen dafür, daß Bismarck die Christlichsoziale Partei anders einzuschätzen begann. Für Stoecker persönlich hatte er zwar noch immer nichts übrig und vermied es, mit ihm zu sprechen. Aus politischen Gründen schien es jedoch ratsam, Stoeckers Bewegung gegenüber eine weniger feindselige Haltung einzunehmen; offizielle wie auch private Äußerungen Bismarcks während dieser Periode zeigen, daß er sein Verhalten entsprechend geändert hatte.

In einer Kabinettssitzung am 14. November 1881 erklärte der Kanzler, er sei »nur gegen die fortschrittlichen, nicht gegen die konservativen Juden und ihre Presse«93). Am 26. November sagte er seinem Landwirtschaftsminister, »die Judenhetze sei unopportun gewesen, er habe sich dagegen erklärt, aber weiter nichts dagegen getan wegen ihres mutigen Eintretens gegen die Fortschrittler«94). Noch am 2. April desselben Jahres hatte er im Reichstag versichert, er habe nichts mit der antisemitischen Bewegung zu tun95); am 14. Oktober aber ließ er seinen Sohn Wilhelm wissen, daß er die Wahl Stoeckers für sehr wünschenswert halte. Graf Wilhelm von Bismarck hatte vor einer konservativen Wahlversammlung in Berlin Ausführungen gemacht, die eine Debatte in der Presse hervorriefen. Der Kanzler ermahnte deshalb seinen Sohn, sich in Zukunft vorsichtiger auszudrücken:

»Wenn Du sprichst, so müßtest Du allerdings Stoecker unterstützen, weil sein Gegner Fortschrittler ist: aber die Identifizierung mit Stoecker paßt der Regierung nicht, und es wird nie Glauben finden, daß Du etwas anderes als Regierungsmeinung aussprichst. Stoeckers Wahl ist dringend zu wünschen: einmal als Nichtwahl des Gegners, dann weil er ein außerordentlicher, streitbarer, nützlicher Kampfgenosse ist, aber sobald man für ihn eintritt, indossiert man der Wirkung nach alles, was er früher gesagt hat, resp. alle anderen Antisemiten, und das kann doch en bloc nicht von mir kontrasigniert werden.«96)

Einige Tage vor der Wahl, am 5. November 1881, gestattete der Kanzler einer Zeitung, eine private Äußerung von ihm zu zitieren, nämlich, »die Juden tun, was sie können, um mich zum Antisemiten zu machen«97). Der Artikel berichtete auch, der mutige Kampf Stoeckers und der Berliner Bewegung gegen die Fortschrittspartei fände durchaus die Billigung des Kanzlers, der seine anfängliche Abneigung gegen Stoecker überwunden habe und jetzt aufrichtig die Tapferkeit und Begabung dieses Redners bewundere; falls es zu einer Stichwahl zwischen dem liberalen Kandidaten und Stoecker komme, werde Bismarck offen für den letzteren stimmen. Nach den Wahlen soll der Kanzler gesagt haben:

»Ich wollte erst diese Agitation für Stoecker als Antisemit nicht, sie war mir unbequem und ging zu weit. Jetzt aber freue ich mich darüber, daß der Hofprediger gewählt ist. Er ist ein tätiger, furchtloser, standhafter Mann und hat ein Maul, das nicht tot zu machen ist.«98)

Es ist bezeichnend für die damalige öffentliche Meinung in Deutschland, daß sowohl der organisierte Antisemitismus wie auch seine liberalen Gegner sich auf Äußerungen stützten, die der allmächtige Reichskanzler im Laufe seiner langen politischen Tätigkeit irgendeinmal getan hatte. Ob Bismarck wirklich ein Freund oder ein Feind der Juden war, ist viel diskutiert worden. Eingehend hat man seine offiziellen Reden und privaten Unterhaltungen, die Briefe und Memoiren seiner Freunde wie die seiner Feinde daraufhin untersucht. Otto Jöhlingers Buch »Bismarck und die Juden«99) enthält eine gründliche Zusammenstellung solchen Materials, nur hat der Verfasser das Thema recht apologetisch behandelt. Der eigentliche Kern der Kontroverse, der politische Aspekt, kommt bei ihm wie auch in den meisten anderen Fällen zu kurz.

Man kann leicht nachweisen, daß die persönlichen Beziehungen des Kanzlers zu Juden wie auch sein allgemeines Verhalten ihnen gegenüber freundlich waren; natürlich wahrte er stets aristokratische Distanz. Als er einmal im Gespräch mit einem Freund auf die Ursache der antisemitischen Bewegung zu sprechen kam, bemerkte er, es sei eine Tatsache, daß Juden anderen Bevölkerungselementen im Geschäftsleben überlegen seien100). Damit erkannte er nur eine Fähigkeit an, von der er–dank Bleichröder–selbst profitierte, die er aber nicht allzu gerne sich selber nachsagen lassen wollte, obwohl er außerordentliches Talent für die Verwaltung seiner privaten Geschäftsangelegenheiten zeigte. In jenem Gespräch fügte er hinzu, diese Tatsache und ihre Folgeerscheinungen könnten nicht geändert werden, ohne zu Methoden wie denen der Pariser Bartholomäusnacht zu greifen; daran aber dächten nicht einmal die wildesten Antisemiten. Bismarck sprach als ein Aristokrat, der sich über rein geschäftliche Angelegenheiten der Konkurrenzwirtschaft nicht ernstlich aufregen kann. Die bereitwillige Anerkennung jüdischer Begabung für gewisse Berufe war weit verbreitet im kaiserlichen Deutschland und keineswegs auf konservative Kreise beschränkt. Diese Anerkennung fand ihre genehme Kehrseite in der Überzeugung, für bestimmte andere Berufe seien Juden durchaus ungeeignet, nämlich für solche, deren Angehörige sozusagen von Natur aus hof- und satisfaktionsfähig zu sein hatten (100a).

Es kommt in unserer Betrachtung weniger auf Bismarcks persönliche Neigungen und Abneigungen an als auf die Beweggründe seiner politischen Handlungen. Ihm das Hochkommen des konservativ-klerikalen Antisemitismus zur Last zu legen, wie es einige Geschichtsforscher getan haben, wäre ebenso falsch, wie ihn davon freizusprechen, den politischen Antisemitismus als einen willkommenen Verbündeten in seinem Kampf gegen Liberale und Sozialisten geduldet und oft genug gefördert zu haben. Bismarck muß als der erste große Manipulator des Antisemitismus im modernen Deutschland betrachtet werden, und zwar gerade deswegen, weil er weder rassische noch religiöse Vorurteile gegen Juden hatte und die Juden als solche gar nicht sein Ziel waren, als er die antisemitische Agitation unterstützte.

Nach 1881 begann Bismarck, sein Interesse an Stoecker zu verlieren. Trotz der offiziellen und inoffiziellen Förderung, die den Konservativen zuteil wurde, und trotz der Unterdrückung der Sozialdemokratischen Partei hatten die Wahlen den Antisemiten nicht den erwarteten großen Sieg gebracht. Aber es ging auch ohne sie. Im neuen Reichstag gab es eine Mehrheit, die willens war, die Regierung in ihrem Programm zu unterstützen. Das lag hauptsächlich an dem Zerfall der Nationalliberalen Partei. Ihr linker Flügel unter Bamberger und Forckenbeck, der gegen den neuen Kurs der Regierung war, fiel ab und konstituierte sich als Liberale Vereinigung. Die »Sezessionisten«, die später, 1884, zur Fortschrittspartei stießen und mit ihr eine neue Organisation bildeten – die Freisinnige Partei – errangen im Reichstag von 1881 siebenundvierzig Sitze, zwei mehr als die Nationalliberalen, die jetzt auf den fünften Platz zurückgefallen waren, während sie im Reichstag von 1874 die stärkste Fraktion gebildet hatten.

In Berlin jedoch durfte sich die antisemitische Bewegung über den Ausgang der Wahl freuen. 1878 hatten die Konservativen nur 14 000 Stimmen erhalten, gegenüber 86 000 fortschrittlichen und 56 000 sozialdemokratischen; 1881 aber brachten sie es auf 46000 gegen 89000 fortschrittliche und 30 000 sozialdemokratische Stimmen. Stoecker selbst wurde gewählt–zwar nicht in Berlin, aber in dem streng protestantischen Wahlbezirk Siegen in Westfalen. Von 1881 bis 1908, mit Ausnahme der Wahlperiode 1893 bis 1898, war er im Reichstag und von 1879 bis 1898 auch im preußischen Abgeordnetenhaus. In beiden Parlamenten schloß er sich sofort der konservativen Fraktion an.

Die Jahre 1881 bis 1884 können als die Zeit des größten Stoeckerschen Triumphes angesehen werden. Die kaiserliche Botschaft, mit der Bismarck sein Sozialreformprogramm dem neugewählten Reichstag vorlegte, mußte dem christlichsozialen Führer als ein persönlicher Sieg erscheinen. Die Regierungsvorlage, stellte er fest, »ist nach der einen Richtung hin, als Programm der Sicherung der Arbeiter-Existenz auf Grund von christlich gedachten Korporationen, nahezu die Erfüllung der christlich-sozialen Hoffnungen«101). Den Text der Botschaft, der emphatisch von den »sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens« sprach, pries Stoecker als den Beginn einer neuen kulturellen Entwicklung, als einen der Höhepunkte in der Geschichte des sozialen Gedankens. Die geistige Einheit zwischen seiner Bewegung und der staatlichen Autorität schien hergestellt zu sein.

Eine anerkennende Geste von Allerhöchster Stelle ließ auch nicht auf sich warten. Im Frühling 1882 machte der Kaiser der Berliner Bewegung seine Aufwartung, indem er am Vorabend seines Geburtstages Stoecker und einigen von dessen Mitarbeitern eine Audienz gewährte. Dr. Cremer, Professor Dr. Adolph Wagner und der Berliner Kaufhausbesitzer Rudolf Hertzog(102) waren anwesend. Stoecker hielt eine Ansprache und verlas eine Gratulationsadresse.

»Da sagte unser Kaiser«, berichtet Stoecker, »der in seiner schlichten königlichen Rede den Nagel so oft auf den Kopf trifft: ›Wenn das vergangene Jahr den Herrscher des autokratischsten Landes, den russischen Kaiser, und den Präsidenten des freiesten Volkes, der aus der Wahl dieses Volkes hervorgegangen ist, das Leben gekostet hat, wer ist dann noch sicher?‹«103)

Solange diese Interessengemeinschaft mit der Regierung andauerte, war Stoeckers Stellung so stark, daß auch einige peinliche Vorfälle sie nicht ernstlich erschüttern konnten. Einer davon war ein Skandal, den er 1883 in London durch zwei Reden hervorrief, die Bismarck in Wut brachten und den Kaiser ungnädig stimmten. Stoecker hatte der Einladung zu einer Luther-Gedenkfeier in London Folge geleistet und dort in zwei öffentlichen Versammlungen über die Sozialreformbewegung und seine Christlichsoziale Partei gesprochen; die liberale Stadt war aufgebracht. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung zog der Lord Mayor die schon erteilte Erlaubnis für einen Vortrag im Mansion House, seiner amtlichen Residenz, zurück; die Veranstaltung mußte anderswo abgehalten werden. Deutsche Sozialdemokraten, vom Sozialistengesetz ins Exil getrieben, kamen in großer Zahl und sprengten die Versammlung. Stoecker mußte durch eine Hintertür fliehen. Der »Sozialdemokrat« berichtete darüber:

»Unsere Genossen waren hergekommen, nicht um zu diskutieren, sondern um Herrn Stoecker und in seiner Person Bismarck, seinem Patron, und den regierenden Klassen Deutschlands ihren Haß und ihre Verachtung in möglichst unzweideutiger Weise kundzugeben, auf die Mundtotmachung unserer Genossen in Deutschland zu antworten.«104)

Nicht weniger peinlich gestaltete sich ein Beleidigungsprozeß, den Stoecker 1884 gegen eine Berliner Zeitung anstrengte; sie hatte während der Wahlkampagne unter dem Titel »Hofprediger, Reichstagskandidat und Lügner« einen Artikel erscheinen lassen, in dem Stoecker unter anderem des Meineids bezichtigt wurde. Auf Monate hielt der Prozeß Berlin und ganz Deutschland in Spannung; er gestaltete sich zu einer politischen Niederlage für Stoecker, obwohl der angeklagte Redakteur schließlich wegen Formalbeleidigung zu einer Gefängnisstrafe von sechs Monaten, herabgesetzt auf drei Wochen, verurteilt wurde. Da er als Jude einer Konfession angehöre, die der Nebenkläger Stoecker dauernd angegriffen hatte, wurden ihm mildernde Umstände zugebilligt. Das Gericht erklärte ausdrücklich:

»Derjenige müßte seinen Glauben und den seiner Väter nicht lieb haben, der schließlich nicht tief gereizt und innerlich empört würde, wenn er Angriffe sieht und wieder sieht auf seinen Glauben und die Gleichberechtigung seines Glaubens, zumal wenn diese Angriffe von einem Geistlichen kommen.«105)

Zwei hervorragende Rechtsanwälte, einer von ihnen selbst ein Jude, vertraten den Angeklagten; für die Atmosphäre der Verhandlung war es bezeichnend, daß der vorsitzende Richter sich wiederholt versprach und den Nebenkläger – Stoecker – als Angeklagten bezeichnete. Bald darauf wurde Stoecker wirklich zum Angeklagten, als ihn ein liberaler Gegner in seinem Wahlbezirk wegen Verleumdung vor Gericht brachte. Er kam mit einer Geldstrafe davon.

An Propagandamaterial gegen Stoecker fehlte es also nicht. Seine politischen Gegner ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, die Prozesse nach Kräften auszuwerten. Der Vorsitzende der Fortschrittspartei begrüßte nach dem gegen den Redakteur angestrengten Prozeß dessen Anwälte in einer öffentlichen Erklärung, in der es hieß:

»Die antisemitische Bewegung konnte durch nichts besser charakterisiert werden als durch die gerichtliche Feststellung der sittlichen Qualitäten ihres Hauptführers.«106)

Die liberale Presse begrüßte die Gerichtsentscheidung mit der größten Genugtuung; sogar die Konservative Korrespondenz, das halboffizielle Organ der Konservativen Partei, brachte einen unfreundlichen Artikel über Stoecker, und selbst der kaiserliche Hof, der sich von öffentlichen Auseinandersetzungen solcher Art fernzuhalten pflegte, sah sich schließlich gezwungen, Stellung zu nehmen. »Seine Majestät waren darauf hingewiesen worden«, daß Volksaufwiegelung unvereinbar sei mit dem Amte eines Hofpredigers, dessen »politisches Treiben geeignet sei, auf Allerhöchstdieselbe zu reflektieren«, wie aus den Akten des Kaiserlichen Zivilkabinetts hervorgeht107). In der Tat trug sich der alte Wilhelm I. ernstlich mit dem Gedanken, Stoeckers Rücktritt von seinem Amt zu verlangen, als dieser durch einen hochgestellten Bewunderer gerettet wurde, Prinz Wilhelm, den späteren Kaiser Wilhelm II. In einem handschriftlichen vierseitigen Brief an den Kaiser vom 5. August 1885, den Stoeckers Biograph Frank im Preußischen Hausarchiv später einsehen und inhaltlich wiedergeben, aber nicht textgetreu veröffentlichen durfte108), meldete der Prinz seinem Großvater, die Juden hätten den Prozeß absichtlich herbeigeführt, um Stoecker eine Falle zu stellen; als Beweismaterial für die Heimtücke der jüdischen Presse fügte er Zeitungsausschnitte bei. Er wußte auch zu berichten, das deutsche Volk sei über dieses jüdische Manöver sehr erbost, und man habe ihn selbst gebeten, seinen Großvater über den Hintergrund der Intrige aufzuklären. Gestützt und getrieben von Sozialdemokraten und Fortschrittlern – schreibt der Prinz – hätten die Juden es unternommen, Stoecker zu vernichten; es sei bedauerlich, daß das Judentum durch seine Presse im deutschen Reich genügend Macht errungen habe, um sich auf einen solchen Anschlag einlassen zu können. Er habe sich entschlossen, dem Kaiser zu schreiben, nachdem er erfahren habe, daß die Juden sogar am kaiserlichen Hof Einfluß besäßen.

Dann geht der Brief dazu über, Stoeckers Verdienste um die Sache der Monarchie zu preisen. Der Prediger habe gewiß manche Fehler, aber er sei der beste Förderer der Hohenzollernmonarchie und ihr mutigster und angriffslustigster Vorkämpfer unter dem Volke; in Berlin allein habe er den Sozialdemokraten und der Fortschrittspartei 60 000 Arbeiter abspenstig gemacht. Schließlich hob der Brief noch Stoeckers Anstrengungen für die Wohltätigkeits- und Sozialbestrebungen hervor, wodurch er die Sympathien Augusta Viktorias, der Gattin des Prinzen, gewonnen habe. Die Prinzessin machte sich den Appell ihres Gemahls zu eigen; sie flehte den Kaiser an, sie nicht eines ihrer besten Mitarbeiter auf dem Gebiete praktischen Christentums zu berauben. Der Prinz hatte Erfolg: der Kaiser erneuerte nur seine Warnung, Stoecker solle in Zukunft seine soziale und politische Tätigkeit mehr mit den Erfordernissen seiner hohen Stellung in Übereinstimmung bringen.

Aber Stoeckers Stern war im Sinken. Die ihm von oben gezeigte Gunst verebbte, als sich der Kurs der Regierungspolitik wieder einmal änderte. Zur selben Zeit ging die Führung des politischen Antisemitismus in die Hände von Männern über, die nicht von Traditionen eingeengt waren, auf die der Hofprediger Rücksicht nehmen mußte. Ein neuer Typ von Antisemitismus begann sich auszubreiten, frei von christlicher oder konservativer Färbung und oft im Gegensatz zu den Interessen der Kirche und der Junker. Das Zentrum der neuen Bewegung lag nicht mehr in Berlin, sondern in den Provinzen, besonders in Sachsen, Westfalen und Hessen.

KAPITEL IV
Stoeckers Niedergang (1886-1890)

Um die Mitte der achtziger Jahre war die Politik der kaiserlichen Regierung auf zwei Hauptziele gerichtet: auf die Erwerbung von Kolonien und die Verstärkung der Armee. Die Zentrumspartei, die seit einigen Jahren der Regierungskoalition angehörte, zögerte, sich das Regierungsprogramm zu eigen zu machen. Bismarck brauchte zur Rückendeckung eine neue parlamentarische Mehrheit. Die Nationalliberale Partei hatte sich, nach ihren großen Verlusten und der Abspaltung ihres linken Flügels (1880), unter der Führung von Johannes Miquel reorganisiert und war nun darauf bedacht, sich mit dem Kanzler wieder gut zu stellen. In ihrer »Heidelberger Erklärung« vom 23. März 1884 proklamierte sie ihre Zustimmung zu Bismarcks Wirtschafts-, Militär- und Außenpolitik. Sie werde, hieß es in der Erklärung, »unablässig für die Erhaltung einer starken deutschen Heeresmacht eintreten und kein notwendiges Opfer scheuen, um die Unabhängigkeit des Vaterlandes allen Wechselfällen gegenüber sicherzustellen«109). Die Partei befürwortete auch nachdrücklich die Fortsetzung des Kampfes gegen die Sozialdemokratie. Die Unterzeichner der Heidelberger Erklärung »werden bereitwillig der Reichsregierung die zur Abwehr staatsgefährlicher Umtriebe erforderlichen Machtmittel gewähren und erachten deshalb die Verlängerung des Sozialistengesetzes für dringend geboten«.

Reumütig und mit reorganisiertem Parteiapparat wurden die Nationalliberalen genau zu dem Zeitpunkt wieder regierungstreu, als Bismarck ihre Unterstützung am dringendsten brauchte. Sie gingen ein enges Bündnis mit den beiden konservativen Parteien ein, den Deutsch- und den Frei-Konservativen, und bildeten das sogenannte »Kartell«. Es wurde das parlamentarische Rückgrat der Regierung für das nächste Jahr und bewies seine Stärke in der »Kartell-Wahl« von 1887. Diesmal war der Reichstag aufgelöst worden, weil er dem Verlangen der Regierung, das Militärbudget wieder auf sieben Jahre im voraus zu bewilligen, nicht nachgegeben hatte110). Die Freisinnigen – so nannten sich die Fortschrittler seit ihrer Verschmelzung mit dem ehemaligen linken Flügel der Nationalliberalen – und das Zentrum waren bereit, den Heeresetat zu erhöhen, aber nur auf drei Jahre. Es war der Versuch, die parlamentarische Kontrolle über das Militär wenigstens in Spuren zu bewahren, ein schwaches Echo jenes Kampfes zwischen den Liberalen und Bismarck im Verfassungskonflikt von 1862–66. Auch diesmal setzte Bismarck seine Forderung durch. Zwanzig Jahre zuvor war ein siegreicher Krieg nötig gewesen, um die liberalen Kräfte zu spalten. Diesmal reichte schon die Kriegsdrohung. General Boulanger war französischer Kriegsminister geworden, und eine antideutsche kriegsfreundliche Gruppe gewann größeren Einfluß auf die Politik Frankreichs. Deutschlands Beziehungen zu Rußland waren zweifelhaft. Die verstärkte Propaganda für deutsche Kolonialforderungen hatte die deutsche öffentliche Meinung stark gegen England aufgebracht. »Das Vaterland ist in Gefahr!« wurde die Wahllosung der Kartellparteien. Die Einberufung der Reservisten für Wintermanöver gab der Kampagne der »Angstwahlen« die Atmosphäre eines unmittelbar bevorstehenden Kriegsausbruchs. So gelang es den drei »staatserhaltenden« Parteien des Kartells, mit 220 von 397 Reichstagssitzen eine ausreichende Mehrheit zu gewinnen. Die Freisinnigen verloren mehr als die Hälfte ihrer Mandate von 1884: von 67 blieben ihnen nur 32. Auch die Sozialdemokratie wurde durch die nationalistische Stimmung geschwächt: ihre Sitze verringerten sich von 24 auf 11. Dagegen konnten die Nationalliberalen ihre Sitze fast verdoppeln (51:99). Beim Zentrum allein änderte sich nichts: von den 99 Mandaten, die es 1884 errungen hatte, verlor es nur eins. Aber das Zentrum vermied einen ernstlichen Kampf gegen die Militärvorlage schon deswegen, weil der Papst Bismarcks Aussöhnung mit dem Katholizismus nicht gefährden wollte. Die Zentrumsabgeordneten enthielten sich der Stimme. Noch im Jahre 1887 konnte so Papst Leo XIII. den Kardinälen mitteilen, der Kulturkampf sei vorüber, und ein Jahr später, als der junge Kaiser Wilhelm II. zu einer aktiven Kolonialpolitik aufrief – »für die Abschaffung der Sklaverei« und um der christlichen Kultur willen – schwenkte das Zentrum zur Kolonialpolitik des Kartells um.

Stoecker geriet durch die Kartellbildung in eine schwierige Lage. Es war wichtig für die neue Koalition, Reibungen unter den Teilnehmern zu vermeiden. Die Nationalliberalen jedoch, die vor nicht so langer Zeit noch als die »Partei der Juden« bekannt waren, wußten, daß sie von Freisinnigen und Sozialdemokraten wegen ihres Bündnisses mit einer Partei, die Stoecker deckte, angegriffen werden konnten. »Wir müssen uns davon frei machen«, schrieb der nationalliberale Führer Rudolf von Bennigsen an Miquel, »daß eine Unterstützung des Stoeckerschen antisemitischen Demagogentums uns durch die Gegner noch weiter angehängt wird.«111) Vorsicht und Mäßigung in antisemitischer Agitation waren jetzt unumgänglich, um Konservative und Nationalliberale beieinander zu halten. Stoeckers Bewegung lag als Hindernis auf dem Wege der neuen Verbindung.

Die Norddeutsche Allgemeine Zeitung, Bismarcks Sprachrohr, forderte am 23. September 1885 Stoecker mit scharfen Worten auf, die Tätigkeit der christlichsozialen Bewegung auf das Gebiet der kirchlichen Wohlfahrtspflege zu beschränken. Die Konservativen wurden merkbar vorsichtiger in der Auswahl von Wahlkandidaten und unterließen es, notorische Antisemiten für Berlin aufzustellen.

Stoeckers enge Verbindung mit den Konservativen wurde jetzt auch für die Christlichsoziale Partei eine schwere Belastung. Er war im preußischen Landtag und im Reichstag zu einem Wortführer der Konservativen geworden. So war die Christlichsoziale Partei durch ihren Vorsitzenden in all die politischen Gefahren verstrickt worden, die sich aus der Art und Weise ergaben, wie Bismarck mit Parteien und Parteigruppierungen umsprang. Einerseits profitierte sie von den Vorteilen, die sich aus der Unterstützung der Regierung durch die Konservativen ergaben, andererseits aber mußte sie, wenn die Konservativen gegen Bismarck auftraten, alle Nachteile einer Oppositionspartei in Kauf nehmen. Das konnte angehen, solange die Konservativen das Bündnis mit den Antisemiten nicht als Hindernis für eine vorteilhaftere politische Verbindung empfanden. Das gerade taten sie jetzt. Die konservativ-nationalliberale Allianz bedeutete den Untergang für die Berliner Bewegung als einer Koalition antiliberaler und antisemitischer Gruppen. Nur der unentwegte Kreuzzeitungsflügel polemisierte gegen das Kartell und trat für eine Zusammenarbeit der Konservativen mit dem Zentrum ein. Gestützt auf diese rechte Opposition konnte Stoecker weiterhin Bismarcks »Politik der Mitte« angreifen. Die Christlichsoziale Partei aber fand sich in einer ausweglosen Situation: solange die Regierung sich auf die Nationalliberalen stützte, eine der beliebtesten Zielscheiben für Stoeckers antisemitische Attacken, und solange das Kartell zusammenhielt, blieb der Partei nichts anderes übrig, als die Regierung selber zu bekämpfen. Aber »eine Oppositionspartei unter Führung eines Hofpredigers war … in Preußen ein unmöglicher Gedanke«112).

Noch mehr kompromittierte sich Stoecker, als er in eine Intrige gegen Bismarck verwickelt wurde; sie stand unter Graf Alfred von Waldersees Führung, der damals stellvertretender Chef des Generalstabes und Generalquartiermeister der Armee war. Bismarck hatte Waldersee im Verdacht, auf die Kanzlerstellung zu aspirieren und sich bei Prinz Wilhelm, dem Thronfolger, einzuschmeicheln. Auf Anregung des Prinzen lud Waldersee im November 1887 eine Anzahl Würdenträger ein, die darüber beraten sollten, wie Gelder für die Berliner Stadtmission aufgebracht werden könnten. Prinz und Prinzessin Wilhelm, Stoecker, der preußische Innenminister von Puttkamer und andere Minister, Hofleute und führende Konservative waren anwesend. Waldersee sprach über die Dringlichkeit, »anarchistische« Tendenzen mit geistigen und materiellen Mitteln zu bekämpfen; die Mission müsse ein Sammelbecken werden für alle diejenigen, die treu zum König hielten und patriotischen Idealen huldigten. Er regte an, aus allen Teilen des Reiches ein Komitee zur Förderung der Mission zusammenzurufen und unter das Patronat des Prinzen zu stellen. Mit Wärme ging der Prinz auf diesen Vorschlag ein, denn er sei besorgt über die geistige Verkommenheit der Berliner Massen und über die Kräfte sozialer Zerstörung, die nur durch christliche und soziale Gesinnung überwunden werden könnten.

Die liberale und regierungsfreundliche Presse zog sofort die politischen Folgerungen aus der Zusammenkunft und griff den Kreis um Waldersee als einen ehrgeizigen klerikal-konservativen Klüngel an, der versuche, den künftigen Kaiser für seine eigenen Zwecke einzuspannen.

»An demselben Abend brach in Berlin und Wien der Sturm los«, schrieb Stoecker später darüber. »Was die Berliner Juden aus Furcht vor Strafe nicht den Mut hatten, zu sagen, das sagten die Wiener; es war ein schlimmes Treiben … aber … gefährlich war es nicht. Was ging diese Fremdlinge, die Feinde unseres Glaubens, ein christliches Hilfswerk an? Man konnte ihre boshaften Äußerungen verachten und tat es auch. Da mit einem Male hörte man ein Pfeifen wie das eines herannahenden Föhns im hohen Gebirge. Die ‚Norddeutsche Allgemeine Zeitung' warf sich mit einem wilden Artikel auf die Christlich-Sozialen … Jetzt schrieb das offiziöse Blatt: die christlich-soziale Partei sei einseitig konfessionell und überhaupt keine politische Partei; sie sei das tote Gewicht der Berliner Bewegung, mit dem sich die Kartellparteien nicht amalgamieren sollten; nicht sie sei der Sauerteig der Berliner Bewegung, sondern der Antisemitismus allein. – Dieser Artikel war das Signal zum allgemeinen Angriff. Von wem er ausging, konnte nicht zweifelhaft sein …«113)

Bismarck erklärte später, weder er noch sein Sohn sei der Verfasser dieses und der darauf folgenden Artikel in der Norddeutschen Allgemeinen gewesen114). Aber wie ernst er die intime Zusammenkunft des Prinzen mit Waldersee und Stoecker nahm, zeigen seine Memoiren. Im dritten Band seiner »Gedanken und Erinnerungen«, in dem er seine Beziehungen zu Prinz Wilhelm beschreibt, befaßt sich das erste Kapitel fast nur mit der Waldersee-Angelegenheit und dem daraus entstandenen Briefwechsel mit dem Prinzen über Stoecker. Er riet dem Prinzen dringend ab, die Schirmherrschaft über die Mission zu übernehmen, und »sich vor der Thronbesteigung schon die Fessel irgendwelcher politischen oder kirchlichen Vereinsbeziehungen aufzuerlegen«115). Diese Auseinandersetzung legte den Keim für die Entfremdung zwischen dem Kanzler und dem künftigen Herrscher.

1 531,60 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
588 стр. 15 иллюстраций
ISBN:
9783863935825
Редактор:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают