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National ganz ohne Hymne

Wir erinnern uns an folgende Begebenheit, die sich seit Jahren vor jedem Länderspiel der Mannschaft des Deutschen Fußballbundes wiederholt: Die Spieler stehen angespannt auf dem Platz. Die Nationalhymnen werden gespielt. Die Fernsehkamera gleitet vor den Spielern entlang, die in wenigen Minuten für Deutschland Tore schießen oder im eigenen Netz verhindern sollen. Die Gesichter erscheinen in Großaufnahme. Der eine bewegt die Lippen, der andere nicht. Mit Sicherheit bewegen diejenigen ihre Lippen nicht, die im heutigen Sprachgebrauch einen Migrationshintergrund haben. Sie schauen starr nach vorne. Sind vielleicht mit ihren Gedanken bei der bevorstehenden Aufgabe. Sie wissen, dass sie von Millionen beobachtet werden. Mitsingen können sie nicht. Wie auch: «Deutschland, einig Vaterland» passt nicht. Da bleiben sie stumm – und das ist auch gut so.

Deutschland ist nicht das Vater- oder Mutterland derer, die in der Türkei, in Kroatien oder den USA geboren wurden, auch nicht, wenn sie von Müttern und Vätern in Deutschland auf die Welt gebracht wurden, die aus allen möglichen Ländern nach Deutschland gekommen sind, hier einen deutschen Pass erworben haben, und deren Kinder nun auf die eine oder andere Weise zum Wohlstand oder aber auch, mit umsichtigem Fußballspiel, zum Wohlbehagen der Bevölkerung beitragen. Einige mögen sich nach ein, zwei Generationen tatsächlich als Deutsche fühlen. Ihr ethnischer Hintergrund mag verblassen. So ist es in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder geschehen. Auch die Tilkowskis, die Juskowiaks, die Szymanskis und andere, die im 19. Jahrhundert aus Osteuropa nach Deutschland einwanderten, haben sich nach ein, zwei, spätestens drei Generationen hier heimisch gefühlt – als Deutsche. Und doch ist die Situation heute eine andere.

Der Optimismus, die Einwanderer nach wenigen Jahrzehnten als Deutsche integriert zu sehen, ist fragwürdig. Dafür gibt es mehrere Gründe. Da ist zum einen die Anzahl. Es sind eben nicht mehr nur Hunderttausende, die wie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Polen in das Ruhrgebiet kamen, um dort zu arbeiten – es sind Millionen, mehrere Millionen. Die Integration kann nicht mehr so reibungslos wie früher vor sich gehen. Die Zugewanderten, und die größte Gruppe stellen bekanntlich die Türken, können sich assimilieren, können sich integrieren, können erleben, wie ihre Kinder sich mit deutschen Einheimischen verheiraten und allmählich Deutsche werden – aber das ist nicht mehr die Regel. Die große Zahl der Ankömmlinge und die unterschiedlichen Motive der Einwanderung lassen einen immer größeren Teil darauf vertrauen, dass sie in einer Parallelgesellschaft, mit oder ohne deutschen Pass, mit oder ohne deutsche Sprachkenntnisse, viele der Vorteile, und dies sind zumeist ökonomische Vorteile, genießen können, die man gemeinhin mit dem Leben in Deutschland verbindet.

Die Bildung von Parallelgesellschaften ist ohne Weiteres möglich. Apothekerinnen, Ärzte, Rechtsanwälte sind Landsleute; Landsleute führen Koranschulen, Bäckereien, Lebensmittel- und Obstgeschäfte. Die Beschriftungen auf Ämtern und in vielen anderen öffentlichen Einrichtungen sind in der Sprache der zahlenmäßig größten Einwanderergruppe lesbar – wozu also muss man noch Deutsch lernen? Selbst der frühe Abbruch der Schule oder einer Lehre mangels Sprachkenntnissen und sozialer Kompetenz muss nicht in die Katastrophe führen, wie mit Sicherheit in manchem Herkunftsland. In Deutschland ist Platz, und allen ist es gegeben, hier zu überleben.

Doch die Schwierigkeiten, die großen und immer noch anwachsenden Zahlen an Einwanderern und Asylbewerbern, seien es solche, die aus wirtschaftlicher Not, oder andere, die aus politischer Bedrängnis, den Weg nach Deutschland gesucht haben, nun in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, nähren sich noch aus einem anderen Grund. Die vielen Polen, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in das Ruhrgebiet reisten, um dort mit harter Arbeit in den Zechen untertage ihr Geld zu verdienen, trugen keine fremdkulturelle Identität mit sich. Sie unterschieden sich nicht vom Aussehen, und sie konnten problemlos in die katholischen Kirchen in Bochum, Dortmund oder Herne gehen, um mit den Einheimischen den Gottesdienst zu feiern.

Das bedeutete für alle sichtbar und wurde auch gar nicht hinterfragt: Hier kamen Menschen, die in ihrem Alltag, ob unter der Woche oder am Sonntag, denselben Werten folgten wie die Alteingesessenen. Ihr Gott war der Gott der Einheimischen; niemand wäre auf die Idee gekommen, ihnen gesetzlich zu verbieten, für ihren Gott dieselbe Bezeichnung zu verwenden, die die Einheimischen für ihren Gott gebrauchten. Sie besaßen von Kindheit an gleiche Vorstellungen von Gut und Böse, von Sünde und Gottes Wohlgefallen.

Wie sie sich an die gesellschaftlichen Regeln hielten, die aus diesen Vorstellungen entsprangen, auch das entsprach weitgehend dem Verhalten der Alteingesessenen.

Das ist nun anders. Die anfangs, in den späten 1950er Jahren, zunächst noch als «Fremdarbeiter» und dann als «Gastarbeiter» bezeichneten Italiener, Spanier, Griechen, Jugoslawen fügten sich noch in das Schema der kulturell Verwandten ein. Doch die Wirtschaft brauchte mehr Menschen und die Türen öffneten sich für die Türkei und dann den Vorderen Orient. Es kamen alle möglichen Berufsgruppen. Einige planten, für eine kurze oder längere Zeit in Deutschland zu arbeiten, Geld anzusparen und dann im Heimatland ein Haus zu bauen oder ein Geschäft zu eröffnen. Aber die Mehrzahl ist gekommen und geblieben. Das sind keineswegs nur Menschen, die hier schwere Arbeit verrichteten und verrichten, die Einheimische nicht ausführen wollen. Kaufleute und Ingenieure, die sich florierende Unternehmen und Tätigkeitsfelder im Wettbewerb mit Einheimischen aufgebaut und erschlossen haben, sind in der ersten, zweiten oder folgenden Generation der Einwanderer ebenso vertreten, wie etwa Künstler und Intellektuelle, deren kluge Visionen und Ideen das kulturelle Leben bereichern. Und dennoch, wer heute noch der Meinung ist, dass alle Einheimischen nur guten Willens und freundlich genug sein müssen, damit alle neuen Mitbürger sich hier wohlfühlen und sich integrieren, der muss sich wohl einer blinden Naivität bezichtigen lassen. Deutschland und auch andere europäische Staaten in ähnlicher Verfassung stehen vor einem in Friedenszeiten nie gekannten gesellschafts-politischen Umbruch. Dieser Umbruch wird, so hat es den Anschein, bisher nicht von Voraussicht begleitet; einer Voraussicht, die sich aus ehrlicher Diskussion bereits eingetretener und noch zu erwartender Probleme ergeben könnte.

Realität ist, dass in Deutschland eine fremdkulturelle Vielfalt erwächst, die schon den Ruf nach Integration nicht nur fragwürdig erscheinen lässt. Er mag gar eine Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden sein. Denn der Ruf nach Integration weckt Erwartungen, die nur schwer zu erfüllen sind. Die Erwartung, eine Integration sei möglich, führt dazu, dass diejenigen fremdkulturellen Einwanderer, die ihre Kultur nicht aufgeben möchten und Verhaltensweisen, Normen und auch Forderungen zur Schau tragen, die dem Gebot der Integration zuwiderlaufen, von vielen als störende Fremdkörper geringgeschätzt werden.

Wohin der Fingerzeig auf diejenigen führen kann, deren Andersartigkeit sichtbar bleibt und irgendwann einmal instrumentalisiert wird, das hat die Geschichte im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert deutlich gezeigt. Über die Jahrhunderte sind Juden in bemerkenswerter Anzahl mit einem eigenen Glauben, mit eigenen Ritualen, eigenen Sitten und einem eigenen Verständnis von Gott nach Deutschland gekommen. Sie haben ihren Gottesdienst nicht in Kirchen, sondern in Synagogen gefeiert. Viele von ihnen haben sich im 18. und 19. Jahrhundert von ihrem Glauben und kulturellen Erbe losgesagt und sind Deutsche geworden – Deutsche, von denen Deutschland in Kultur, Wirtschaft, Technologie und Wissenschaft in heute kaum noch vorstellbarem Ausmaß profitieren konnte. Und doch konnte diese Gruppe der Ausgrenzung nicht entkommen, als ewig Fremde nicht nur gebrandmarkt, sondern schließlich im Holocaust vernichtet zu werden.

Tatsächlich zählten zu denen, die dieser Vernichtung zum Opfer fielen, ungezählte, die sich gar nicht mehr ihrer angeblichen Andersartigkeit bewusst waren und die erst durch die Gesetze der Vernichter von ihrer angeblichen Andersartigkeit erfuhren. Gegenkräfte gab es durchaus. Sie waren einfach nicht stark genug und konnten sich das Ausmaß der schließlichen Bereitschaft einer Mehrzahl der Mitbürgerinnen und Mitbürger und die konkrete Vorgehensweise der Vollstrecker, den «Volkskörper» von dem Andersartigen zu «säubern», wohl zumeist auch nicht vorstellen. Weder gestern noch heute und in ferner Zukunft wird die Vernichtung eines Teils der deutschen Bevölkerung (und über Deutschland hinaus) je mit irgendeiner dem Verstand nachvollziehbaren Erklärung versehen werden können. Wie deutsche Geistesgrößen, die noch heute verehrt und bewundert werden, von Martin Luther (1459–1530) bis Richard Wagner (1813–1883), ihrer Judenfeindschaft freimütig Ausdruck gaben, das lässt sich nicht verstehen, auch nicht durch Hinweise auf den jeweiligen «Zeitgeist» – es sei denn, man versucht, eine Motivation in den Gefühlen zu ergründen, die sich jeder Vernunft entziehen.

Die Bevölkerung Deutschlands hat in den vergangenen Jahren, sicherlich auf Grund des anhaltenden Bewusstseins um die Verbrechen der 1930er und 1940er Jahre, eine bemerkenswerte Resistenz gegenüber denjenigen Kräften gezeigt, die die Gefühle der Menschen für solche politischen Zwecke beeinflussen wollen, die einem friedlichen Zusammenleben entgegenstehen. Diejenigen Parteien, die sich solchen Zielen verschrieben haben, konnten bislang bestenfalls kurze Strohfeuer entfachen und sind dann wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwunden. Die Stabilität, die sich daraus ablesen lässt, ist bemerkenswert. Doch das periodische Aufflackern der Strohfeuer lässt auch erahnen, dass ein emotionales Potenzial für größere Brände vorhanden ist – sobald die geeignete Lunte gelegt wird. Es wird an dem gesellschaftspolitischen Umgang mit dem Übergang Deutschlands in eine neuartige politische Struktur einer bislang nie gekannten kulturellen Vielfalt liegen, ob die Lunte nicht nur gelegt, sondern auch gezündet werden wird.

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Werte und Gemeinschaft

Das Zusammenleben in der modernen Gesellschaft eines Industriestaates wie Deutschland vollzieht sich heute in weitgehend friedlichen und reibungslosen Bahnen.

Möglich geworden ist dies durch organisatorische Strukturen, die sich im Laufe der Jahrhunderte, ja sogar der Jahrtausende allmählich herausgebildet und als nützlich erwiesen haben. Sie bestimmen die kulturellen Eigenarten, die sich in Staaten wie Deutschland, Frankreich, Spanien oder Schweden entwickelt haben. Zunächst als Notwendigkeit des Überlebens, abhängig von der Besonderheit des Klimas, der Verfügbarkeit von Tieren, dem Reichtum der Flüsse, Seen, Meere, der Beschaffenheit des Bodens in der Tiefebene oder im Gebirge, im Wald oder in der Steppe. Und weiter als Notwendigkeiten des sozialen Lebens in Architektur, Musik, den bildenden Künsten und der Sprache, der Literatur.

Dem einzelnen Menschen, der freiwillig oder gezwungen sein Leben aus einem Land in ein anderes, von einem Kontinent in einen anderen verlegt, gelang es früher und gelingt es auch heute aus einer organisatorischen Struktur in eine andere hinüber zu wechseln. Er wird sich den neuen Umständen anpassen und sich irgendwann auch heimisch fühlen. Je größer allerdings eine Menschengruppe ist, die sich geschlossen aus einer herkömmlichen Sozialkultur in eine andere, ihr fremde begibt, umso schwieriger wird der Übergang sein. Die alten Regeln des Miteinanders lassen sich von einzelnen Menschen ablegen. Sie haften einer Gruppe umso stärker an, je mehr Mitglieder sie hat. Je größer ihre Anzahl, umso mehr trägt die Gruppe die herkömmlichen Strukturen mit sich. Letztlich sind diese Strukturen der organisatorische Ausdruck von Grundwerten, die sich in der Auseinandersetzung mit der Natur und im Umgang mit anderen Menschen herausgebildet haben.

Es waren kleine Gemeinschaften mit vielleicht 60 bis 70 Personen, wie sie heute noch in Australien existieren, die in großer – bis zu Hunderten von Kilometern – weiter Entfernung zur nächsten Gemeinschaft lebten. So groß musste der Radius sein, um aus der kargen Natur genügend Lebensmittel zu gewinnen. Isoliert waren diese Gemeinschaften nicht. Dort, wo sich ein Fenster in ihre Lebenswelten öffnete, zeigten sich bereits früh weiträumige Verbindungen. Waren, wie Salz und Werkzeuge, die aus einem nur lokal vorhandenen Naturstoff gefertigt werden konnten, fanden den Weg über weite Entfernungen. Der Austausch verlangte sprachliche Verständigung. Bis in die jüngste Zeit und Gegenwart beherrschten die Mitglieder einer solchen Gemeinschaft neben der Sprache des eigenen Clans noch mehrere andere Sprachen, die ihnen den regelmäßigen Kontakt mit den entfernt lebenden Nachbarn ermöglichten. Sollte er über lange Zeiten geordnet ablaufen, dann standen Leistung und Gegenleistung, Geben und Nehmen in einem komplexen Verhältnis zueinander.

Es entstanden Normen, die nicht allein innerhalb der eigenen Gemeinschaft die Partnersuche, den Umgang mit Jungen und Alten und die Übertragung von hierarchischer Herrschaftsmacht bis hin zum Konsum des an Lebensmitteln Verfügbaren regelten. Die Bildung von organisatorischen Strukturen, also einer Kultur, die das Überleben sicherte und das einigermaßen friedliche Miteinander von Generation zu Generation ermöglichte, erforderte eine Intelligenz für das Erforderliche und das Mögliche, die dem Beobachter aus dem «aufgeklärten» Europa lange Zeit verborgen blieb.

Ferdinand Tönnies hat in seinem Werk Gemeinschaft und Gesellschaft im Jahre 1887 als erster eingehend das Wesen solcher sozialen Verbünde als «Gemeinschaft» und die daraus später hervorgegangene Struktur der «Gesellschaft» beschrieben. Eine Gemeinschaft, so seine Definition, kann eine Gemeinschaft des Blutes, also von Verwandten sein. Es kann eine Gemeinschaft des Ortes sein, also in enger Nachbarschaft Lebender, und es kann eine Gemeinschaft des Geistes sein, also derer, die weder verwandt sind noch nahe beieinander leben, aber sich dennoch in Freundschaft verbunden fühlen. Hier sollen nur die beiden ersten Arten, verwandtschaftliche und nachbarliche Gemeinschaften, betrachtet werden.

In der familiären Clan-Struktur und auch dort, wo mehrere Familien oder Clans eine Gemeinschaft bildeten, kannte jeder jeden. Jedem war bewusst, wie er sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hatte. Um zu überleben, bildeten sich Normen des guten Verhaltens und Tabus des gefährlichen, also schlechten Verhaltens heraus. In diesen Normen und Verboten äußerten sich die Grundwerte der Gemeinschaft. Wer gegen die Werte verstieß, dem war bewusst, dass er Bestrafung zu erwarten hatte, entweder von einem Clan-Chef mit entsprechenden Machtbefugnissen oder von einer Clan-Versammlung.

So fanden es die europäischen Siedler, als sie in Nord-Amerika nach Westen vordrangen, noch bei den Anishinabe-Indianern im Nordwesten vor. Der Fortbestand ihrer Gemeinschaft beruhte auf drei Säulen: Gleichbesitz, Nicht-Aggressivität und Vorgaben für die Partnerwahl zwischen den einzelnen Totem-Gruppen. Wer gegen diese Werte verstieß, musste sein Vergehen vor der Stammesversammlung offen darlegen und dort auch die Strafe empfangen. Auf diese Weise wussten schon die kleinen Kinder, die an diesen Versammlungen teilnahmen, welche Verhaltensweisen gefragt und welche geächtet waren.

Im Vordergrund stand der gemeinsame Zugriff auf die Ressourcen der Natur, sei es zu Lande oder zu Wasser; Privatbesitz war hier unbekannt. Die aus der Natur gewonnenen Lebensmittel wurden geteilt. Das Wirtschaften war arbeitsteilig, Frauen und Männer gingen getrennten Aufgaben nach; den Alten und den Jungen kamen unterschiedliche Pflichten zu. Die Ergebnisse allen Wirkens sollten allen gleichermaßen zugutekommen. Solch egalitärer Anspruch stieß freilich immer dann an seine Grenzen, wenn der Kräftigere, der Klügere, der Ehrgeizigere mehr ansammeln konnte als der geistig oder körperlich Schwächere.

Die Anishinabe begegneten der steten Gefahr, dass solcher Mehrbesitz langfristig zu Ungleichheiten führen könnte, in ähnlicher Weise wie andere vormoderne Gemeinschaften nicht nur auf dem nordamerikanischen Kontinent. Nach der Erntezeit begann der verbindliche Wettstreit der Schenker. Jeder schenkte der Gemeinschaft so viel von den geernteten Ressourcen wie er konnte, und wer am meisten geschenkt hatte, der erhielt für das kommende Jahr befristet eine vorrangige Herrschaftsstellung. Im nächsten Herbst endete dieser Vorrang und wieder entschied der Wettstreit der Schenker über die Hierarchie der nächsten zwölf Monate. So wurde Jahr für Jahr materieller – und damit möglicherweise langfristig anhaltender Vorteil – in immateriellen und zum Jahresende wieder vergänglichen Vorteil umgewandelt.

Die Kultur der Anishinabe war in dem Moment zum Untergang bestimmt, als Europäer ihnen die Vorteile des individuellen Besitz- und Gewinnstrebens darlegten; als sie die Anishinabe darüber aufklärten, dass es keine Sünde sei, sich eine Frau eigener Wahl ohne Rücksicht auf die komplizierten Clanstrukturen zu nehmen und dass ein gehöriges Maß an Aggressivität im Sinne einer Konkurrenz durchaus sinnvoll sei.

An manchen Orten der Welt konnten kleinere Stammesgemeinschaften bis in die jüngere Zeit ihre traditionellen Lebensweisen bewahren. Die allgemeine Entwicklung verlangte jedoch nach größeren Verbünden und bewirkte damit den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft.

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Gesellschaft und Vertrauen

Ferdinand Tönnies erklärt Gesellschaft mit dem dauerhaften Umgang zwischen Fremden innerhalb eines Siedlungsgebiets:

«Gesellschaft ist der Verbund von Menschen, die voneinander wesentlich getrennt sind, während sie in der Gemeinschaft wesentlich miteinander verbunden waren. Handlungen in einer Gesellschaft erfolgen daher nicht im Hinblick auf eine vorhandene Einheit oder ein Gemeinwohl, sondern entspringen dem je eigennützigen Einzelwillen. Tut jemand etwas für einen anderen, so verlangt er dafür eine Gegenleistung.» 1

Eine der einschneidenden Veränderungen, die den Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft begleiteten, war die Ergänzung des in der Gemeinschaft auch weiterhin geübten Teilens des Erwirtschafteten durch den Austausch der Überschüsse zwischen den verschiedenen Gruppen in der Gesellschaft. Neue Konzepte wie Kauf und Vertrag gewannen an Bedeutung.

«Der einigende Wille im Tausch heißt Kontrakt und ist der Überschneidungspunkt zweier Einzelwillen. Im Kontrakt wird von beiden Seiten ein Versprechen gegeben, dass gleich oder zu einem späteren Zeitpunkt Waren ausgetauscht werden. Der Kontrakt gibt also das Wort statt der Ware. … Ein besonderer Kontrakt ist jener, in dem eine Seite die Ware abgibt, ohne zunächst Geld dafür zu nehmen: der Kredit.» 2

Der Übergang von der Gemeinschaft zur Gesellschaft verlief keinesfalls glatt und reibungslos. Hier zeigte sich eine Kluft im gegenseitigen Miteinander, die geschlossen werden musste. Leben konnte man miteinander nur, wenn man sich wie auch in der Gemeinschaft vertraute.

Die Bezeichnung «Kredit» sagt genau aus, worum es geht: Ohne gegenseitiges Vertrauen kann kein geordnetes Miteinander der Menschen von Dauer sein.

Kern des Vertrauens ist in der Regel die Familie. Auch in der Familie sind Mord und Totschlag, Verrat und Hintergehen möglich. Doch in den allermeisten Kulturen steht die Familie zusammen; sie ist gezwungen, zusammenzuhalten. Das muss nicht die klassische Vater-Mutter-Kinder-Familie sein; das können auch andere, unterschiedliche Familienstrukturen sein, denen jedoch allen eines gemeinsam ist: Sie sind zuständig für die Fortpflanzung und vererben einen Generationenvertrag. Die Älteren ziehen die Jüngeren auf, bis sie stark genug sind, selbst wieder Jüngere zur Welt zu bringen, um diese aufzuziehen. Die Jüngeren danken es den Älteren, indem sie sie pflegen und nähren, wenn die Zeit der Schwächung gekommen ist. Es gibt Ausnahmen, in denen die Älteren früher aus dem Dasein gedrängt werden, als vielleicht die Biologie es fordert, und die Verpflichtungen der Jüngeren gegenüber den Älteren können die unterschiedlichsten Formen annehmen. Aber im Mittelpunkt des familiären Zusammenhalts, wie auch immer er im Detail in den verschiedenen Kulturen organisiert sein mag, steht das Vertrauen. Man schläft gemeinsam, man isst gemeinsam und kann nicht jedesmal prüfen, ob das Essen vergiftet und der einzelne Schlafplatz vor Eindringlingen gesichert ist. Vor allem muss der Einzelne nicht horten und sein Eigentum vor den anderen schützen. Alle haben Anteil an allem. Denn die Familie ist auf Vertrauen aufgebaut, und ohne dieses Grundvertrauen ist die Fortdauer der Generationen nicht gewährleistet.

Dass der Generationenvertrag keine Selbstverständlichkeit ist, zumal in komplexeren Gesellschaften, mag das Beispiel Chinas zeigen. Vor mehr als zwei Jahrtausenden in einer Zeit des «Jeder-gegen-Jeden», in der jahrhundertelangen Periode der «Kämpfenden Reiche» vor der Reichseinigung im Jahre 221 v. Chr., war auch die Familie kein Garant mehr für Sicherheit und Vertrauen. Der Konfuzianismus sah es daher als dringend notwendig an, die Beziehungen in der Familie durch ein enges Netz gegenseitiger Verpflichtungen und somit Erwartungen zu stabilisieren. Erst diese Stabilisierung vermittelte eine Gewissheit der gegenseitigen Abhängigkeit, und aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit erwuchs eine Gewissheit des zu erwartenden Handelns eines jeden anderen Familienmitglieds, und diese Gewissheit schließlich bildete die Grundlage des Vertrauens.

China ist wohl die älteste Kultur, die dem heutigen Betrachter ein recht genaues Bild von den Verhältnissen einer Gesellschaft vermittelt, die als Mischkultur aus unzähligen Gemeinschaften erwachsen war. Die schwierige Aufgabe in der frühen Bildungsphase einer Gesellschaft bestand darin, die Vertrauenskluft zu überbrücken zwischen den nun zum Zusammenleben vereinten Gemeinschaften. Das mögen Familienverbünde mit Hunderten Mitgliedern gewesen sein oder größere Einheiten mit Tausenden von Angehörigen, die sich bereits unter dem Schirm eigener verbindlicher Normen vereint hatten und nun mit denen in engem Kontakt lebten, die ähnliche, andere oder sehr unterschiedliche Grundwerte mit einbrachten.

Wenn Menschen als Familie oder Familienverbund zusammenleben, dann ist der Austausch von Gütern gegen Güter, von hilfreicher Handlung gegen einen Wertgegenstand oder sonstiger Dinge und Tätigkeiten, die der eine gibt und für die er eine Gegengabe erwartet, informell geregelt. Jeder weiß, wer wem gegeben hat und was der Empfänger schuldet. Und wenn der Empfänger seiner Pflicht zur Gegengabe nicht nachkommt, hat das für ihn unausweichliche Folgen. Jeder weiß, was auf ihn zukommt, wenn er das Vertrauen verletzt.

Das ist nicht so im Umgang mit Fremden. Auch hier findet ein Austausch von Gütern, Wissen, Handlungen statt, aber der Empfangende kann sich seinen Verpflichtungen entziehen, ohne Folgen befürchten zu müssen. Er kann sich in seine Region, in seinen Clan, in seine Familie zurückziehen, ohne dort eine Strafe befürchten zu müssen. Das ist dann ein Raub, und nicht selten waren die Beziehungen benachbarter Stämme oder Völker durch solche Raubzüge gekennzeichnet. Überall dort, wo sich die Erkenntnis durchsetzte, dass letztlich beide Seiten davon profitieren, wenn Gabe mit Gegengabe vergolten wird, ohne dass die Gegengabe mit Gewalt eingefordert werden muss, bestand die Aufgabe darin, das notwendige Vertrauen zu schaffen.

Der Vertrag ist nichts wert, wenn es keine Instanz gibt, die seine Durchsetzung ohne Bevorzugung der einen oder anderen Vertragspartei garantiert. Nur wo eine solche Instanz existiert, die das Vertrauen auf Unparteilichkeit aller genießt, kann auch ein Vertrauen zwischen den Mitgliedern verschiedener Gemeinschaften entstehen. Es sind Gemeinschaften, die den Austausch ihrer Güter nicht nur im gleichzeitigen Geben und Nehmen mit der linken und der rechten Hand üben, sondern in komplizierteren Handelsbeziehungen, die immer auch eine Vorleistung einer der beiden Seiten bedingen. Die Lösung lag in der Schaffung von Autoritäten, die gleichsam über den beteiligten, voneinander durch Misstrauen getrennten Parteien standen. Es war die Gründung des Staates mit seinen Behörden und Institutionen, die vermittelnd wirkte. Der Staat gründet auf Institutionen, die sich als neutrale, unparteiische Vermittler für die Rechte aller Beteiligten einsetzen. Das Justizwesen, die Banken, Polizei, die Regierung sollten in einer wohlorganisierten Gesellschaft das Vertrauen aller genießen und über den Partikularinteressen der einzelnen Gemeinschaften stehen, die als Verbund die Gesellschaft bilden.

Der Blick auf viele Gesellschaften der Gegenwart zeigt, dass die realen Strukturen allzu oft nicht diesen Grundbedingungen einer Gesellschaft entsprechen.

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26 мая 2021
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