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Nikita

Ihre Taschenlampen blitzten zwischen den dunklen, hohen Fichten auf. Als sein Kumpel Kay das Gartentor zu dem einsam gelegenen Holzhaus am Selenter See aufstieß, gab die Angel einen quietschenden Ton von sich. Nikita zuckte erschrocken zusammen. Doch im Haus blieb alles ruhig. JP schlug sich genervt gegen die Stirn. Als wenn sie nicht selbst wüssten, dass sie still sein sollten, dachte Nikita, sagte aber nichts. Auch nicht so was wie »Chill mal«. Bei JP musste man immer aufpassen. Er wollte keinen Beef mit dem Typen.

»Wir müssen nach hinten, ums Haus rum«, zischte JP. Der Name wurde englisch ausgesprochen – Jay Pi. Dabei hieß JP eigentlich Jan-Philipp. JP konnte Thai-Boxen und war mit Vorsicht zu genießen.

Nikita wusste nicht, was in dieser Nacht am Haus des Försters passieren sollte, er hatte sich nicht getraut zu fragen. Auf jeden Fall hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache.

Inständig hoffte er, dass Kurt Tietjen keinen Bewegungsmelder installiert hatte. »Wenn der Obermacker mich sieht, erkennt der mich«, flüsterte er Kay zu. Vor nicht langer Zeit hatte Nikita dem Förster zusammen mit seinem Vater einen Besuch abgestattet. Nachdem sie in Opas Haus gezogen waren, mussten sie sich auch um Opas Bienen kümmern. Frerk hatte voll auf unsicher gemacht. Er wollte unbedingt ein paar Tipps von einem »richtigen« Imker. Unnötig.

Opa hatte ihm alles beigebracht, was es über Bienen zu wissen gab. In den Ferien hatte Nikita ihn gelöchert. Er wusste nicht nur, was dieser Tietjen ihnen sagte, nämlich, dass Frerk Mitte April die Honigräume aufsetzen sollte. Sicher wusste er tausendmal mehr über Bienen als dieser Förster. Zum Beispiel, dass Bienen sich nach getaner Arbeit gern zusammenkuschelten. Nikita wusste mehr über Bienen, als sein Vater sich vorstellen konnte.

Dieser Tietjen war außerdem tierisch unfreundlich gewesen, meinte, dass seine Tipps nicht kostenlos zu haben seien. Zum Schluss hatte er ihnen ein Glas Waldhonig für sechs Euro aufgenötigt, obwohl sie noch Honig von Opa im Keller hatten.

Im Mondlicht konnte man die Umrisse der Bienenkästen nur erahnen. Sie standen in einer langen Reihe, ganz in der Nähe eines Gartenschuppens. Weil er sich nicht konzentriert hatte, rempelte er versehentlich Kay an, der vor ihm ging. »Aua«, fluchte sein Kumpel leise. »Tritt mir nicht in die Hacken, du Pfosten!«

Gerade als er den Mund öffnete, um Kay ein »selber Pfosten« entgegenzuschleudern, hielt ihm JP einen Böller aus seinem versifften Rucksack hin: »Für dich.«

Nikitas Nackenhaare stellten sich unversehens auf. »Für mich? Wieso? Was – was – soll ich damit?«

JP zeigte auf die Bienenkästen. »Du bist so lost! Los! Deckel auf, Böller rein!«

Nikita spürte plötzlich eine Kälte in seinem Magen, die sich wie ein Virus immer weiter ausbreitete.

Er wollte den Bienen nichts tun. In diesen Kästen, die man Beuten nannte, lebten Wesen, die sich umeinander kümmerten. Im Sommer fächelten sich die Bienen kühle Luft zu, im Winter wärmten sie sich gegenseitig. Die Bereitschaft, alles für die Familie zu geben, unterschied Bienen deutlich von Menschen, besonders von seiner Mutter. Mona war abgehauen. Wahrscheinlich wusste sie nicht mal, dass Frerk und er nicht mehr in Berlin wohnten.

Mit Schrecken erkannte er, dass JP in seinem Rucksack ein ganzes Arsenal an A- und D-Böllern mitgeschleppt hatte. Er erhaschte einen Blick auf Kays pickliges Gesicht: In dessen Augen erkannte er ebenfalls Panik. Keiner von ihnen beiden wollte Tiere töten. Fühlten Bienen Schmerzen?

JP warf ihm ein Feuerzeug zu und zischte: »Alles Gucci – wir machen’s zusammen – auf drei.«

Das Feuerzeug prallte an seiner Jacke ab. Er bückte sich in Zeitlupe danach. »Die krepieren doch«, flüsterte er entsetzt, als er hochkam und JP in die Augen sah. JP hatte sie zu schmalen Schlitzen verengt: »Und wen juckt’s?«

Nikita verbrannte sich am Daumen, als er das Feuerzeug aufspringen ließ und eine Flamme emporschoss. Er biss sich auf die Unterlippe, während er das Feuerzeug an die Zündschnur hielt. Nikita hörte es knistern, dann schmiss er den Böller so weit weg von den Bienen, wie er konnte. Alle beobachteten, wie das Teil auf dem Schuppendach explodierte.

Seine Füße fingen automatisch an zu rennen. Hinter ihm zischte und krachte es, als zwei der Bienenkästen fast gleichzeitig in die Luft flogen. Holz splitterte und grellrote Flammen loderten vor dem Nachthimmel.

Beim Laufen drehte Nikita den Kopf über die Schulter und sah, dass Kay aufschloss. JP schien am Bienenstand geblieben zu sein, denn es krachte und pfiff noch ein paarmal und Lichtblitze zuckten über den Himmel. Ihm fiel ein, dass es über Wochen nicht geregnet hatte. Das Feuer würde sich schnell ausbreiten.

Schuldgefühle raubten ihm fast die Kraft, um zwischen den Tannen und Schösslingen vorwärtszustürmen. Seine Beine fühlten sich weich wie Pudding an.

Auf Höhe des Forsthauses schaute er ängstlich zu den Fenstern und erstarrte: Hinter einer der Scheiben erkannte er die Frau des Försters. Er sah ihr kleines, blasses Gesicht nur kurz, doch er war sich sicher, dass sie ihn ebenfalls entdeckt hatte.

Nikita rannte blindlings weiter. Immer wieder stolperte er, über Baumwurzeln oder Tannenzapfen. Genau konnte er das nicht sagen, weil er durch einen Tränenschleier sah.

Seine Brust brannte, als er sein Mountainbike aus dem Busch an der Landesstraße zerrte. Dann strampelte er los, als hinge sein Leben davon ab. Es war ihm Latte, wo JP und Kay blieben. Er würde nie wieder mit ihnen reden. Vor allem nicht mit JP. Das schwor er sich, als er verschwitzt an der St.-Jürgen-Kirche am Berliner Platz ankam.

In der Rundkirche hatte der Trauergottesdienst für seinen Großvater stattgefunden. Die goldene Kugel auf dem Dach des Gotteshauses leuchtete mystisch im Mondlicht. Als wollte Hinnerk Ackermann, verstorben mit 96 Jahren, ihm persönlich ein Zeichen aus dem Himmel senden.

Opa würde ihm vielleicht vergeben, wenn er sich ab sofort um alle Bienen der Welt kümmerte. Opa hatte für seine Bienen gelebt. Ohne diese kleinen Bestäuber, hatte er Nikita mindestens hundertmal erzählt, konnten die Menschen nur vier Jahre überleben.

Noch immer aufgebracht pfefferte er sein Rad zu Hause gegen die Schuppenwand. Der Lenker drehte sich und das Velo fiel scheppernd zu Boden. »So ein Mist«, fluchte er leise.

Frerk

Ein Geräusch draußen am Haus ließ ihn hochschrecken. Einbrecher? Frerk lauschte in die Dunkelheit. Doch von unten hörte er jetzt nur das Brummen des Kühlschranks.

Langsam ließ er sich in die Kissen zurücksinken. Er machte sich zu viele Gedanken. Das war sein Problem. Insoweit gab er dem Hausarzt recht. Frerk hatte ihn gebeten, ihm etwas gegen die Erschöpfung und die dauernden Kopfschmerzen zu verschreiben.

Ein halber Mond schien durch die Dachluke und warf grafische Schatten vom Lamellenvorhang auf das breite Ehebett, dessen eine Hälfte leer blieb.

Mona hatte sie vor vier Monaten verlassen, ihn, den Jungen, Barbie. Dabei war Mona es gewesen, die den Mischling aus dem Tierheim in Berlin geholt hatte. Frerk hatte nicht verstanden, warum sie ausgerechnet einen Hund ausgesucht hatte, der nur ein Auge und dafür viele schlechte Zähne besaß. »Ich habe nicht den Hund ausgesucht, der Hund hat mich ausgesucht«, rief er sich Monas fröhliche Antwort ins Gedächtnis. Sie war stets lustig gewesen. Das Leben ficht sie nicht an, hatte er oft neidvoll gedacht. »Du hast dich bei Frauchen vertan. Du hättest dir jemand anders aussuchen sollen«, sagte Frerk bitter und zog sanft an Barbies Ohr. Der Hund öffnete sein Auge und schloss es gleich wieder.

Barbie schlief Nacht für Nacht auf seinen Beinen. Manchmal machte er sich vor, er könnte deshalb so schlecht schlafen, weil seine Beine unter ihrem Gewicht anfingen zu kribbeln. Selten schlief er vor drei oder vier Uhr in der Früh. Mechanisch strich er über Barbies hartes Fell. In Wahrheit hatte er ohne Mona oft das Gefühl, die Tage nicht mehr bewältigen zu können. Er wusste nicht, ob er ihre kleine Gemeinschaft zusammenhalten konnte. Er hatte Angst. Angst, wieder zu versagen und auch noch Nikita zu verlieren. Und mit Hunden kannte er sich auch nicht besonders gut aus.

Barbie gab einen kleinen Schnarcher von sich. Es half kranken Menschen angeblich, Tiere zu halten. Das hatte er aus einem Magazin, in dem eine portugiesische Studie zitiert wurde. Laut der Studie verbesserten sich die Werte depressiver Teilnehmer, wenn sie sich ein Haustier anschafften. In dem Heft stand auch, dass ein Burn-out in vielerlei Hinsicht einer Depression ähnelte.

Frerk wusste nicht, ob er wirklich unter einem Burn-out litt. Sein Hausarzt hatte etwas in dieser Richtung angedeutet. Soweit er sich erinnerte, hatte der Mediziner in dem Gespräch das Wort »Überlastungstendenzen« benutzt und eine Kurzzeittherapie empfohlen. Er fühlte sich innerlich getrieben und doch antriebslos, wollte sich aber keinesfalls einem dieser Psychoheinis ausliefern. Am Ende würde er das Sorgerecht für Nikita verlieren. Und das durfte nie passieren.

Er hegte ein Grundmisstrauen gegenüber Ärzten. Wie er sowieso allem und jedem misstraute. Das brachte sein Beruf als Journalist mit sich.

Als Journalist in der hektisch-nervösen Regierungsstadt standen die Chancen gut, krank zu werden. Er dachte an den ständigen Termin- und Abgabedruck. Er hatte sich in Berlin angewöhnt, hin und wieder einen Joint auf dem Balkon zu rauchen. Dann konnte er sich endlich mal entspannen. Und es half auch gegen die Kopfschmerzen.

Der Kühlschrank wechselte die Tonhöhe. Das tat er meistens gegen zwei Uhr. Er brummte nun eine Oktave tiefer. Frerk versuchte, die brennenden Lider geschlossen zu halten. Vielleicht sollte er sie mit Tesa zukleben.

Dass sein Vater so plötzlich nach der Trennung von Mona gestorben war, hatte auf traurige Weise für einen Neuanfang in Nikitas und seinem Leben gesorgt. Nach Hinnerks Herzanfall kündigte Frerk in der Redaktion. Das hieß, er sagte Tschüss, als er seine Notizen und ein paar private Utensilien vom Schreibtisch eingepackt hatte. Auf Kündigungsfristen musste er keine Rücksicht nehmen: Einen Festvertrag hatte er trotz all der Schinderei für das Blatt nie bekommen.

Nun verkaufte er am Strandweg Kissen mit Anker-Motiv und Lampen in Leuchtturm-Optik an Touristen.

Es konnte schlechtere Neuanfänge geben. Küste oder Großstadtmoloch? Er hatte nicht lange darüber nachdenken müssen. Und Nikita hatte sich wider Erwarten auch auf Hohwacht gefreut. Hier hatte der Junge die schönste Zeit seiner Kindheit verbracht.

Seine Blase drückte. Frerk schlug die Decke zurück und schwang die Beine über den Bettrand. Zur Sicherheit konnte er gleich nach dem Jungen sehen. Seit Nikitas Geburt schlich er sich nachts in dessen Kinderzimmer, um sich zu vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte.

»Er schläft ganz tief.« Sätze wie dieser hatten ihn fester mit Mona verbunden, als ein Ehering dies je vermocht hätte. Bis Mona eines Tages abgehauen war, weil sie unbedingt den Mekong sehen musste. Und er sich angeblich nur mit sich selbst beschäftigte.

Die Klobrille fühlte sich eiskalt an. Er bekam Gänsehaut auf den Oberschenkeln. Müde betrachtete er seine Krampfadern. Dick und wulstig lagen sie unter der blassen, behaarten Haut. Endlich kam ein dünner Strahl. Während er sich erleichterte, starrte er die moosgrünen Wandfliesen an. Als er spülen wollte, erschrak er über die dunkle Gelbfärbung des Urins. Vielleicht hatte er eine schlimme Krankheit? Eventuell hatten die Kopfschmerzen einen ernsteren Hintergrund als ein Burn-out? Wer sollte sich um den Jungen kümmern, wenn er vorzeitig ins Gras biss?

Seine Handinnenflächen fühlten sich feucht an, obwohl er sie noch nicht unter den Wasserhahn gehalten hatte. Er fuhr sich durchs Haar und beschwor sich, sich zu beruhigen. Er musste dringend schlafen.

Während er über die Flickenteppiche durch den kalten Flur tappte und sich sein Schädel anfühlte, als ob er beim nächsten Schritt zersprang, überlegte er, ob sein Urin normal gerochen hatte? Wenn Urin komisch roch, konnte das ebenfalls auf Krankheiten hindeuten. Diabetes, ein Infekt – schlimmstenfalls gab es wirklich einen unentdeckten Tumor in seinem Kopf …

Vor Nikitas Tür blieb er stehen. Frerk mochte sie nun doch nicht öffnen. Erst gestern war er mit seinem Sohn in der Dunkelheit des Zimmers zusammengestoßen. »Warum kommst du dauernd in mein Zimmer geschlichen? Das ist so creepy!«, hatte Nikita erschrocken ausgerufen.

Eine Weile stand er unschlüssig vor der eierschalenfarbenen Tür mit dem alten Anti-AKW-Aufkleber. Er hatte ihn selbst auf die Tür geklebt, als dies noch sein Jugendzimmer gewesen war.

Barbies Hinterbeine zuckten im Traum und ihre Krallen kratzten über den Baumwollstoff, als er sich wieder hinlegte. Frerk kraulte sie noch eine Weile. Tief sog er ihren Geruch ein: eine Mischung aus drei Tage altem Gulasch und modriger Pfütze. Er mochte den Geruch. Er war wie das Kühlschrank-Brummen: vertraut.

Oke

Das Diensthandy auf dem Nachttisch klingelte. Mitten in der Nacht! Wie 1993. Damals war ein Fischerboot in Not gewesen, erinnerte er sich, als er den Schlaf abschüttelte und »Oltmanns« in den Hörer grummelte. Die Einsatzzentrale meldete einen Brand: »Nähe Forsthaus, Selenter See.« Wieso riefen die ihn an? Hatte sonst niemand Dienst in Lütjenburg? Wenn er morgens um 4.18 Uhr auf etwas verzichten konnte, dann auf Waldbrände – und Kurt Tietjen.

Trotzdem quälte er sich hoch und warf sich im Dunkeln etwas über, von dem er hoffte, dass es nicht Inse gehörte.

Kurz darauf drehte Oke den Zündschlüssel und die Stimmen von Jermaine Jackson und Pia Zadora dröhnten aus den Boxen im Fahrzeuginneren: »And when the rain begins to fall …«

In Hohwacht hatte es seit Tagen nicht geregnet. Der Waldbrand konnte verheerende Folgen haben. Die Nadeln der Tannen enthielten leicht brennbare ätherische Öle, die wie Brandbeschleuniger wirkten. Er fragte sich, ob Tietjen und seine Familie ernsthaft in Gefahr waren. Oke drückte das Gaspedal weiter durch.

Hinter ihm heulten Sirenen und Oke ließ einen Feuerwehrwagen vorbeiziehen. Im Scheinwerferlicht sah er eine schwarze Rauchsäule am dunklen Himmel.

Kurz darauf parkte er ziemlich schief neben Kurt Tietjens Kombi. Im Vorübergehen warf er dem Wackeldackel einen verächtlichen Blick zu.

Brandgeruch lag in der Luft. In der Ferne hörte er das Prasseln von Feuer. Vereinzelt klangen Rufe der Brandschützer herüber. Das erste Tanklöschfahrzeug wurde einsatzbereit gemacht.

Über einen schmalen Trampelpfad eilte er zum Forsthaus. Tietjens Frau Annemie stand auf dem Absatz vor der Tür. Sie trug eine braune Wolldecke um die Schultern und hielt eine getigerte Katze auf dem Arm. Ihre Augen lagen in tiefen Höhlen. »Ogottogottogott.« Mehr brachte sie nicht heraus.

»Wo ist Kurt?«, fragte Oke.

Die Försterin zeigte hinter das Haus, von wo Stimmen zu hören waren. Oke lief los, bereit, den Striethammel aus einem Flammeninferno zu ziehen. Auf halbem Weg kam ihm besagter Striethammel im Bademantel entgegen: Ein Feuerwehrmann hielt ihn am Arm gepackt: »Moin, Oschi, kannst du dich mal kümmern? Er wollte uns am Löschen hindern!«

Oke lächelte das erste Mal an diesem Tag und meinte: »Ich kette ihn im Haus an die Heizung.«

Mit eisernem Griff brachte Oke einen zeternden Tietjen ins Haus, wo er ihn zwar nicht ankettete, aber einem gerechten Gott überließ, der just eingetroffen war. Kölsch vor dem ersten Kaffee würde für Tietjen hoffentlich ebenso hart sein wie eine unbequeme Position am Fuße der Röhrenheizung.

So bald wie möglich wollte der Kommissar den Tatort in Augenschein nehmen. Als Oke am Löschfahrzeug ankam, löste sich ein Mann aus der Gruppe. Gruppenführer Hajo Hesse erstattete sofort ungefragt Bericht: »Irgendein Dööskopp hat am Bienenstand ein Feuerchen gelegt!«

Oke sah auf die prasselnden Flammen, die hochschlugen, als wollten sie den halben Wald verschlingen. Oke spürte die Hitze auf seiner Haut. Wenn er hier länger herumstand, würde sie seine Bartstoppeln versengen. »Kriegt ihr das hin?«

Es musste wohl ganz Ostholstein in Schutt und Asche liegen, bevor der Feuerwehrmann unruhig wurde. »Wir haben’s gleich. Meine Jungs wissen, was sie tun«, sagte Hesse gelassen. Er hüstelte verlegen. »Meine Jungs – und das Mädel«, fügte er schuldbewusst hinzu. Die Freiwillige Feuerwehr Hohwacht/Neudorf hatte erst kürzlich ein weibliches Mitglied hinzugewonnen. Offenbar musste Hesse seinen Sprachgebrauch erst der neuen Situation anpassen. Oke nickte. »Wer hat euch informiert?«

Hesse zeigte zum Forsthaus. »Die Frau des Försters. Völlig fertig, die Arme. Sollte man einem Arzt vorstellen.« Hesse deutete auf die verkohlten Reste des Schuppens: »Der war nicht zu retten und die Bienen … tja … keinen Schimmer, ob welche überlebt haben. Ich denke, eher nicht.« Oke vernahm Bedauern in der Stimme des Brandschützers.

Kurzzeitig übertönte das Rauschen des Wassers aus den Löschfahrzeugen Hesses kräftige Stimme, ein zweites war nun im Einsatz.

Sein Team leistete ganze Arbeit. Als Oke endlich an den Bienenstand durfte, war der Boden komplett durchnässt. Überall gab es tiefe Pfützen. »Warum wollte Tietjen nicht, dass ihr das Feuer löscht?«

Der Gruppenführer tippte sich an die Stirn: »Der Kerl ist doch ein Wichtigtuer. Meinte, dass die überlebenden Bienen Schaden nehmen könnten. Aber wir können das Wasser wohl schlecht durch Strohhalme pusten, oder was denkt der sich?«

Feuer und Wassermassen hatten alles im Chaos versinken lassen: Die schwarzen Reste der Holzkästen schwammen in Schlammpfützen, überall fanden sich Bruchstücke von Honigwaben. Der Schuppen bestand lediglich aus verkohlten Überresten.

Als Oke etwas Helles im Matsch aufblitzen sah, bückte er sich ächzend. Er war auch schon mal sportlicher gewesen.

Aufmerksam betrachtete er den triefenden Feuerwerkskörper in seiner Hand. Ein Totenkopf zierte das Papier: Polen-Böller. Illegale Kracher, die die große Gefahr von Fehlzündungen bargen.

Oke sah noch nicht klar. War das hier ein Dummejungenstreich? Oder hatte jemand eine Rechnung mit dem Förster zu begleichen? Die Böller konnten von überallher stammen.

Vorsichtig machte er ein paar Schritte nach rechts und seine braunen Halbschuhe versanken in der weichen Erde. Er suchte nach Schuhspuren. Diese fand man an Tatorten häufiger als Fingerabdrücke, und auch die Abdrücke der Sohlen konnten Ermittlern Aufschluss über eine Menge Dinge verschaffen. Der Sohlen-Spezi bei der SpuSi hatte ihm mal erklärt, inwiefern Sohlenabdrücke sogar etwas über die Herkunft der Täter verrieten.

Oke hegte allerdings wenig Hoffnung, in dieser Schlammwüste überhaupt eine Spur zu finden. Und zwar nicht nur, weil es tagelang trocken gewesen war und die Feuerwehr große Pfützen und tiefe Spurrillen hinterlassen hatte. Sondern vor allem, weil seine Brille im Auto lag!

Bei seiner weiteren Suche fiel sein Blick auf eine Wabe. Eine Biene irrte darauf umher, als suchte sie nach Überlebenden. Ein Tropfen Löschwasser glitzerte auf ihrem Pelz. »Wat ’ne Quäleree«, murmelte er.

Misshandlung von Tieren wurde bei Wirbeltieren nach Paragraf 17 Tierschutzgesetz geahndet. Hundebesitzern, die ihre Tiere qualvoll verhungern ließen, drohten Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Er wusste nicht, was einen Bienenmörder erwartete.

Und dann waren da noch Brandstiftung und Sachbeschädigung. Nachdenklich ging er noch ein Stück weiter, wieder zurück Richtung Forsthaus, wo die Erde fester wurde. Keine drei Minuten später stieß er auf einen halbwegs brauchbaren Abdruck, einen halben Schuhabdruck. Oke stieß einen Pfiff aus: Der mutmaßliche Täter hatte einen Abdruck mit Wabenmuster hinterlassen.

Gerade überlegte er, ob der Abdruck von Tietjen selbst stammen könnte, als der Förster unvermutet auftauchte. »Der Schaden geht in die Zehntausende! Schreib das mal schön in deinen Bericht rein!«

Oke richtete sich zu voller Größe auf: »Verdammig, Kurt Tietjen, du solltest im Haus bleiben! Willst du, dass ich dich festnehme?«

Kurt Tietjen blinzelte. »Wenn du eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung riskieren willst!«, kam es grob zurück.

Einerseits würde er sich nie im Leben von diesem Aushilfsförster sagen lassen, was er in seinen Bericht zu schreiben hatte. Andererseits brauchte er dafür die Einschätzung des Eigentümers zum Ausmaß des Schadens. 10.000 Euro erschienen ihm jedoch sehr viel. »Wir werden einen Sachverständigen zu Rate ziehen. Du kannst mir aber schon mal deine Schuhsohlen zeigen.«

Er hätte Tietjen auch bitten können, sich nackt auszuziehen. Der Effekt wäre der gleiche gewesen. »Gibt es für diese Anordnung einen gerichtlichen Beschluss?«, fragte Tietjen mit vor der Brust verschränkten Armen.

Aber diesmal würde der Sturkopp nicht mit seinen Fisimatenten durchkommen. Diesmal war das Gesetz eindeutig auf Okes Seite: »Zeig deine Schuhe oder ich nehme dich mit auf die Wache!« Kurt Tietjens Sohlen zierte ein Rautenmuster, wie er feststellen konnte, als der Förster mit verkniffenem Gesichtsausdruck den rechten Fuß anhob. »Hast du jemanden noch mehr geärgert als mich oder warum ist dein Bienenstand in die Luft geflogen?«, fragte Oke.

Kurt Tietjen sah ihn böse an. Er schien seine Antwort sorgfältig abzuwägen. »Was habe ich damit zu tun, wenn irgendwelche Idioten ein Feuerwerk im Wald veranstalten?« Demonstrativ schaute er auf den nassen Böller in Okes Hand.

»Du meinst, das Inferno hier hatte nichts mit dir zu tun?«, bohrte Oke nach.

Kurt Tietjen wirkte selbstsicher, wie er da in seinem Bademantel im Luftzug stand: »Wer sollte mir was Böses wollen?«

Oke hätte sich durchaus jemanden vorstellen können. Dieser Jemand war überdurchschnittlich groß, uniformiert und an überfahrenen Wildtieren interessiert. Zu Tietjens Glück nahm es dieser Jemand mit dem Gesetz sehr genau.

»Ich bin von der Knallerei draußen aufgewacht«, berichtete etwas später die aufgelöste Annemie Tietjen. Um die Schultern trug sie noch die fusselige Decke. Ihre Frisur erinnerte Oke an ein aus dem Baum gefallenes Vogelnest.

Sie saßen zu viert in Tietjens Stube, das Ehepaar Tietjen, Gott und er. Unbequemer ging es nicht: Sein Hintern klemmte zwischen den beiden Lehnen eines Polstersessels, der ohne Weiteres in einem Puppenhaus hätte stehen können. Während er sich wie im Schraubstock fühlte, tippte Gott munter die Aussagen des Ehepaares in seinen virtuellen Memoblock.

»Haben Sie jemanden gesehen?«

Annemie machte einen unentschlossenen Eindruck: »Nein … Es war dunkel.« Er glaubte ihr nicht recht. Ihr Zögern hatte ihn stutzig werden lassen. War es wirklich dermaßen finster gewesen? Musste der Himmel nicht wie in einer Silvesternacht geleuchtet haben? Womöglich kannte sie den oder die Täter und wollte diese schützen? All das ging ihm im Bruchteil einer Sekunde durch den Kopf.

Auf dem Schoß hielt er derweil eine Miniatur-Teetasse, deren blassgelber Inhalt ihn an einen Krankenhausaufenthalt in Kindertagen zurückdenken und erschaudern ließ. Die Tasse hatte Kurt Tietjen, der leider immer noch nicht festgekettet war, seiner Frau gebracht. Doch Annemie hatte den Tee an ihn weitergereicht: »Ich kann jetzt nichts trinken, aber Sie, Herr Oltmanns, Sie kommen doch gebürtig aus Ostfriesland.« Oke stellte die winzige Tasse auf dem Eichentisch ab. Warum dachten immer alle, Ostfriesen müssten Tee trinken? Er konnte das labbrige Zeug nicht ausstehen. Backemoor hin oder her.

»Um wie viel Uhr haben Sie es knallen gehört?«, fragte er.

Annemie warf einen Blick auf das Ziffernblatt der hölzernen Standuhr neben der Vitrine. »Um drei?«

Es klang wie eine Frage, und er wartete, ob sich Annemie korrigieren würde. Sie tat es nicht. »Also um drei Uhr?« Seine Stimme dröhnte durch den mit Möbeln und Porzellanfiguren vollgestopften Raum. Er hatte seine Probleme mit der Zeitangabe. Feuerwehr und Polizei waren erst viel später benachrichtigt worden. Das musste aber nichts heißen. Die Ereignisse hatten die Frau offenbar sehr verwirrt.

»Du machst meine Frau kirre«, mischte sich Kurt Tietjen ein. »Merkst du nicht, dass sie noch ganz durcheinander ist? Unser Haus hätte abfackeln können … Wahrscheinlich müssen wir wegen des Brandgeruchs renovieren!«

Das waren ja ganz neue Töne von einem, der eben noch die Rettungskräfte am Löschen hatte hindern wollen. Das Wort »Versicherungsbetrug« tauchte in Okes Kopf auf.

Gern hätte er gewusst, wie sein Kollege die Sache einschätzte. Aber der Hibbelmoors war gerade schon rausgelaufen, um die Kollegen von der SpuSi zu unterstützen. Während er selbst zwischen zwei Sessellehnen feststeckte.

Eine gute Stunde später traf Oke auf der Hohwachter Wache ein. Vor der Tür parkte schon wieder Jana Schmidts Wagen. Dann holte sie jetzt wohl tatsächlich den letzten Karton.

Mit einem Ruck riss er einen verblassten Fahndungsaufruf von der Eingangstür ab. Ein bräunlich verfärbter Klebestreifen blieb haften und er rubbelte diesen, so gut es ging, mit dem Daumennagel ab. Es wurde Zeit, sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass ein neues Kapitel anbrach – längst angebrochen war. Irgendwann würde es nur noch Müllabfuhr-Tage und keine Polizei-Tage mehr in Hohwacht geben.

Wenn er gehofft hatte, dass seine Kollegin ihn mit frisch gebrühtem Kaffee begrüßen würde, sah er sich getäuscht. Das Großraumbüro wirkte kahl, nachdem Jana Schmidt ihren Schreibtisch nun komplett geräumt hatte. Die beiden Fotorahmen mit den Aufnahmen ihres inzwischen verschiedenen Karotten-Meerschweinchens Toto fehlten, ebenso die chinesische Winkekatze und der Plüschteddy, den sie vor Jahren beim Bremer Freimarkt gewonnen hatte. Der Raum war überdies menschenleer.

»Oh, Moin, Herr Oltmanns. Ich bin eigentlich schon fast wieder weg«, sagte sie, als sie aus dem Bad kam. Der Pferdeschwanz saß wie immer fest am Kopf. Der Anblick ihres wippenden Zopfes würde ihm ebenso fehlen wie die Meersäue.

Sie lächelte ihn an: »Könnten Sie vielleicht noch beim letzten Karton mit anfassen? Da müsste jetzt wirklich alles drin sein. Ich hoffe, wir kriegen ihn in den Käfer.« Oke tat ihr den Gefallen, bückte sich und packte das unhandliche Teil mit beiden Händen. Noch beim Hochkommen durchzuckte ihn ein ungeahnter Schmerz: »Arg!«

Der Karton rutschte ihm aus den Händen. Ein Stifthalter, zwei Kugelschreiber und andere Kleinigkeiten wie Heftklammern fielen heraus und verteilten sich über der blauen Auslegeware. Ein Flummi hüpfte auf und nieder. Oke landete erst auf den Knien und sank dann seitlich unter den Schreibtisch der Kollegin. Anders als der Flummi kam er nicht ein einziges Mal wieder hoch.

»Oh mein Gott!«, rief Jana Schmidt, während Oke ungefähr zur selben Zeit ein »Düvel ok ne!« ausstieß. Vor Schmerzen fiel ihm das Atmen schwer.

Jana Schmidt konstatierte: »Hexenschuss – oder was Schlimmeres.« Ihre Stimme klang ungewohnt besorgt.

Einen Augenblick später wusste Oke, warum sie so unruhig wirkte: »Lassen Sie mich los! So geht das nicht, Frau Schmidt!«, grantelte er mit erstickter Stimme, während sie mit hochrotem Kopf an seinem rechten Bein zog.

»Ich ruf einen Krankenwagen«, entschied seine ehemalige Kollegin in resolutem Ton.

»Keinen Krankenwagen!«, japste er hinter ihr her.

In dem Moment ging die Glastür der Wache auf und Sieglinde Meyer schlurfte hinter ihrem Rollator in das Großraumbüro. »Herr Oltmanns?«, hörte er sie nach ihm rufen. Die 102-jährige Anwohnerin des Strandwegs ließ nur wenige Sekunden verstreichen, dann rief sie erneut: »Herr Oltmanns! Wo sind Sie? Heute ist Dienstag! Ihr Dienst-Tag, und ich will sofort Anzeige erstatten!«

Oke sah von seiner Warte aus nur die mattschwarzen Gesundheitsschuhe mit dem Klettverschluss und einen Teil ihrer auf Falte gebügelten Stoffhose. Die Meyersche hatte offenbar nicht mitbekommen, dass er nicht an seinem Schreibtisch saß. »Hier unten!«, dröhnte Oke schlecht gelaunt.

Sieglinde Meyer bückte sich. Oke sah in ein fragendes Gesicht, das ihn an eine schrumpelige Kartoffel denken ließ. »Was machen Sie da?«, krächzte sie verwundert.

Er wusste, dass sie die Ironie nicht verstehen würde, aber er sagte trotzdem: »Verbreker söken.«

Endlich beendete Jana Schmidt ihr Telefonat. Sie hatte gegen seinen ausdrücklichen Willen das Plöner Krankenhaus angerufen. »Wenn Sie Anzeige erstatten wollen, Frau Meyer, müssen Sie jetzt nach Lütjenburg fahren«, informierte sie die Dorfälteste. So unbarmherzig kannte er seine ehemalige Kollegin gar nicht. Vermutlich machte sie sich wirklich Sorgen um ihn – oder sie hatte zu lang mit einem Bullerjan gearbeitet …

Die Meyersche fasste sich ans Ohr. »Haben Sie Lütjenburg gesagt, junge Deern? Mit dem Ding soll ich nach Lütjenburg hin?« Sie stieß mit dem Fuß gegen die Gehhilfe. Da hatte Hallbohm es: Mit dem Rollator waren neun Kilometer eine ganze Ecke.

»Haben Sie wieder die Kerle mit den Taschenlampen gesehen?«, fragte Oke unterm Tisch liegend. Schließlich kannte er seine Pappenheimer. Und der Meyerschen würde er noch hundertmal erklären müssen, dass die »Kerle« nur Jugendliche waren, die auf virtuelle Pokémons Jagd machten.

In der Notaufnahme im Plöner Kreiskrankenhaus wollte eine zierliche Ärztin wissen, ob die Schmerzen vom Rücken ins Bein ausstrahlten. »Ne«, antwortete er knapp.

Die Ärztin konfrontierte ihn nun mit einer Feststellung, die ihm nicht viel sagte: »Sie haben vermutlich eine Bandscheibenvorwölbung.« Er erhaschte einen Blick auf ihr Namensschild: »Dr. Holtzbrink«, stand darauf.

Es hatte ihm nie viel ausgemacht, in seiner Werkstatt Tiere zu zerlegen. Über die Beschaffenheit seiner eigenen Bandscheibe hingegen wollte er nicht nachdenken. Oke wollte weder hören, dass »jede unserer 23 Bandscheiben im Inneren aus einem Gallertkern besteht«, noch, »dass sie von einem harten Faserring in Position gehalten« würden. Und schon gar nicht wollte er von Dr. Holtzbrink wissen, »dass mit dem Alter die Elastizität des Rings nachlässt«.

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25 мая 2021
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253 стр. 6 иллюстраций
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9783839267547
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