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Andere Politiker, unter anderem die Berliner Senatoren für Inneres und Schulen, beide von der SPD, zeigten Verständnis für die strikte Befolgung des Berliner Neutralitätsgesetzes. Ein Verfassungsrechtler wies auf die verschiedenen Grundrechte hin, die hier zusätzlich berührt seien, insbesondere die Freiheit der Berufswahl und die Freiheit der Religionsausübung.

Worum geht es? Zum einen um den Erhalt der «Gesellschafts»-Struktur. Sie besteht darin, dass unterschiedliche Gemeinschaften, das sind insbesondere religiöse und explizit-nichtreligiöse Gruppierungen, innerhalb eines politischen Gemeinwesens einigermaßen friedlich zusammenleben können. Da ist zum anderen die Frage, ob ein Kopftuch als religiöses Symbol mit dem christlichen Kreuz vergleichbar ist.

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Das Textil

Vor mehr als einhundert Jahren hat Siegfried Seligmann in seinem zweibändigen Werk Der Böse Blick erstmals ausführlich die weltweit in vergangenen Jahrtausenden erkennbare kulturprägende Rolle von Bemühungen aufgezeigt, die vielleicht destruktivste zwischenmenschliche Emotion, das ist der Neid, in ihrer zerstörerischen Kraft zu mäßigen, wenn nicht gar völlig auszulöschen. «Der Böse Blick» – mal de ojo im Spanischen, evil eye im Englischen – ist in althergebrachtenVorstellungen zahlreicher Völker die Ursache für Krankheit der Frauen, der Kinder, des Viehs, ebenso wie für Unheil und Unglück, das unerklärlich und unvorhersehbar einen Menschen oder eine Familie befällt.

«Der Böse Blick» geht stets von den Benachteiligten aus. Das können alle die Menschen sein, die benachteiligt auf diejenigen schauen müssen, denen es gut oder jedenfalls besser geht. Vielleicht weil sie kräftiger sind und mehr Wild erjagen oder Fische fangen können, weil das Stück Land, das sie bebauen, etwas mehr Ernte erbringt, oder weil sie ein wenig klüger als die anderen sind und daher überdurchschnittlich viel von dem erhalten, was die Natur für alle bereithält. Seligmann erkannte in der Vorstellung vom «Bösen Blick» die Angst vor dem Neid der Zukurzgekommenen.

Dem Neid, so Seligmann, ist keinerlei konstruktive Facette zu eigen; der Neider sieht das eigene miserable Dasein durch diejenigen bedingt, denen es besser geht, und er sinnt allein darauf, Letzteren zu schaden. Die Potlatch- und anderen Schenkungs-Riten beispielsweise der nordamerikanischen Indianer, die dazu bestimmt waren, den Mehrbesitz innerhalb der Gemeinschaft immer wieder zu Gleichbesitz zurückzuverwandeln, bildeten die eine kulturelle Maßnahme, dem Neid zuvorzukommen. Wenn alle das Gleiche besitzen, oder jedenfalls davon ausgehen können, dass Mehrbesitz immer nur vorübergehend ist und keine Machtansprüche eines Teils der Gemeinschaft über einen anderen begründet, dann kann auch kein Neid entstehen. Aber das war nur die eine Seite: die Vorbeugung.

Der Vorbeugung des Möglichen stand die Abwehr des Faktischen gegenüber. Benachteiligte, die sich nicht in ihr Schicksal ergeben können, wird es stets geben. Wie aber schützt man sich vor dem Bösen Blick des Neiders? Noch heute benutzt man im Mittelmeerraum dazu Amulette. Eine vielleicht noch wirksamere Methode ist es, den Besitz, der dem Anderen fehlt, und der dessen zerstörerischen Bösen Blick hervorrufen könnte, zu verbergen. Materielle Güter können umverteilt werden. Eine gesunde und glückliche Familie sind nun einmal dem einen gegeben, dem anderen nicht – und dieser Vorteil wird auch auf lange Zeit bestehen bleiben. Die Frauen zu verbergen, war in traditionellen Teilhabe-Gemeinschaften ein weit verbreiteter Brauch. Sie wurden entweder gar nicht in die Öffentlichkeit gelassen oder aber so verkleidet, dass sie den Blicken eines Fremden nicht ausgesetzt waren.

Die Ganzkörperbekleidung, die so genannte Burka im Orient, ist ein Relikt aus dieser Zeit. Ihr Ursprung ist wohl kaum noch jemandem bewusst, aber die Funktion ist geblieben, nämlich die Frau den Augen der Fremden außerhalb der Familie, außerhalb der schützenden Mauern des Hauses zu entziehen. Der fundamentalistische Islam hat die Ganzkörperbekleidung für sich als Symbol identifiziert und diesen Brauch seiner ursprünglichen kulturellen Bedeutung entzogen. Übrig geblieben ist lediglich ein fragmentarisches Symbol – das Kopftuch. Wenn junge Muslimas im Internet auf die Frage, warum sie ein Kopftuch tragen, antworten, «der Kopf ist meine Intimzone», dann messen sie dem Textil eine schützende Funktion vor dem Blick fremder Männer zu.

Das Kopftuch wird innerhalb der Familie abgelegt. Es richtet sich also allein gegen fremde Blicke. Obwohl ein Kopftuch so schmückend und hübsch sein kann, dass es die Blicke geradezu auf sich zieht – betrachtet wird eben nur die Hülle und nicht das, was darunter ist.

So gesehen ist das Kopftuch heute ein ganz banales Stück Textil geworden, wie jedes andere Kleidungsstück. Das Kopftuch ist primär kein religiöses Symbol. Dass männliche Imame das auf eine harmlose Kopfbedeckung geschrumpfte ursprüngliche Kleidungsstück als religiös begründete Verpflichtung einfordern, ist unverständlich.

Auch das Christentum hat die Abwehr der vorgeblichen Lüsternheit der Männer mit dem 9. Gebot, «Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Weib», in den Kanon seiner religiösen Verpflichtungen aufgenommen, und damit die Forderung des 6. Gebots, «Du sollst nicht ehebrechen», noch einmal ausdrücklich auf das Verhalten von Männern konzentriert. Die Schöpfer des Islams haben ihr Wissen um die Lüsternheit der Männer nicht durch den Appell in Geboten kundgetan. Sie haben sich entschieden, den Männern den Anblick auf das zu nehmen, was außereheliche Begehrlichkeiten wecken könnte.

In welchem Ausmaß die Muslimas auferlegte Verpflichtung, Kopftuch zu tragen, in höchster islamisch-theologischer Instanz von paternalistischem und sexistischem Gedankengut durchwebt ist, wurde 2019 durch mehrere Sendungen des TV-Dokumentarfilms «Wellen-Rebellinnen – Von Gaza bis Südafrika»1 in einem Interview deutlich, das der von der Hamas eingesetzte oberste Schariarichter im Gaza-Streifen der deutschen Journalistin Dörthe Eickelberg gab. Sie hatte den theologischen Experten nicht nur danach gefragt, warum er muslimischen Frauen das Surfen nicht gestatte, sondern auch um eine Begründung für das im Islam herrschende Verhüllungsgebot für Frauen gebeten. Der Schariarichter antwortete ihr, Frauen seien mit den Süßigkeiten vergleichbar, die ein Straßenhändler feilbietet. Wenn er sie nicht bedeckt, locken sie die Fliegen an.

Aber da besteht dann noch eine ernster zu nehmende Perspektive, und hier kehren wir zu den Spielregeln zurück, die eine Gesellschaft von der Gemeinschaft unterscheidet. Die Gesellschaft, und wir bleiben vorerst auf der bisherigen nationalen Ebene, wird nicht bestehen können, wenn sie nicht die übergeordneten, neutralen Organe schafft oder auf Dauer beibehält.

Hier kommt nun der Widerspruch von Vernunft und Emotion zum Tragen. Man kann an die Vernunft der Bürger appellieren, dass die Neutralität auch gegeben ist, wenn sich die Handelnden der hoheitlichen Organe deutlich erkennbar zu ihrer religiösen oder sonstigen Weltanschauung bekennen, der sie nun einmal angehören. Schließlich weiß jeder Bürger, dass jeder Funktionsträger, auch wenn er dies nicht durch offensichtliche Symbole zu erkennen gibt, irgendeiner religiösen oder sonstigen Weltanschauung anhängt und wahrscheinlich dadurch in seinen Urteilen und in seinem Handeln mehr oder weniger geleitet wird. Doch für das Empfinden derer, die hoheitliches Verhalten erdulden müssen, spielen solche Vernunftargumente möglicherweise nicht die größte Rolle. Sie sehen in den zur Schau gestellten Symbolen weniger das Individuum, das sie trägt, als die Wertorientierung, für die diese Symbole stehen. Der Sinn übergeordneter, hoheitlicher Organe, das Vertrauen aller in der Gesellschaft vereinten Gruppen zu erlangen, ist gefährdet, wenn die für diese Organe Tätigen ihre persönliche Wertorientierung offen zur Schau stellen. Sie zeigen damit an, dass sie sich nicht in erster Linie einer neutralen, übergeordneten Instanz verpflichtet fühlen, sondern ihrer persönlichen Glaubens- oder Gruppenzugehörigkeit.

Das Kopftuch ist ein Symbol, das unabhängig davon, ob eine Trägerin tatsächlich der Meinung ist, sie müsse damit ihre «Intimzone» verbergen, auf die Mitgliedschaft der Trägerin in einer Wertegemeinschaft verweist, die seit geraumer Zeit durch Aggressivität, Selbstmordanschläge, Terrorangriffe und andere Scheußlichkeiten mehr weltweit Schlagzeilen macht und ganze Regionen in Angst, Schrecken und wiederkehrende Blutbäder versetzt. Wenn am sogenannten al-Quds-Tag in Berlin Tausende auf die Straße gehen, um sich öffentlich in hasserfüllten Tiraden gegen Israel zu ergehen, da tragen die teilnehmenden Frauen ein Kopftuch. Die Gefährtinnen der IS-Mörder verstecken sich, ihrer Religion gehorchend, in der Ganzkörperverkleidung. Das Tragen eines Kopftuchs war in der Türkei zuvor verboten und ist durch die islamistische Regierung der AKP weitgehend legalisiert worden. Es sind diese Signale, die sich auf die Aversion gegen Kopftuchträgerinnen auch in Deutschland auswirken.

Man kann die Vernunft bemühen – in der Schule, in den Medien, in Sonntagsreden – und darauf hinweisen, dass unter dem Kopftuch höchst unterschiedliche Charaktere und individuelle Mentalitäten vereint sind. Man kann darauf hinweisen, dass 47 % der in Deutschland lebenden und an der Wahl des türkischen Parlaments teilnehmenden Türkinnen und Türken aus welchen Gründen auch immer nicht für die AKP stimmen – aber die Vernunft erreicht nur selten die Ebene der Emotionen, der Verunsicherungen, der Ängste.

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Symbole und Neutralität

Das Kopftuch ist erkennbarer und bewusst gestalteter Ausweis einer eng definierten Wertorientierung. Die Symbolik dieses Textils ist eine gänzlich andere als die des Kreuzes, mit dem sich manche Christen sichtbar zu ihrer Religion bekennen. Es ist nicht nur der vorreligiöse kulturelle Ursprung dieses Kleidungsstücks, der es von der originär religiös verankerten Symbolik des Kreuzes unterscheidet, an dem Christus starb, und das somit unmittelbar für die im christlichen Glauben verheißene Erlösung der Menschen steht. Ein vergleichbarer Sinngehalt geht dem Kopftuch ab.

Das Kreuz ist beileibe kein unschuldiges Symbol. Es hat sich über lange Zeiten als Schwert erwiesen, an dessen Schneide das Blut ungezählter Opfer des Machtstrebens unter dem Deckmantel religiösen Sendungsbewusstseins klebt. Wichtiger aber ist, dass die schweren Verbrechen, die im Namen des christlichen Symbols weltweit verursacht worden sind, und zwar nicht nur vor knapp eintausend Jahren im Schatten der Kreuzzüge im «Heiligen Land», heutzutage und bereits seit langer Zeit ein Ende gefunden haben. Diese dunklen Seiten des Christentums sind nach zunehmend erfolgreicher Gegenwehr der säkularen Kräfte – zumindest vorübergehend – durch ein Bemühen aller christlichen Kirchen ersetzt worden, sich an die humanitären Aufgaben der christlichen Botschaft zu halten.

Die Medien können über Pädophilie-Skandale im Vatikan und in der deutschen Katholischen Kirche, die das Ansehen der Priester beschädigen, oder über bewaffnete evangelikale Fundamentalisten in den USA berichten, aber es gibt keinen Grund, über christliche, fundamentalistisch-kriminelle Gruppierungen zu berichten, die weltweit ähnliche Verunsicherungen und Ängste hervorrufen könnten, wie das nationalistisch-islamistische Gebahren der AKP oder die Schreckenstaten der mörderischen Banden des aus muslimischem Fundamentalismus erwachsenen Islamischen Staats. Die aber prägen die Gefühle vieler Nicht-Muslime. Ob die Trägerinnen des Kopftuchs das beabsichtigen oder nicht, das Textil ist ein Symbol, das sie mit den Exzessen verbindet. Symbole der Gemeinsamkeit entfalten immer wieder von neuem ihre Wirkung. Das ist schließlich ihr Zweck.

Manche Antisemiten und Interessenvertreter der Palästinenser stellen eine Verbindung her zwischen Kippa-Trägern und dem von Israel im Gaza-Streifen verursachten Leid mit enormen menschlichen Verlusten und materiellen Schäden einerseits und den weltweit zerstreut lebenden Juden andererseits. Dementsprechend lassen sie ihre Aversionen an Kippa-Trägern aus. Die zerstörerischen Aktivitäten der israelischen Armee in den Palästinensergebieten kann man als harte, wenn nicht gar überharte und kontraproduktive Selbstverteidigung eines Staates ansehen, der sich durch den Raketenbeschuss seiner Nachbarn verletzt und in der Existenz bedroht sieht. Im Rückblick auf eine leidvolle, jahrtausendelange Geschichte seines Volks besitzt dieser Staat erstmals die Mittel, sich seiner Feinde zu erwehren.

Zwischen den Gegenschlägen als Reaktion auf Granatenhagel und andere Terroraktivitäten aus den Nachbarländern einerseits und den Individuen fernab von Israel und dem Gaza-Streifen, die die Kippa tragen und sich somit als Juden zu erkennen geben, andererseits eine Beziehung der Gemeinsamkeit im Bösen zu erkennen, ist schon sehr weit hergeholt. Eine solche Beziehung ist dennoch Realität für diejenigen, die an dem sogenannten al-Quds-Tag auf die Straße gehen oder jüdische Individuen in Berlin oder sonstwo allein wegen der Kippa als Vertreter des Bösen identifizieren und nicht selten auch tätlich angreifen. Die Kippa gilt ihnen als Symbol der Zugehörigkeit der Träger zu der übergeordneten Macht, der ihr Hass gilt. Die Beziehung zwischen Kopftuchträgerinnen und den täglichen Nachrichten über den Abbau von demokratischen Strukturen in dem Land, das uns von allen Staaten mit vergleichbarer Politik am nächsten liegt und in dem das Kopftuchtragen geradezu zum Symbol der Re-Islamisierung durch die AKP geworden ist, sowie die Beziehung zwischen den Kopftuchträgerinnen und den täglichen Nachrichten aus dem muslimischen Mörderstaat des IS-Kalifats sind sehr viel direkter und unmittelbarer. Man kann endlos für eine Äquivalenz von Kippa, Kreuzsymbol und Kopftuch argumentieren. Diese Äquivalenz kann man auf einer oberflächlichen Ebene finden; sie ist jedoch in Wirklichkeit nicht gegeben. Das Kopftuch nimmt die Trägerin ab, sobald sie die Schwelle ihres Hauses, ihrer Wohnung übertreten hat. Die Kippa behält der Träger von morgens bis abends auf, gleich ob er sich außerhalb des Hauses oder im Familienkreis befindet. Dasselbe gilt für das Kreuz an der Halskette. Das Kopftuch hat eine völlig andere Funktion als Kippa und Kreuz. Das Kopftuch dient der Trennung ihrer Trägerinnen von anderen Menschen; die Kippa und das Kreuz dienen der Verbundenheit ihrer Träger mit Gott.

Nicht zuletzt deshalb erreichen entsprechende Appelle und Argumentationen nicht die Gefühle aller Menschen, die den Medien täglich Nachrichten über islamistische Aktionen entnehmen, die im mildesten Fall Kopfschütteln, vielfach aber blankes Entsetzen hervorrufen. Es geht um die gegenwärtige Symbolik und die von dieser Symbolik getragene Aussage, dass man einer Gruppe angehört, die Herrn Erdoğan wählt, der die Demokratie schwächt und Frauen in die zweite Reihe hinter die Männer verweist.

Das Kreuz ist ein Symbol, das durchaus Außenwirkung haben soll: «Ich bin Christ!», ist seine Botschaft. Auch dem Kopftuch kommt diese Außenwirkung zu: «Ich bin Muslima!», ist seine Botschaft. Anders als das Kreuz ist das Kopftuch nur auf diese Außenwirkung ausgerichtet. Eine Christin wird nicht, wenn sie die schützenden Vier-Wände ihrer Wohnung erreicht hat, das Kreuz abnehmen und an die Wand hängen oder in die Schmuckschatulle legen. Das Kopftuch verliert seine Gültigkeit, sobald die Muslima sich in ihre Familie zurückgezogen hat. Es ist daher sehr viel expliziter als Hinweis an andere Menschen konzipiert; als Ausrufezeichen der Gesinnung und der Zugehörigkeit.

Es ist nicht zu erwarten, dass eine größere Anzahl der Kopftuchträgerinnen in Deutschland, geschweige denn jede Kopftuchträgerin, glücklich über die Durchsetzung ihrer Glaubensideale aus dem Hintergrund zusieht, wie ihr IS-Kämpfermann einen Ungläubigen ans Kreuz schlägt, zwei Homosexuelle enthauptet oder sonstige Taten verübt, die er aus seiner Religion heraus für gerechtfertigt hält. Genauso mögen die Schneiderin in Gütersloh, die Bäuerin in Niederbayern oder die Drogerieverkäuferin in Nordhorn, die die NSDAP gewählt haben und 1933, 1938, 1941 das Parteiabzeichen trugen, keineswegs schlechte Menschen gewesen sein, die an Judenmord und Vernichtungskrieg im Osten gedacht haben, oder gar sich dieser Aktivitäten bewusst waren. Sie sind dennoch Teil des Ganzen gewesen, aus dem diese Aktionen heraus erst möglich sein konnten.

Es geht also nicht um die Einzelfallprüfung, wie nahe jede einzelne Kopftuchträgerin tatsächlich den Demokratie- und Frauenrechtsfeinden der AKP oder gar den mörderischen Methoden der IS-Muslime steht. Das Kopftuch kann aber die Vermutung wecken, dass sie diesen Kräften in der muslimischen Welt nähersteht als denjenigen, die die demokratisch-freiheitliche Ordnung gewahrt sehen möchten. Der Beobachter in Deutschland wird von den Medien mit Berichten versorgt über eine Entwicklung in der Türkei, deren islamistische Partei und Entdemokratisierung offenbar nicht zuletzt von den Kopftuchträgerinnen unterstützt wird. Es bleibt ihm die Ungewissheit, welche politische Macht sich hier in Deutschland bildet und welche Forderungen diese Macht dereinst erheben wird, wenn die Unterstützer Erdoğans und der AKP erst einmal ausreichend an der Zahl sind, um ihre Vorstellungen wirksam durchzusetzen. Der türkische Staatspräsident hat auf seiner Wahlempfehlungsreise durch Deutschland im Frühjahr 2015 solche Unsicherheiten noch bestärkt. Er empfahl seinen Landsleuten, sich in Deutschland zu integrieren, zugleich aber auch die Werte, die Religion und die Sprache ihrer Heimat zu bewahren. «Je stärker unser Zusammenhalt in der Welt, umso stärker sind wir alle.» Das klingt nach «Fünfter Kolonne».

Kehren wir also zurück zu der jungen Muslima, die im Rahmen ihrer Ausbildung zur Juristin in Deutschland als Kopftuchträgerin beanspruchte, in einer hoheitlich wirkenden Behörde tätig zu sein. Als sie an dem Neutralitätsgesetz des Landes Berlin scheiterte, kritisierte sie das öffentlich als Berufsverbot und unangebrachte Diskriminierung. Wir wissen nicht, ob diese Frau zu denjenigen Muslimas zählt, die das Kopftuch zum Schutz einer auf dem Kopf lokalisierten «Intimzone» tragen, oder ob sie tatsächlich der Meinung ist, mit dem Tragen dieses Textils in der Öffentlichkeit ein islamisches Glaubensbekenntnis zu demonstrieren. Festzuhalten ist, sie hat sich für ein Symbol entschieden, und über alle Vernunft der Betrachter hinaus weckt dieses Symbol Emotionen, weil es auf Assoziationen verweist, die manchen Betrachtern unangenehm sind. In einem ähnlich gelagerten Fall hatte die Bayerische Landesregierung einer Muslima untersagt, ihr juristisches Referendariat mit Kopftuch anzutreten. Ende Juni 2016 entschied das Amtsgericht Augsburg anders und erlaubte der Frau, ihr Referendariat mit Kopftuch auszuüben.1

In der Gesellschaft, die sich aus verschiedenen Gemeinschaften zusammensetzt, ist die gedeihliche Ordnung nur dann gewährleistet, wenn ein Vertrauen in die übergeordneten, neutralen Institutionen, die allen gleichermaßen dienen sollen, zustande kommt. Vertrauen mag sich zu einem Teil aus Vernunftargumenten speisen; es speist sich vielleicht in noch größerem Umfang aus Zuversichten und Ängsten, aus Gefühlen von Sicherheit oder Unsicherheit. Das bleibt gerne unbeachtet, wenn versucht wird, Vertrauen zu erzeugen.

Ein Beispiel ist ein Interview mit dem Verfassungsrechtler Klaus Finkelnburg, CDU, in der Berliner Zeitung vom Juni 2015. Finkelnburg «hält die Neutralität des Staates für wichtig – aber das Recht sei dynamisch», so der Untertitel. Der Verfassungsrechtler verweist darauf, dass noch vor wenigen Jahrzehnten ein Filmplakat mit einer entblößten Frauenbrust Anstoß erregte – heute ist das ganz normal. «Ich kann mir vorstellen, dass es in 20 oder 30 Jahren auch Richterinnen mit Kopftuch gibt und sich kaum einer daran stört. Ich bin ein liberaler Konservativer. Ich meine, wir sollten die Freiheit des Individuums so weit wie möglich zulassen.»2

Hier äußert sich erkennbar die Stimme der Vernunft. Der Verfassungsrechtler spricht von einer «Scheindiskussion um optische Neutralität». Er geht davon aus, dass mangelnde Neutralität etwa einer Richterin, mit oder ohne offenen Hinweis auf deren weltanschauliche Orientierung, sich im Verlauf einer Gerichtsverhandlung als Befangenheit zu erkennen gibt. Die dann folgende Auswechslung durch eine vermutlich nicht befangene Richterin stellt die Neutralität des staatlichen Organs wieder her. Dem Verfassungsrechtler erscheint es daher durchaus denkbar, dass hoheitlich Tätige dereinst ihre religiöse Überzeugung offen zeigen, weil die «optische Neutralität» ohnehin nur eine Illusion sei. Entscheidend sei das konkrete Verhalten. So mag es durchaus sein.

Diese Argumentation setzt sich allerdings über die Emotionen derjenigen Bürger hinweg, die mit Symbolen konfrontiert werden, ohne vorher den Argumentationsweg der Vernunft über ein Studium oder auf sonstige Weise gegangen zu sein. Sie sehen das Kopftuch und sie sehen die Bilder in den Medien. Sie können nicht bei jeder Muslima, die sich ihnen bewusst als solche zu erkennen gibt, nachfragen, ob sie vielleicht die Einstellung des im Juli 2015 verstorbenen Omar Sharif teilt, der, als libanesischer Christ geboren aus Liebe zu seiner späteren Ehefrau zum Islam übertrat. Er bekannte offen, dass er sich keinen Gott vorstellen könne, der nur diejenigen in sein Paradies einlasse, die nun zufällig von ihren Eltern in das Judentum, das Christentum oder den Islam eingeführt worden seien. Die Kraft der religiösen Symbole ist nicht zu unterschätzen. Sie verweisen nie auf das Individuum, sondern stets auf das größere Ganze, dem sich der Träger des Symbols verpflichtet sieht. Wenn der Blick auf dieses größere Ganze Gefühle der Angst und Unsicherheit auslöst, dann ist der Appell der Vernunft, doch bitte auf das Individuum zu schauen, nur bedingt wirksam.

Das Renommee des Verfassungsrichters hängt von seiner Fähigkeit ab, der juristischen Vernunft Priorität einzuräumen. Ein Politiker, wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Fritz Felgentreu, dessen Wiederwahl nicht zuletzt auch davon abhängt, wie er die Emotionen seiner Wähler einschätzt und anzusprechen vermag, äußerte in einem Gastkommentar in der Berliner Zeitung, Nr. 142, 22.06.2015, Seite 18, Folgendes:

«Diese Debatte ignoriert, dass wir klare Regeln für die Neutralität des Staates brauchen. Es muss einen neutralen Rahmen für das Zusammenleben in einer multiethnischen und multireligiösen Gesellschaft geben. Warum? Weil genau dieses Zusammenleben nicht nur bunt, sondern auch reich an Konfliktpotential ist. Vom Glockenläuten zu einer für viele Berliner nachtschlafenden Zeit – Sonntagvormittag um halb zehn – über das Ramadanfestzelt im Vorgarten eines Mietshauses, dessen nicht-muslimische Mitbewohner lieber Ruhe statt Fastenbrechen hätten, bis hin zu offenem Antisemitismus an Schulen: Es gibt ein breites Spektrum an Reibereien von unterschiedlichem Hitzegrad. Dort, wo der Staat in solche Konflikte als Schlichter oder Entscheider eingreift, ist er für seine Glaubwürdigkeit zwingend darauf angewiesen, dass seine Repräsentanten nicht schon durch ihr Äußeres den Eindruck erwecken, parteiisch zu sein. Wie wird es auf die Familie im Ramadan-Festzelt wirken, wenn am Hals des von genervten Nachbarn gerufenen Polizisten ein silbernes Kruzifix funkelt? Die Beamten mögen sich noch so korrekt verhalten – ihre Glaubwürdigkeit wäre von vornherein infrage gestellt. Und es gäbe weniger harmlose Fälle: Wie sähe es aus, wenn der 17-jährige Mohammed bei der Demo ‹Solidarität mit Palästina› antisemitische Volksverhetzung betreibt und vor einem Jugendrichter mit Kippa landet? Die nächste Demo haben wir dann vor dem Gericht.

Das Argument, das Gesetz wirke sich wie ein Berufsverbot aus, kann ich nicht akzeptieren. Nicht jede Muslima trägt Kopftuch. Und wer es tragen möchte, kann vieles werden: Ärztin, Geschäftsfrau, Rechtsanwältin, Religionslehrerin, Lehrerin an einer Privat- und Berufsschule und etliches mehr. Unsere Gesellschaft bietet für fast jeden Lebensentwurf eine Perspektive. Aber die individuelle Ausgestaltung der Religionsfreiheit muss Privatsache bleiben.

Der neutrale Staat ist ein hohes Gut. Wer seine individuelle Interpretation von Glaubensfragen über das Recht des säkularen Staates stellt, ist meines Erachtens für den Staatsdienst nicht geeignet.»

Die politischen Trennlinien verlaufen in dieser Debatte kaum nach altbekannten Mustern. Der SPD-Politiker Felgentreu, unterstützt von seinem Parteikollegen Erol Özkaraca und der ehemaligen Berliner Senatorin für Integration, Dilek Kalayci, ebenfalls SPD, fordert eine härtere Linie als das CDU-Mitglied Finkelnburg. Welche Seite obsiegen wird, lässt sich nicht sagen. Es ist aber wahrscheinlich, dass das Vertrauen der Bürger in ihre Institutionen und die emotionale Bindung vieler Bürger an diesen Staat eine vergebliche Hoffnung bleiben werden, wenn die Grundlagen zur Bildung einer Gesellschaft als geordnete Einheit aus zum Teil höchst unterschiedlichen Gemeinschaften nicht eingehalten werden.

Die Bedeutung des Neutralitätsgebots in einer Gesellschaft ist möglicherweise nur wenigen bewusst. Das Verbot, Kennzeichen weltanschaulicher oder gar religiöser Zugehörigkeit in hoheitlich relevanter Tätigkeit zur Schau zu stellen, ist der Macht der Symbole geschuldet. Wer ein Kopftuch trägt, zeigt damit eine Botschaft: Seht, ich gehöre einer bestimmten Glaubensrichtung an. Das muss nicht der muslimische Glauben sein, es kann auch eine fundamentalistische Christin oder eine orthodoxe Jüdin sein, die mit diesem Textil eine bestimmte religiöse Zugehörigkeit zu erkennen gibt. Es kann auch das Kreuz sein oder, wie der Verfassungsrechtler anmerkte, vielleicht sogar ein Gewerkschaftsabzeichen. Es sind Symbole, die den Betrachter hinweisen auf partikulare Wertvorstellungen. Dagegen ist im Alltag nichts zu sagen. Im Gegenteil. Begegnet mir eine orthodoxe Jüdin mit Kopftuch oder Perücke, lässt sie mich wissen, dass sie jedenfalls nicht mit einem Handschlag als körperlicher Berührung begrüßt werden möchte. Dagegen ist aber etwas zu sagen, wenn eine Person die Neutralität des Staates repräsentieren soll und sie bei dem Gegenüber Zweifel erwecken kann, ob mit dieser Zurschaustellung einer Zugehörigkeitssymbolik die Neutralität gewahrt sein kann. Der Verfassungsrechtler betrachtet das Individuum. Da kann der eine sich von der Parteilichkeit lösen, der andere nicht – und das mag mit oder ohne ein sichtbares Zeichen der Zugehörigkeit zu einer Partikulargruppe der Gesellschaft so sein.

Am deutlichsten wird dies in der Person und im Amt des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland erkennbar. In dem Moment, in dem er sein Amt antritt, steht er – nach außen hin sichtbar – über den einzelnen Parteien. Im Rahmen der Verfassung ist er, unabhängig von seiner eigenen Weltanschauung, auch ein Präsident der Anhänger aller Weltanschauungen, die in der deutschen Gesellschaft vereint sind. Altbundespräsident Joachim Gauck gehört persönlich nicht nur einer bestimmten politischen Partei an. Er ist auch ein evangelischer Pastor. Niemand käme auf die Idee, dass es seiner Selbstverwirklichung geschuldet sei, dass man ihm nun erlauben müsse, seine pastorale Amtstracht bei Erfüllung seiner Aufgaben als Bundespräsident zu tragen. Hier endet die Vernunft des Verfassungsrichters. Wenn er sich vorstellen kann, dass in Zukunft Amtsträger in hoheitlichem Aufgabenbereich auch ihre persönliche religiöse Anbindung zur Schau stellen dürfen, dann muss er auch zugestehen, dass der Bundespräsident seine Reden in Talar mit Bäffchen hält.

Die türkisch-stämmige Muslima, die in Berlin Eingang in einen hoheitlichen Bereich mit Zurschaustellung ihrer religiösen Anbindung suchte, hat mit ihrem Verhalten und ihren Vorwürfen von Diskriminierung in diese Richtung gezielt. Sie hat den Präsidenten der Türkei als Vorbild. Er hält sich nicht an die türkische Verfassung, die wie die deutsche ein Neutralitätsgebot für den Präsidenten enthält. Er macht mehr oder weniger unverhohlen Wahlwerbung für «seine» Partei, die AKP. Er sieht sich nicht als Präsident aller in der Türkei wohnenden Menschen, sondern nur derer, die «die Einheit des Landes nicht untergraben».

Die Person vor dem Richter, dem Beamten, dem Polizisten kann nicht bei jeder Begegnung eine Einzelfallprüfung vornehmen. Sie muss sich auf die Neutralität verlassen können und dies wird leichter fallen, wenn die Amtsträgerin, die vor ihm steht, schon in der persönlichen Erscheinung zu erkennen gibt, dass sie nicht als Mitglied einer Teilgruppe und in Vertretung von deren Interessen tätig ist, sondern im Sinne der Neutralität des Staates. Wenn eine Muslima darauf beharrt, diese Spielregel aufzubrechen, und wenn in diesem Zusammenhang von Berufsverbot und Diskriminierung die Rede ist, dann geht das weit an der Problematik vorbei und beweist entweder Naivität oder ein bewusst fundamentales Desinteresse an übergeordneten staatlichen Institutionen.

Der Verfassungsrechtler weist darauf hin, dass hier zwei Grundrechte aufeinanderstoßen: das Recht der freien Religionsausübung und das Recht der Berufswahl. Es ist kennzeichnend für die heutige Bevorzugung des Individuums, wenn einzelne Verfassungsrechtler dem Recht der Berufswahl den Vorrang geben vor den Bestimmungen des Neutralitätsgebots als unverzichtbarer Grundbedingung der Staatsräson. Letzteres dient dem Zusammenhalt der Gesellschaft; Ersteres dient einer ganz persönlichen, individuellen Freiheit. Wenn eines der Rechte hintangestellt werden muss, ist abzuwägen, was schwerer wiegt: die Gefährdung der gesellschaftlichen Ordnung oder der auf ein Individuum ausgeübte Zwang, sich eine andere Tätigkeit auszusuchen, wenn es darauf beharrt, seine religiöse Zugehörigkeit offen darzulegen.

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26 мая 2021
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