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Der andere Bericht stammt von dem nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Bamberger; als er 1883 von einer mehrmonatigen Auslandsreise nach Berlin zurückkehrte, schrieb er angeekelt in sein Tagebuch:

»Gleich in den ersten Tagen hörte ich im Vorübergehen zweimal gemeine Äußerungen über Juden, ohne daß damit eine Absicht auf mich im Spiele war, sondern nur weil mein Ohr sie erhaschte. Einmal waren es sogar Arbeiter. Jetzt, nach längerem Aufenthalt, ist man wieder aguerri. Ich sage, man muß nicht hinaus, damit der Gestank nicht weicht, wenn man einmal die Nase voll hat. Lüftet man sich, so muß man das Experiment von neuem durchmachen.«70)

Warum fand Stoeckers Agitation gerade um diese Zeit so großen Widerhall? Gründe für die Dynamik des Antisemitismus können nur in der Dynamik der Gesellschaft gefunden werden. 1870 war ganz Deutschland freihändlerisch71). In erster Linie war Preußen damals bestrebt, Beschränkungen des Binnenhandels aus dem Wege zu räumen und die dafür notwendige Einheitlichkeit der Gesetzgebung zu erreichen. Jeder Schritt zur wirtschaftlichen Einheit Deutschlands bedeutete einen preußischen Sieg im Kampf um die »kleindeutsche« Lösung.

Als Großproduzenten von Exportgetreide traten die preußischen Konservativen natürlich für Freihandel ein. »Der Schutzzoll ist der Schutz gegen die Freiheit der Inländer, da zu kaufen, wo es ihnen am wohlfeilsten und bequemsten scheint, also ein Schutz des Inlandes gegen das Inland.« Diese typisch manchester-liberale Gesinnung vertrat im Oktober 1849 ein Junker vor dem preußischen Abgeordnetenhaus – es war Bismarck72). Wie überall führte auch in Deutschland die Industrialisierung zu erhöhtem Verbrauch von Konsumgütern, also zu steigenden Getreide- und Bodenpreisen. Die Preissteigerung Anfang der siebziger Jahre veranlaßte Agrarier, mehr Land unter den Pflug zu nehmen und Verarbeitungsbetriebe anzugliedern. Die dafür nötigen Investitionen verschafften sie sich durch Aufnahme von Krediten. Dann brach der Markt zusammen. In anderen europäischen Ländern und in Übersee war es nicht anders; auch in den Vereinigten Staaten wurden die Landwirte von ihren Gläubigern – den Bankiers der Ostküste – bedrängt und mußten den Staat um Intervention bitten, aber ihre Beschwerden gegen »Wall Street« hatten nicht den antijüdischen Unterton, der die Beschuldigungen der deutschen Landwirte gegen die »Börsenmächte« charakterisierte.

Teilweise war das Fallen der Getreidepreise durch die Industriekrise in Deutschland verursacht, teilweise aber auch durch die Überflutung des ungeschützten deutschen Marktes mit amerikanischem und russischem Weizen. In Deutschland wie überhaupt in Mittel- und Westeuropa herrschte in der Landwirtschaft die intensive Bodenbearbeitung. Um die Mitte des Jahrhunderts hatten wissenschaftliche und technische Fortschritte diesem Verfahren weiteren Aufschwung gegeben. Die hohen Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse führten zu neuen Investitionen, um den Bodenertrag zu steigern. Seit den siebziger Jahren mußte die intensive Bebauungsweise mit der extensiven Methode in Konkurrenz treten, die sich auf den grenzenlos erscheinenden Flächen freien Landes in Übersee entwickelt hatte. Eisenbahn und Dampfer ermöglichten es jetzt, die amerikanische Ernte zu konkurrenzfähigen Preisen nach Europa zu werfen. Deutschland begann, Getreide einzuführen. Hatten die konservativen Grundbesitzer anfangs nur zögernd nach Schutzzollpolitik gerufen, so taten sie das seit der Mitte der siebziger Jahre mit steigendem Nachdruck.

In der Industrie fand eine ähnliche Entwicklung statt. Durch die Einverleibung von Elsaß-Lothringen war Deutschland in den Besitz von profitablen, technisch fortgeschrittenen Industrien gelangt. Die dortige Textilindustrie zum Beispiel verfügte über mehr als einhalbmal so viele Baumwollspindeln und über fast die gleiche Zahl mechanischer Webstühle wie das ganze Reich73). Deutschland hatte auch Eisenerzvorkommen in Lothringen und Kalilager im Elsaß erworben, beide von größtem Wert für die Entwicklung der deutschen Schwerindustrie. Damals glaubte man so fest an die Vorteile des Freihandels, daß die Meistbegünstigungsklausel in den Friedensvertrag mit Frankreich aufgenommen wurde. Um seinen internationalen Handelsverpflichtungen nachkommen zu können, hob Deutschland 1873 den Einfuhrzoll für Roheisen, Schrott und Schiffbaumaterial auf. Der Zoll, der auf Halbfabrikaten und Maschinen lag, wurde ermäßigt, nach vier Jahren sollte er ganz wegfallen. Diese Freihandelspolitik fand die Unterstützung der Konservativen. Einer von ihnen erklärte 1873 im Reichstag: »Nächst dem Brot und Fleisch ist nichts wichtiger als freies Eisen.« Im selben Jahre nahmen mehrere hundert landwirtschaftliche Vereinigungen an einer Riesendemonstration teil, die gegen die Beibehaltung des Zolles auf Roheisen protestierte74).

Kaum erst war die deutsche Schwerindustrie fähig geworden, mit der von Großbritannien, ihrem überlegenen Rivalen in Europa, zu konkurrieren (75), als die Engländer sich durch die internationalen Stagnationstendenzen veranlaßt sahen, in den ungeschützten deutschen Markt einzudringen. Die erhöhte Konkurrenz überzeugte daraufhin manchen eingefleischten Manchesterliberalen, daß eine »nationale« Handelspolitik an die Stelle des international orientierten Freihandels treten müsse. Der Ruf nach neuen Zöllen auf Eisen- und Stahlprodukte gesellte sich den Stimmen der bedrängten Landwirte zu.

Ohne gegenseitige Unterstützung konnten weder die Getreide produzierenden Junker noch die Schwerindustrie hoffen, die Schutzzollgesetzgebung durchzusetzen. Zwar wünschten die Industriellen niedrige Preise für Nahrungsmittel und die Agrarier niedrige Preise für Industrieprodukte, aber schließlich mußten beide Gruppen sich überzeugen, daß ein Kompromiß unumgänglich war. Um ihrer eigenen Interessen willen unterstützten die Agrarier die Schutzzollforderungen der Schwerindustrie, und die Schwerindustrie ihrerseits förderte der Landwirtschaft genehme Zolltarife. 1878 war mit der Annahme eines neuen Zolltarifs die kurze Ära des Freihandels beendigt und zugleich der Grundstein gelegt für das politische Bündnis zwischen Schwerindustrie und Großagrariern, das fortan Deutschlands wirtschaftliche und soziale Entwicklung lenken und seine auswärtige Politik entscheidend beeinflussen sollte.

Schutzzöllnerische Wirtschaftspolitik gab es nicht nur in Deutschland, aber in keinem anderen Industrieland zeitigte sie so drastische politische Folgen. Der Zusammenbruch der Freihandelsidee untergrub das Prestige des politischen Liberalismus, der ja mit den Freihandelsparteien eng verbunden war. Konservative Tendenzen konnten ihren Einfluß in dem Maße vergrößern, in dem der Obrigkeitsstaat seine Macht erweiterte. Der politische Druck, den die Anhänger des Schutzzolls auf die Regierung ausübten, störte den Reichskanzler wenig, obwohl er sich selber einst zu den Prinzipien des Wirtschaftsliberalismus bekannt hatte. Niemals ließ sich Bismarck durch ideologische Neigungen oder politische Verpflichtungen von seinem eigentlichen Ziel, dem Ausbau der zentralisierten Reichsgewalt, ablenken. Wo es um dieses Ziel ging, scheute er vor nichts zurück. 1866 hatte er die preußischen Konservativen vor den Kopf gestoßen, indem er den König von Hannover entthronte und damit die geheiligten Rechte der Dynastien in Frage stellte; 1872 hatte er die ostpreußischen Junker verstimmt, indem er mit einer neuen Kreisordnung ihre alten Vorrechte in der ländlichen Selbstverwaltung aufhob; er hatte seine Gegner gedemütigt, indem er einen »Pairsschub« vornahm, das heißt fünfundzwanzig neue Mitglieder des Herrenhauses vom König ernennen ließ, um sein Reformgesetz durchzusetzen; er hatte konservative kirchliche Kreise verärgert, indem er hohe katholische Würdenträger einsperren ließ, als er zu der Überzeugung gekommen war, daß die Sonderinteressen der katholischen Kirche die Reichsautorität bedrohten. Während all dieser Jahre waren die Liberalen dem Kanzler treu geblieben, voller Jubel über jeden Schritt, mit dem er die Einheit des Reiches und die Zentralisierung der Regierung förderte. Dennoch gab es ein Spannungsfeld: selbst während der Jahre engster Zusammenarbeit führten die Liberalen einen stillen Krieg mit Bismarck um die Struktur der zentralistischen Regierung, um die Frage der autokratischen oder parlamentarischen Herrschaftsform.

Eine schwerwiegende Konzession an demokratische Forderungen war dem Kanzler 1867 abgerungen worden, als er mit den Nationalliberalen über die künftige Reichsverfassung verhandelte, nämlich das Recht des Reichstages, die Regierungsausgaben zu bewilligen. Man konnte es Bismarck nicht vergessen, daß er sich 1862 im »Verfassungskonflikt« mit dem preußischen Landtag kurzerhand über die Ablehnung seines Haushaltsplanes hinweggesetzt und vier Jahre lang ohne Etatbewilligung regiert hatte. Nach der Reichsgründung stellte sich bald heraus, wodurch des Kanzlers autokratische Hand zurückgehalten wurde: er brauchte eine Reichstagsmehrheit, die seiner Heeresvorlage zustimmte.

Es war schon zu Reibungen zwischen Bismarck und seinen nationalliberalen Freunden gekommen, als er 1869 eine Anleihe forderte, um die Flotte des Norddeutschen Bundes auszubauen. Ein Kompromiß beendete diesen Konflikt, und 1871 stimmten die Nationalliberalen dafür, daß der Reichstag, wie Bismarck wünschte, den Heeresetat auf vier Jahre im voraus genehmigte. 1874 mußte wieder eine Entscheidung getroffen werden; die Nationalliberalen waren zwar bereit, die von der Regierung beantragten zusätzlichen Ausgaben zu bewilligen, Bismarck jedoch verlangte ein »Äternat«, das heißt eine Blankoermächtigung der Regierung für Heeresausgaben auf unbestimmte Zeit. Dem Reichstag sollte nur das Recht verbleiben, die Stärke der Friedensarmee gesetzlich festzulegen, um dann innerhalb dieser Grenzen alle Ausgaben dem Ermessen der Regierung zu überlassen. Die Annahme dieses Vorschlags durch die Nationalliberalen hätte dem Parlament sein wichtigstes Vorrecht genommen: die jährliche Kontrolle des Staatshaushaltes, wozu nicht einmal der rechte Flügel des deutschen Liberalismus bereit war. Statt dessen wurde ein neuer Kompromißvorschlag ausgehandelt: das »Septennatsgesetz« erteilte dem Kanzler die Ermächtigung, die er dem Reichstag auf immer abzuzwingen versucht hatte, in abgeschwächter Form auf sieben Jahre. Diese Vorausgenehmigung wurde mit 224 gegen 146 Stimmen angenommen. Des nationalen Prestiges wegen hatten viele Fortschrittler, die Nationalliberalen aber ohne Ausnahme dafür gestimmt.

Das Septennat – es wurde 1880 erneuert – bedeutete einen Sieg für Bismarck, aber der Kampf um seine Annahme hatte wieder den Sprung im Unterbau des Reiches bloßgelegt: die Unvereinbarkeit des Prinzips des Obrigkeitsstaates mit dem der Mehrheitsherrschaft, ein Gegensatz, der sich auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens zeigte. Jede Äußerung gegen die Staatsautorität, sei es in der Kunst, der Politik, der Erziehung oder den Sozialwissenschaften, wurde als Bedrohung des Regimes angesehen. Besonders die liberale und sozialistische Presse ging dem Kanzler gegen den Strich und erregte leidenschaftlichen Haß in allen konservativen, christlichsozialen und »national gesinnten« Kreisen, denen die ganze »jüdische Journaille« als Nährboden autoritätsfeindlicher Gesinnung galt. Kritik an der Obrigkeit mußte als umstürzlerisch und unpatriotisch verdammt werden.

Dennoch weigerte sich der Reichstag 1874 und 1876, Gesetzesvorlagen des Kanzlers zuzustimmen, mit denen er die sozialdemokratische Presse zum Schweigen bringen wollte. Schnell war die junge sozialistische Arbeiterbewegung angewachsen, trotz aller Hindernisse, die ihr die Regierung in den Weg legte. Ende der siebziger Jahre schon mußte der Bismarcksche Staat in der Sozialdemokratischen Partei seinen wichtigsten und gefährlichsten Gegner sehen. Einer der Hauptgründe des Kanzlers für den Kurswechsel in seiner Innenpolitik war sein Entschluß, sich dieser revolutionären Bedrohung zu entledigen. Aber solange die beiden liberalen Parteien, Fortschrittler und Nationalliberale, sich gegen jede Ausnahmegesetzgebung sträubten, konnte Bismarck sein antisozialistisches Programm nicht durchsetzen. Der Widerstand der Liberalen mußte gebrochen werden.

Bismarck gelangte zum Ziel mit Hilfe eines politischen Zwischenfalls, bei dem es ihm meisterhaft gelang, sich die wirtschaftliche Unzufriedenheit, kulturelle Erbitterung und politische Furcht, die im deutschen öffentlichen Leben lauerten, zunutze zu machen. Am 11. Mai 1878 verübte der Klempnergeselle Hödel, ein Halbirrer, der kurze Zeit der Christlichsozialen Partei angehört hatte, jetzt aber von der Polizei als Sozialdemokrat bezeichnet wurde, ein mißglücktes Attentat auf Kaiser Wilhelm I. Das war die Gelegenheit, auf die Bismarck gewartet hatte. Als der Kanzler von dem Mordanschlag unterrichtet wurde, soll er triumphierend ausgerufen haben: »Jetzt haben wir sie.« »Die Sozialdemokraten, Durchlaucht?«, wurde er gefragt. »Nein«, antwortete er, »die Liberalen.«76)

Sofort brachte der Kanzler im Reichstag eine Gesetzesvorlage ein, die auf das Verbot der Sozialdemokratischen Partei hinzielte. Die Liberalen, glaubte er, könnten es sich jetzt, wo es um die Bestrafung einer »Mörderpartei« ging, nicht mehr leisten, für die Unverletzlichkeit von Bürgerrechten einzutreten. Aber er hatte sich verrechnet. Die Vorlage wurde abgelehnt, mit den Stimmen der meisten Nationalliberalen. Drei Wochen später verübte ein Anarchist, Nobiling, ein zweites Attentat auf den Kaiser; dieses Mal wurde der Monarch ernstlich verletzt. Die öffentliche Entrüstung war groß. Obwohl der Reichstag erst am 10. Januar 1877 gewählt worden war, löste Bismarck ihn sofort wieder auf und schrieb Neuwahlen aus. Jede Opposition wollte er in einer patriotischen Kampagne für »König und Vaterland« ersticken; alle Kräfte, die ihm im Wege standen, galten als Vaterlandsfeinde, als umstürzlerische Internationalisten, als Freunde und Beschützer von Mördern; die liberalen Elemente in der Beamtenschaft wurden eingeschüchtert; es sei ein Schaden für das Land, ließ der Kanzler verlauten, wenn so viele Anwälte, Beamte und Gelehrte – »Männer ohne produktive Berufe« – im Reichstag säßen.

Die Kampagne »gegen den roten Terror« führte zur Auslöschung der liberalen Reichstagsmehrheit in den Wahlen vom 30. Juli 1878. Die Nationalliberalen, die schon 1877 von 152 Abgeordneten auf 127 gefallen waren, brachten es nur noch auf 98 Sitze, die Fortschrittler auf 26 gegenüber 35 im Jahre 1877 und 49 im Jahre 1874. Die Konservativen dagegen erhielten 59 Mandate, während sie 1877 nur 40, 1874 sogar nur 21 hatten erringen können; die Mandate der Freikonservativen stiegen von 33 bzw. 38 in den vorigen Wahlen auf 56. Die Zentrumspartei konsolidierte ihre früheren Erfolge; sie behielt ihre 93 Sitze von 1877; schon 1874 waren es 91 gewesen (77). Jetzt konnte die Regierung auch mit den Konservativen und mit dem Zentrum regieren.

Die entmutigten Nationalliberalen gaben ihren Widerstand auf. Als Bismarck eine neue, nodi schärfere Gesetzesvorlage gegen die Sozialdemokratie einbrachte, stimmten sie für die Ausnahmegesetzgebung und halfen mit, das »Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« vom 21. Oktober 1878 durchzubringen. Dieses berüchtigte »Sozialistengesetz« erklärte die Partei für gesetzwidrig und ermächtigte die Polizei zur Auflösung »sozialdemokratischer Vereine« – nämlich der Partei-Ortsgruppen – und von »Vereinen, in denen solche Bestrebungen zutage treten«; Gewerkschaften, Arbeiterclubs und praktisch alle sonstigen Organisationen waren damit der Polizeiwillkür ausgeliefert. Den Anhängern der Sozialdemokratie wurde Presse- und Versammlungsfreiheit genommen; die Polizei war befugt, »Agitatoren« (das heißt alle, in denen sie eine Gefahr für Ruhe und Ordnung sah) aus den Großstädten auszuweisen. Das Aufstellen von Wahlkandidaten blieb den Sozialisten jedoch gestattet, das Abhalten von Wahlversammlungen auch, aber nur in Anwesenheit der Polizei.

Viermal wurde das ursprünglich bis zum 31. März 1881 befristete Gesetz verlängert, jedesmal mit den Stimmen der Nationalliberalen. In ihrer Hoffnung, sich durch Zustimmung zum Sozialistengesetz die Gunst Bismarcks wieder erkaufen zu können, sahen sie sich jedoch schwer getäuscht. Sie hatten ihren politischen Feinden nur einen neuen Beweis dafür geliefert, daß es nicht mehr möglich war, gegen den Nationalismus, gegen bedingungslose Treue zu Kaiser und Reich, zu opponieren. Die konservativ-monarchischen Kräfte konnten ihre Ernte einbringen.

Kaum hatte Bismarck die Sozialdemokratie aus dem Wege geräumt, als er sich anschickte, den Liberalismus vollends niederzuringen. Die Regierung begann eine systematische Konsolidierung der Staatsverwaltung und eine Reorganisierung des Beamtentums, aus dem alle »unzuverlässigen«, das heißt alle liberalen Elemente entfernt wurden; besonders das Heer sollte vor Ansteckung durch den Liberalismus geschützt werden78). Die Konservativen aller Richtungen und das Zentrum–Bismarcks neue Reichstagsmehrheit – nahmen die Vorlage für eine neue Wirtschaftsund Sozialgesetzgebung an. Ideologisch und wirtschaftlich einigte diese Politik die Kräfte, die unter der Autorität von Thron und Altar einen »christlich-nationalen Staat« wünschten. Der Liberalismus, in die Enge getrieben durch die manipulierte Angst vor der sozialistischen Revolution, hatte ausgespielt. Sein rechter Flügel, die Nationalliberalen, war seitdem stets bereit, sich auf die Seite der herrschenden Macht zu schlagen, falls diese ihn überhaupt als Partner akzeptieren wollte. Die zusammengeschrumpfte Fortschrittspartei – »Vorfrucht der Sozialdemokratie« hatte Bismarck sie genannt79) – kam als Teilnehmer an einer parlamentarischen Mehrheit sowieso nicht in Frage.

KAPITEL III
Konservativer Staat und soziale Demagogie

Der Antisemitismus hatte gute Dienste geleistet, als es galt, politischen Katholizismus und preußischen Konservatismus zusammenzukoppeln, schwankende Liberale einzuschüchtern und nationalistische Instinkte zu entfesseln. Seine Wortführer konnten sich jetzt auf gute Beziehungen zur Staatsautorität berufen; wenn diese auch lässige Vorbehalte machte, kam ihr die Judenhetze doch recht gelegen. Der politische Antisemitismus wurde respektabel, weil es sich immer deutlicher zeigte, daß die Regierung ihm den Rücken stärkte. Eugen Richter, der Führer der Fortschrittspartei, sagte am 12. Januar 1881 im Reichstag:

»Die Bewegung fängt an, sich an die Rockschöße des Fürsten Bismarck zu hängen, und wenn er sie gleich ablehnt und in seiner Presse die Überschreitungen mitunter tadeln läßt, so fährt sie doch fort, sich an ihn anzuschmiegen und sich auf ihn zu berufen, gleichsam wie lärmende Kinder ihren Vater umdrängen.«80)

In Wilhelm I. fand Stoecker einen wohlwollenden Monarchen; er wußte die Anstrengungen seines Hofpredigers für Thron, Altar und nationalen Staat zu würdigen, wenn ihn auch Stoeckers öffentliche Agitation unangenehm berührte. Fürst Hohenlohe, damals deutscher Botschafter in Paris, bemerkte nach einem Besuch beim Kaiser am 29. November 1880:

»Der Kaiser billigt nicht das Treiben des Hofpredigers Stoecker, aber er meint, daß die Sache sich im Sande verlaufen werde, und hält den Spektakel für nützlich, um die Juden etwas bescheidener zu machen.«81)

Des Kaisers Besorgnis galt wohl weniger den Gefahren, die Stoeckers Agitation für die Juden barg, als vielmehr denen, die sie womöglich durch eine Aufwiegelung der Massen heraufbeschwören könnte. In seiner Unterhaltung mit dem Botschafter gab er jener Furcht Ausdruck, die einen Konservativen immer befällt, wenn er sich sozialer Agitation gegenübersieht, sei sie nun revolutionärer oder demagogischer Art. Andererseits war er von Stoeckers Verehrung angetan und hörte viel Gutes über den Hofprediger von dessen Freunden unter den hohen evangelischen Würdenträgern und der preußischen Aristokratie. Der Kaiser schwankte und spürte die Gefahren nur dunkel; Bismarck dagegen war sich ihrer völlig bewußt. Das zeigte sich eindeutig in den Folgen von Stoeckers Angriff auf Bleichröder.

Um die sozialdemokratischen Angriffe gegen Kirche und Staat abzuwehren, hatte Stoecker auf einer Massenversammlung am 11. Juni 1880 Bleichröders Namen in die Debatte geworfen. Sozialdemokraten unter den Zuhörern, so berichtete Stoecker später, »schmähten die christliche Kirche und Geistlichkeit, daß diese nichts für die Arbeiterwelt getan habe. Die jüdische Tendenz war unverkennbar. Daraufhin rief ich ihnen zu, sie möchten nicht bloß von uns, sondern auch von den Juden Hilfe fordern, z. B. von Herrn Bleichröder, der habe mehr Geld als alle Pastoren zusammen.«82) Eine Woche darauf beschwerte sich Bleichröder in einem Brief an den Kaiser über den Zwischenfall und die christlichsoziale Agitation im allgemeinen. Der im Archiv des Kaiserlichen Geheimen Zivilkabinetts von Frank gefundene Brief ist ein interessantes Zeitdokument, nicht zuletzt deswegen, weil er zeigt, wie sehr der jüdische Bankier sich mit Staat und Thron identifizierte. Bleichröder wies auf die revolutionären Gefahren hin, die Stoeckers politische Tätigkeit in sich trage. Von sozialdemokratischer Agitation unterschiede sie sich einzig dadurch, daß sie »gefährlicher, weil praktischer« sei. Die ganze Sache könne nur auf eine Revolution hinauslaufen.

»Majestät«, schrieb er, »ich zittere nicht vor diesem letzten notwendigen Ereignis, wenn der Agitation nicht rechtzeitig Einhalt geboten wird. Ich versuche mich darauf vorzubereiten, so schweren Herzens ich das Vaterland auch meiden würde … Ich weiß, daß die hohe Staatsgewalt in der letzten und höchsten Katastrophe zu meinem Schutze kommen wird. Aber ich glaube annehmen zu dürfen, daß der Versuch einer Gewalt gegen mich, der in den Reden des Herrn Hofpredigers Stoecker und Genossen gegen mich heraufbeschworen wird, nicht vereinzelt stehen bleiben könnte, daß er vielmehr nur der Anfang des Unglücks einer furchtbaren sozialen Revolution sein müßte.«83)

Der Kaiser sandte den Brief an Bismarck; der gab ihn an den zuständigen preußischen Minister, Robert von Puttkamer84), weiter mit dem Aufträge, die Sache zu untersuchen und geeignete Schritte gegen Stoecker vorzuschlagen. Als naher Freund Stoeckers nahm Puttkamer sich mehrere Monate Zeit, bevor er dem Kanzler einen Entwurf unterbreitete, den dieser am 16. Oktober 1880 ablehnte. Wie Frank einer Kopie im Archiv des Evangelischen Oberkirchenrats entnahm, begründete der Kanzler seine Ablehnung mit folgenden Worten:

»Ich kann der Gesamtauffassung Ew. Exzellenz nicht unbedingt beitreten. Die Tätigkeit des Hofpredigers Stoecker bleibt meines Erachtens auch dann eine bedenkliche, wenn die von ihm veranstalteten Versammlungen ihren tumultuarischen Charakter verlieren sollten. Die Tendenzen, welche er verfolgt, decken sich in mehreren Punkten mit denjenigen der anderen Sozialdemokraten. Ew. Exzellenz erlaube ich mir in dieser Beziehung auf die Rede aufmerksam zu machen, welche Herr Stoecker vorgestern in der Generalversammlung des Zentralvereins für Sozialreform gehalten hat. Er bezeichnete hier die Intentionen der Regierung als ungenügend und als das zu erstrebende Ziel die ökonomische Sicherstellung der Arbeiter in Fällen der Arbeitslosigkeit; er fordert die Normalarbeitszeit und die progressive Einkommensteuer. Daß letztere nur eine verhältnismäßig sehr geringe Erhöhung der jetzigen Einkommensteuer bedeuten würde, sollte er wohl wissen; seine Zuhörer aber wissen es nicht. Wenn er die Normalarbeitszeit verlangt, so arbeitet er auf den Ruin unserer Industrie zugunsten ihrer Konkurrenten in England, Belgien, Frankreich usw. hin, und wenn er die ökonomische Sicherstellung des Arbeiters in Fällen der Arbeitslosigkeit fordert, so muß er sich klar sein, daß dieses Ziel ein faktisch unerreichbares ist. Er regt unerfüllbare Begehrlichkeiten auf.

Was speziell die Judenfrage betrifft, ist es ein Irrtum, wenn angenommen wird, daß die reichen Juden bei uns einen großen Einfluß auf die Presse ausüben. In Paris mag dies anders sein. Nicht das Geldjudentum, sondern das politische Reformjudentum macht sich bei uns in der Presse und in den parlamentarischen Körperschaften geltend. Die Interessen des Geldjudentums sind eben mit der Erhaltung unserer Staatseinrichtungen verknüpft und können der letzteren nicht entbehren. Das besitzlose Judentum in Presse und Parlament, welches wenig zu verlieren und viel zu gewinnen hat und sich jeder politischen Opposition anschließt, kann unter Umständen auch zu einem Bündnis mit der Sozialdemokratie, einschließlich Stoecker, gelangen. Gegen dieses richtet sich auch die Agitation des Herrn Stoecker nicht vorzugsweise; seine Reden sind auf den Neid und die Begehrlichkeit der Besitzlosen gegenüber den Besitzenden gerichtet.«85)

Bismarcks Sohn Herbert schrieb am 21. November 1880 dem Geheimrat Tiedemann, einem hohen Regierungsbeamten, sein Vater nehme viel mehr Anstoß an den sozialistischen als an den antisemitischen Tendenzen der Stoeckerschen Agitation.

»Auch gegen Bleichröder hetzt Stoecker nicht etwa, weil er Jude, sondern weil er reich ist. Für meine Beurteilung des Stoeckerschen Treibens sind namentlich die Versammlungsreden maßgebend, in welchen er den Arbeitern auf Kosten der wohlhabenden Klassen goldene Berge verspricht, vermittels der einzuführenden progressiven Einkommensteuer usw.… Wenn Stoecker sich bloß gegen die Ausschreitungen und das Überwuchern des Judentums in Presse und Parlament gerichtet hätte, würde Bleichröder keine Veranlassung gehabt haben, die Hilfe Seiner Majestät gegen seine Agitation anzurufen, und man hätte ihn gewähren lassen können: das Gefährliche ist aber die kommunistisch-sozialistische Tendenz der Stoeckerschen Aufreizung.«86)

Beide Bismarcks waren dafür, Stoeckers Partei unter Berufung auf das Sozialistengesetz für ungesetzlich zu erklären.

Soweit aber wollte wiederum der Kaiser nicht gehen. Er beendigte die Angelegenheit durch eine Mitteilung an den Hofprediger, worin er ihn tadelte, daß er in seinen an sich wohlmeinenden Bestrebungen Exzesse nicht vermieden habe. Der Kaiser sprach sein Bedauern darüber aus, daß Stoecker Begehrlichkeiten, zu deren Befriedigung auch er kein Mittel kenne, mehr erregt als beruhigt habe. Er habe die Aufmerksamkeit der Masse auf die Reichtümer Einzelner gelenkt und soziale Reformen vorgeschlagen, die über das Regierungsprogramm hinausgingen. Im ganzen aber blieb die kaiserliche Ermahnung schonend und entmutigte den Hofprediger nicht.

Während die Regierung noch die Bleichröder-Affaire beriet, hatte eine neue antisemitische Kampagne begonnen. Im Herbst 1880 machten sich Bernhard Förster, Max Liebermann von Sonnenberg, Ernst Henrici und andere antisemitische Führer der Berliner Bewegung daran, Unterschriften für eine Petition an den Reichskanzler zu sammeln. Ziel dieser sogenannten »Antisemitenpetition« war »die Emanzipation des deutschen Volkes von einer Art Fremdherrschaft, welche es auf die Dauer nicht zu ertragen vermag«87). Die Unterzeichner verlangten Verbot oder wenigstens Einschränkung der Immigration ausländischer Juden; Ausschluß der Juden von allen Regierungsstellen; beschränkte Zulassung von Juden bei den Gerichten, besonders als Richter; Ausschluß der Juden von Lehrerstellungen in Volksschulen; Verringerung jüdischer Lehrkräfte an höheren Schulen und Universitäten; Wiedereinführung des separaten Zensus für die jüdische Bevölkerung. Im April 1881 wurde die Petition mit etwa einer Viertelmillion Unterschriften Bismarck überreicht.

Im November 1880–die Unterschriftensammlung war noch im Gange – hatte die Fortschrittspartei im Preußischen Landtag eine Interpellation eingebracht; die Regierung wurde ersucht, eine Erklärung darüber abzugeben, welche Haltung sie gegenüber den Bestrebungen einnähme, jüdische Staatsangehörige ihrer bürgerlichen Rechte zu entkleiden. Es kam zu einer Debatte, die sich über mehrere Sitzungen hinzog. Der Vizepräsident des preußischen Ministerrats gab die kurze Erklärung ab, die Verfassung garantiere die Gleichheit aller Konfessionen, und die Regierung beabsichtige nicht, eine Änderung der gesetzlichen Stellung der Juden zuzulassen. Die Antisemiten schlossen daraus, die Regierung sei über die Interpellation ungehalten, und fühlten sich ermutigt, ihre Unterschriftensammlung nun erst recht fortzuführen.

Gegen Ende des Jahres 1880 schien die antisemitische Agitation im öffentlichen Leben Berlins zu dominieren. Eduard Bernstein beschreibt in seiner »Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung« die damalige Lage:

»Es war wie eine Sturzwelle judenfeindlicher Reaktion. Eine ganze Presse, die ihr Ausdruck gab, schoß ins Leben. Antisemitische Flugschriften und Schimpfblätter wider alles, was jüdisch oder jüdischer Sympathien verdächtig war, wurden in Massen verbreitet; sie predigten gesellschaftliche Ächtung der Juden, und diese Ächtung wurde auch verschiedentlich in verletzender Form in die Tat umgesetzt … Mit Rüpelszenen, wie sie Berlin zuvor nicht gekannt, wurde, nachdem am 30. Dezember 1880 eine große Antisemitenversammlung in der Bockbrauerei durch Reden der B. Förster, E. Henrici, Ruppel, Liebermann von Sonnenberg und anderer Führer der Bewegung bearbeitet worden war, in der Silvesternacht 1880/1881 das neue Jahr eingeläutet. Organisierte Banden zogen in der Friedrichstadt vor die besuchteren Cafés, brüllten, nachdem allerhand Schimpfreden gehalten worden, taktmäßig immer wieder »Juden raus!‹, verwehrten Juden oder jüdisch aussehenden Leuten den Eintritt und provozierten auf diese Weise Prügelszenen, Zertrümmerung von Fensterscheiben und ähnliche Wüstheiten mehr. Alles natürlich unter der Phrase der Verteidigung des deutschen Idealismus gegen jüdischen Materialismus und des Schutzes der ehrlichen deutschen Arbeit gegen jüdische Ausbeutung.«88)

Im Juni 1881 wurde der Reichstag aufgelöst, nachdem die liberale und sozialistische Opposition die Regierungsvorlage für eine obligatorische Unfallversicherung zu Fall gebracht hatte. Im darauffolgenden Wahlkampf erreichte der organisierte Antisemitismus einen Höhepunkt. Stoecker schreibt über die Stimmung der Wahlkampagne:

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