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Patricia Brandt

Imkersterben

Kriminalroman


Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Teresa Storkenmaier

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Christoph Burgstedt /

shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-6754-7

Widmung

Für Ilona

Vorwort

Ich kenne Patricia Brandt als Journalistin, und natürlich war ich sehr neugierig auf ihren neuen Krimi. Ich sagte ihr sofort zu, ein Vorwort zu verfassen, wenn ich auch gerade an meinem neuesten Buch über Bienenforschung saß.

Honigbienen sind potenzielle Opfer. Täter sind wir alle. Die Bienen sterben, wenn wir uns nicht ausreichend um sie kümmern. Das Bienensterben ist aber kein Fall für die Justiz.

Sterben aber nicht die Bienen, sondern Imker eines nicht natürlichen Todes, stellt sich sofort die Frage: Was außer den Stichen der Bienen kann Imkern so gefährlich werden, dass sie es mit ihrem Leben bezahlen? Ohne zu viel verraten zu wollen, es geht um dunkle Honiggeschäfte.

Wer »Imkersterben« liest, taucht ein in die Welt der Imker. Patricia Brandt ist ein spannender Krimi gelungen, der die Leser zusätzlich mit vielen interessanten Fakten rund um das Thema Bienen versorgt. Es ist eigentlich eine wunderbare und friedvolle Tätigkeit, Honigbienen zu halten, aber in »Imkersterben« wird sie lebensgefährlich …

Jürgen Tautz, Bienenforscher und Professor i.R. an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg

Mai

Oke

Das Fischhus war eine etwas bessere Bretterbude. Ein Vorzelt schützte die Gäste vor der steifen Brise, die an diesem Mittag den Duft von salzigem Meer herüberwehte. Als er die Plane beiseiteschob, zogen sich am Himmel bereits im Eiltempo dunkle Wolken zusammen.

In der Strandbude umfing ihn eine heimelige Atmosphäre. Fischbudenbesitzerin Wencke Husmann hatte zwei Sturmlaternen auf dem Tresen entzündet. Überhaupt war das Fischhus nach seinem Geschmack. Von der Decke baumelten alte Fischernetze, rechter Hand hing ein verblichener Rettungsring. In diesen vier windschiefen Wänden verlief das Leben, wie Oke es liebte: suutje.

Im Fischhus ließen sich ganze verregnete Nachmittage verbringen. Irgendeiner erzählte immer Döntjes. Nur nicht an diesem ungewöhnlich kühlen Tag im Mai. Natürlich nicht. Die Stimmung schien gedämpfter als sonst, was nicht verwunderlich war. Immerhin gab es einen unnatürlichen Todesfall zu beklagen.

Jan Husmann erblickte ihn sofort, obwohl die Fischbude gerammelt voll war. »Hier rüber, Oschi!« Jan wischte seine Hände an der weißen Schürze ab und schenkte ihm einen dampfenden Kaffee ein. Oke schnupperte. Es schien sich um echten Kaffee zu handeln. »Ist deine Frau ausgewandert?«

Jan Husmann blickte schuldbewusst über die Schulter zum Tresen, wo seine Gattin emsig Gemüse putzte. »Den Kaffee hab ich heimlich in der Thermoskanne von zu Hause mitgebracht.« Wencke hatte in letzter Zeit einen Ernährungsfimmel entwickelt, den sie mehr und mehr an ihren Gästen auslebte. Deren Meinung dazu war übrigens geteilt: Während sich die hippen Hamburger für die neue Speisekarte begeisterten, trafen die veganen Avocado-Bowls und vor allem der neue Lupinenkaffee bei vielen Einheimischen nicht gerade auf Gegenliebe. Derart neumodischen Kram lehnten sie kategorisch ab.

Die meisten Hohwachter wünschten sich wie Oke ein Fischbrötchen ohne viel Gedöns und dazu einen Becher anständigen holsteinischen Kaffee.

Wencke Husmann hatte seine Blicke offenbar gespürt, denn sie nickte ihm zu, legte die Gemüsebürste beiseite und trat hinter der Theke hervor. »Okay, Leute, hört bitte mal her. Wir fangen jetzt mit der Schweigeminute an. Am besten ihr steht alle auf.«

Barhocker wurden zur Seite geschoben, Kleidung raschelte, ein Gast schrie kurz auf und gab anschließend ein asthmatisches Röcheln von sich. Oke sah, dass Wenckes Hund Wolfgang sich im Bein des Gastes verbissen hatte. Wolle mochte es nicht, wenn die Gäste plötzlich von ihren Plätzen aufstanden. »Pfui, Wolle, aus!« Mit einem kurzen Ruck zog Wencke den Hund von dem begehrten Schenkelknochen weg.

Jan Husmann hüstelte und brachte damit die letzten Stimmen zum Schweigen. Dann setzte der Wirt mit den Dreadlocks und dem tätowierten Anker auf dem Arm zu einer Ansprache an – für den kürzlich überraschend verstorbenen Förster: »In Gedenken an Kurt.« Jan schaute in die Gesichter der Umstehenden.

Reihum gab es viele betroffene Mienen. Die meisten hielten den Blick gesenkt, betrachteten ihre Schnürbänder oder die abgenutzten Dielen des Fischhuses. Einige Dorfbewohner hatten sogar die Finger wie zum Gebet verschränkt. Ein Mann in knallroter Outdoorjacke sah von einem zum anderen und kratzte sich verlegen am Kopf. »Wir alle kannten Kurt Tietjen. Manche von uns hatten ihre Schwierigkeiten mit ihm. Doch Kurt war auch Ehemann und Vater. Ein Mensch.«

Jemand lachte auf.

»Ein Mensch, der plötzlich und auf grausame Weise aus unserer Mitte gerissen wurde«, fuhr der Redner unbeirrt fort, wobei sich seine Stimme in eine höhere Tonlage schraubte: »Mord in Hohwacht! Viele von uns fühlen sich hier nicht mehr sicher.«

Das ging jetzt aber zu weit! Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, es knarrte aber nur eine Diele, als Oke unwirsch sein Gewicht von einem aufs andere Bein verlagerte. Wencke stieß ihren Mann mit dem Ellbogen an: »Du schweifst ab!«

Jan räusperte sich. »Ja, ähm. Dann lasst uns jetzt einfach einen Moment in Gedenken an Kurt Tietjen schweigen.«

Die einsetzende Stille wurde genau zweimal unterbrochen. Einmal, als ein Besucher mit schweren Wanderschuhen von draußen ins Fischhus gepoltert kam und verdattert in die Runde fragte: »Was is’n hier los? Einer gestorben?«

Und das zweite Mal, als der Mann in der roten Outdoorjacke seinem Tischnachbarn zuraunte: »Treffen sich zwei Förster im Wald. Sagt der eine zum anderen: ›Ich habe deine Ehefrau getroffen.‹ Darauf erwidert der andere: ›Wo denn?‹ Antwort des Ersten: ›Zwischen die Augen.‹«

März

Tilda

Als Tilda am Strand ankam, waren die beiden schon eng ineinander verschlungen. Jedenfalls Teile von ihnen: Seine Zunge steckte in ihrem Ohr.

Hortense machte sich von ihrem Freund los und rannte über den Sand. »Hey, da bist du ja!« Sie hatte keine Schuhe an und die Fransen an ihrem schwarzen Mini-Kleid, das nach Tildas Meinung übertrieben kurz für diesen kühlen Märzabend war, flogen um ihre nackten Schenkel. Die dunkelhaarige Hortense mit den kohlenschwarz umrandeten Augen hauchte ein Küsschen in die Luft. Eigentlich kannten sich die beiden Frauen kaum: Hortense studierte in Kiel irgendwas mit Frisistik und hatte in ihren Semesterferien an Tildas Sarg-Selbstbaukursus teilgenommen.

Den Kursus bot sie erst seit Kurzem an. Es war eine Möglichkeit, sich über Wasser zu halten – Konrads Unterhalt kam nicht immer pünktlich. Zunächst hatte sie nur Vogelhäuser mit den Touristen gebaut. Doch dann brachte ein Teilnehmer sie auf die Idee mit den Särgen. Im Netz fand sie schnell diverse Anleitungen für den DIY-Sarg aus Kiefernholz. Keine zwei Wochen später ging es los: Der Clou ihres Kurses war, dass sie vorher mit den Teilnehmern Treibholz für die Deko sammelte. »Sargbau inklusive Erlebniswanderung und Probeliegen«, schrieb sie auf die Flugblätter, die sie überall in Hohwacht aushängte.

Hortense machte anfangs einen verschlossenen, düsteren Eindruck. Beim Werkeln unter Tildas Terrassenvordach hörte sie über ihr Handy komische Schrammelmusik, was die anderen Teilnehmer nervte. Tilda schaffte es, die morbiden Eigenheiten Hortenses in kreatives Schaffen umzulenken. Und als Hortenses Kiste »bezugsfertig« war, zeigte sie sogar ein wenig Begeisterung und wollte unbedingt mit Tilda eine Flasche Sekt köpfen – am Meer.

Tilda hatte sich schließlich zu dem Treffen am Hohwachter Strand überreden lassen. Vielleicht, weil sie keine Lust hatte, einen weiteren Abend allein zu verbringen. Vielleicht aber auch, weil sie hören wollte, warum Hortense glaubte, mit einem selbstgebauten Sarg »viel beziehungsfähiger« zu sein.

Wie beziehungsfähig die junge Frau war, war nicht zu übersehen. Hortense lehnte am Strandkorb und es machte ihr offenbar überhaupt nichts aus, von dem Kerl mit dem rostroten Haar abgeschleckt zu werden, als wäre er eine Schwarzbunte und sie der Salzstein.

So kurz nach ihrer Scheidung von Konrad war Tilda nicht sonderlich scharf darauf, mit einem liebestollen, noch dazu mindestens zehn Jahre jüngeren Pärchen am Strand abzuhängen. Schließlich hatte sie nicht gewusst, dass Hortenses Boyfriend mitkommen würde. Normalerweise, erfuhr sie von der nun doch etwas schuldbewusst dreinblickenden Hortense, arbeitete Gerrit in Kiel. Weil er ausgerechnet heute hatte freinehmen müssen – in seiner Firma sei die ganze Urlaubsplanung für die Tonne –, sei er mal eben nach Hohwacht gekommen, um sie zu sehen. »Und jetzt, wo er schon mal da ist, habe ich ihn mitgebracht. Das ist doch okay für dich, oder?«

Was sollte sie sagen? Dass sie sich überflüssig wie ein Kropf fühlte und sie sich obendrein den Hintern abfror? Wer kam auf die Idee, im März eine abendliche Strandparty zu veranstalten? Fröstelnd griff sie nach dem Plastikbecher, den Hortense ihr hinhielt. Die DIY-Sargbauerin goss ihrer Kursleiterin großzügig Sekt ein. »Nö, überhaupt kein Problem«, log Tilda und leerte den Becher in einem Zug. Der Sekt schmeckte ihr nicht. Das Zeug war zu süß.

Nur um irgendwas zu sagen, fragte sie Gerrit nach seinem Beruf. »Ich bin Lebensmittelchemiker in einem Honiglabor«, berichtete er und langte in die Plastikschale mit Erdbeeren, die Hortense gerade aus ihrem Picknickkorb befördert hatte. Gerrit steckte sich die Frucht zwischen die aufgeplatzten Lippen. Wahrscheinlich wundgeküsst, dachte sie frustriert. Dann beobachtete sie, wie er Hortense mit vorgestrecktem Kinn aufforderte, ihm die Erdbeere aus dem Mund zu stibitzen. Tilda hätte kotzen können.

»Ach, was ’n Zufall! Hat Hortense erzählt, dass ich Imkerin bin?« Er schüttelte den Kopf. Blöd von ihr. Sie sah ja, dass die beiden Wichtigeres zu tun hatten, als sich zu unterhalten, so verknallt, wie die waren. Wie hatte sie überhaupt annehmen können, dass Hortense ihrem Freund etwas über sie erzählte?

Die Wellen sorgten für leises Hintergrundrauschen und sie konzentrierte sich einen Moment auf ihr Getränk. Die nächste halbe Stunde verbrachte Tilda fröstelnd als fünftes Rad am Wagen. Das Gespräch wollte bei der Küsserei der beiden nicht recht in Gang kommen.

Irgendwann kamen sie doch auf Gerrits Job im Labor zu sprechen.

Wenn man diesem Rotschopf Glauben schenken wollte, waren die meisten Imker kriminell. »Erzähl keinen Quatsch!« Sie beobachtete, wie Gerrit in der Plastikschale nach weiteren Erdbeeren fingerte. Sein Haar leuchtete in dem Abendlicht in einem unglaublichen Farbton, der sie an Ahornblätter im Oktober denken ließ.

»Doch, doch.« Er schien mittlerweile ein wenig Interesse für sie aufzubringen. Vielleicht lag das an ihren langen blonden Haaren, die sie frisch mit einer Packung aus dem Drogeriemarkt gefärbt hatte, und an den regelmäßigen Honig-Quark-Packungen, dank derer sie noch ziemlich glatt aussah.

»Wieso denn?« Sie hatten sich auf ihre Jacken auf den feuchten Sand gesetzt. Die Strandkörbe dienten zugleich als Rückenlehnen und Windschutz. Während sie gespannt auf die Antwort wartete, mümmelte Hortense wortlos einen Muffin. Na ja, die imkerte auch nicht.

»Viele panschen. Es gibt schlicht zu wenig Honig in Deutschland, in der Welt, deshalb ist es so lukrativ, den Honig zu strecken.«

Tilda konnte das nicht glauben: »Ist ja irre. Wie machen die das denn? Ich meine, was genau geben die da rein?«

Der rothaarige Mann mit den vielen Sommersprossen auf der Nase nahm eine Erdbeere zwischen Daumen und Zeigefinger, betrachtete diese gedankenverloren und meinte: »Das ist kein großes Geheimnis. Die meisten mischen billigen Sirup unter den Honig. Ein gewinnbringendes Rezept.«

»Wie dreist …«, staunte Tilda. Sie selbst hatte nie etwas Unrechtes getan, wenn man von der roten Ampel absah, die sie letztes Jahr übersehen hatte.

Gerrit genoss ihre Aufmerksamkeit und Tilda stellte fest, dass sein Blick einen Tick zu lang auf dem Ausschnitt ihrer Strickjacke ruhte. Sie wusste nicht, wie sie das finden sollte.

»Wirklich dreist. Aber wir kriegen es raus. In unserem Labor, meine ich.« Er nuckelte an der Erdbeere, als wäre sie ein Schnuller oder ein weibliches Körperteil. Tildas Nackenhaare sträubten sich bei dem Gedanken.

»Also könnte es sein, dass der Honig, den ich im Supermarkt kaufe, gepanscht ist?«, fragte sie und versuchte, sämtliche sexuell gearteten Bilder aus ihrer Vorstellung zu verbannen. Er schüttelte den Kopf: »Eher nicht. Inzwischen lassen alle ihre Honige prüfen. Wir kriegen um die 800 Proben pro Tag zugeschickt. Die Exporteure wollen es genau wissen, die Importeure und die Supermärkte oft auch. Weil es so viele Honigwäscher gibt, haben alle Angst, an einen zu geraten. Honig ist heutzutage ein Milliardengeschäft.«

Tildas Blick ging in die Ferne, wo die Ostsee hinter dem menschenleeren Strand lag. Ruhig und dunkel, als wartete sie auf etwas.

»Unglaublich«, murmelte sie. Wie gern würde sie auch mal richtig Geld verdienen. Seit der Scheidung musste sie den größten Teil ihres Unterhalts mit den Kreativkursen und dem Honigverkauf bestreiten. Das funktionierte mehr schlecht als recht. Das Geld kam nur kleckerweise. Reich konnte man mit dem Bau von Särgen und dem Verkauf von Honig leider nicht werden.

Kalter Wind strich ihr über das Gesicht. Doch sie fror nicht mehr so sehr, der Sekt hatte sie innerlich aufgewärmt. Tilda beugte sich vor, streifte die geblümten Gummistiefel und die dünnen Socken von den Füßen. Mit den nackten Zehen im eiskalten Sand herumzuwühlen, gab ihr ein Gefühl von Freiheit. Genau, sie hatte kein Geld, aber sie durfte sich frei fühlen. »Yippie!«, rief sie ironisch. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Bisher hatte sie mehr gelassen als getan. Hortense und Gerrit sahen sie nicht mal an, sondern knutschten wieder.

Den Kopf an die Rückwand des Strandkorbs gelehnt, die Augen geschlossen, lauschte sie den kurzen Wellen, die sich an den Steinwällen brachen.

Dann kam ihr Gerrits Schmatzen erneut zu Bewusstsein. Eklig. Mussten die beiden die ganze Zeit so feucht küssen?

Sie hielt es nicht aus, einen ganzen Abend lang unfreiwilliger Beobachter ihrer Zärtlichkeiten zu sein, und versuchte, das Gespräch wieder in Gang zu bringen: »Und ihr findet es immer heraus, wenn jemand schummelt?«

Gerrit ließ widerwillig von Hortense ab. »Was glaubst du? Wir können den Honig in die kleinsten Bestandteile zerlegen!« Er steckte sich die letzte Erdbeere in den Mund. Schade, sie hätte ebenfalls gerne eine für ihren Sekt gehabt. Warum hatte sie sich zurückgehalten? Sie würde in Zukunft mehr darauf achten, nicht mehr zu kurz zu kommen. Tilda schielte in ihren Becher und stellte fest, dass er dringend nachgefüllt werden musste. Kurz entschlossen goss sie sich großzügig nach. Hortense nahm keine Notiz davon. Sie war damit beschäftigt, »Gerrit-Maus« leidenschaftlich durch die Haare zu fahren. Er sah inzwischen aus, als wäre er rückwärts durch die Dünenrosen an der Strandpromenade gekrochen.

»Du kannst dir nicht vorstellen, was wir inzwischen alles nachweisen können! Allein die ganzen Pestizide! Wir prüfen den Honig heutzutage auf mehrere Hundert verschiedene Substanzen.« Das klang arrogant. Gerrit schien ein kleiner Wichtigtuer zu sein und sie bekam plötzlich Lust, den Rotfuchs zu provozieren.

»Ich wette, es gibt eine Methode, euch auszutricksen.«

Gerrit reagierte heftiger als erwartet: »Ausgeschlossen!« Dann lehnte er den zerzausten Kopf an Hortenses Busen und räumte ein: »Na, okay. Eine Möglichkeit gäbe es. In dem Fall könnte es passieren, dass wir mal was übersehen.«

Neugierig lehnte sie sich vor: »Und die wäre?«

Gerrit grinste schief: »Das darf ich dir leider nicht verraten.«

Bevor sie nachhaken konnte, wurde sie von trauriger Gothic-Musik aus Hortenses Handy unterbrochen. Gerrit legte den Arm um seine Freundin und zog sie hoch. Dann lief das Paar Hand in Hand zwischen den Strandkörben hindurch Richtung Meer. Die Fransen des Kleides flogen wieder um Hortenses Schenkel, als sie sich plötzlich umdrehte und rief: »Komm, Tilda. Wir gehen alle schwimmen!«

April

Oke

Ein Kleinwagen hatte sich auf der Landesstraße 165 überschlagen. Der Fiat lag schräg am Straßenrand. Herabhängende Zweige einer knorrigen Kopfweide kratzten im Wind über den Lack.

Die Straße war an diesem frühen Aprilmorgen in Dunkelheit gehüllt. Abgesehen von dem unnatürlich blauen Licht, das vom Polizeiwagen ausging. Das Blinken spiegelte sich in blicklosen Pupillen. Oke stieß den leblosen Körper auf dem Asphalt mit dem Fuß an: »Arme Sau.«

Hinter ihm widersprach eine dünne Fistelstimme: »Das ist keine Sau, sondern ein Keiler.« Oke brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer dort stand: Kurt Tietjen, Hohwachts neuer Revierförster. Die Kollegen aus Lütjenburg mussten ihn zur Unfallstelle gerufen haben. Dammi noch mal to!

Tietjen gehörte zu den Menschen, die einem durch bloße Anwesenheit den Tag verderben konnten. Was zum Beispiel sollte dieser Spruch? Als ob er nicht wüsste, dass eine Sau keine Hauer hatte. Aber er hatte keine Lust, sich von diesem Gernegroß belehren zu lassen. Er konnte eine arme Sau nennen, wen er wollte.

Oke verlegte sich auf grimmiges Starren. Eine Kunst, die er seit seiner Geburt beherrschte, wie seine Mutter nicht müde wurde zu betonen. »Ich meine ja nur: Nicht, dass du in deinen Polizeibericht was Falsches schreibst«, beharrte Tietjen auf seinem Hinweis. In seinem Ton lag etwas Unverschämtes. Grimmiges Starren reichte bei dem Förster nicht.

»Verdammig! Tietjen! Meine Berichte sind immer richtig!« Oke schnaufte wie ein Stier in einer spanischen Arena, was zum Teil an seiner verstopften Nase lag. Um diese Jahreszeit hatte die Grippe die Hälfte der Hohwachter fest im Griff.

Oke blickte erneut zum Kleinwagen hinüber, wo sein Kollege Vincent Gott mit dem benommen wirkenden Fahrer stand. Gott, ein 36-jähriger, unverschämt gut aussehender Kripobeamter mit Hipster-Bart, Männer-Dutt und jeder Menge Markenklamotten, hatte sich von Köln nach Schleswig-Holstein versetzen lassen. Dass Oke seither Kölsches Kauderwelsch entschlüsseln musste, dafür hatte die Deutsche Post gesorgt: Gott hatte nämlich im Glücksatlas des Unternehmens gelesen, dass an der Ostsee die glücklichsten Menschen Deutschlands lebten.

»Et kütt wie et kütt. Un et hätt noch immer jot jejange«, hörte er den Kölner gerade einen seiner Lieblingssprüche aufsagen. Adressat war das Unfallopfer, das nun Hilfe suchend in Okes Richtung schaute. »Es kommt, wie es kommt, und es ist noch immer gut gegangen«, rief Oke hinüber. Wenn noch mehr Rheinländer dem Ruf der Deutschen Post folgten, könnte er sich seinen Chefs bald als Dolmetscher anbieten.

Der Unglücksfahrer, dessen Gesichtsfarbe man bestenfalls als grau beschreiben konnte, fand offenbar überhaupt nicht, dass alles gut ausgegangen war. Mit schreckgeweiteten Augen deutete er auf seinen Wagen. Der Fiat sah aus, als wäre eine ganze Rotte Wildschweine darüber getobt.

Dabei hatte der Mann Glück im Unglück gehabt. Ein Wildunfall konnte für den Fahrer tödlich enden. Die Wucht, mit der beispielsweise ein Hirsch auf ein 60 Stundenkilometer fahrendes Auto prallte, entsprach mit fünf Tonnen dem Gewicht eines ausgewachsenen Elefanten. Wie wäre es da erst bei diesem extrem großgewachsenen Wildschwein?

Besonders viele Unfälle ereigneten sich in der Zeit von September bis Januar, weil sich die Tiere in der Brunft befanden. Sie liefen oft völlig unkontrolliert auf die Straße. Jetzt war April, trotzdem gab es Wildunfälle. Dieser Tage hatte er den Eindruck, als gäbe es seit dem Winter nichts anderes mehr zu tun, als Unfallstellen zu sichern.

Immerhin hatte ihm der Unfall ein Präparationsobjekt beschert. Und was für eins. Oke sah das Tier schon auf seiner Werkbank. Ein prächtiger Wildschwein-Vorleger-Kopf! Gleich nach Feierabend würde er den Schädel auskochen.

Obwohl, das ging nicht: Seine Frau Inse veranstaltete ja ihren Mädelsabend. Dann säße sie wieder mit Wencke Husmann und ihrer neuen Freundin Tilda Schwan in der Küche und probierte unwahrscheinliche Rezepte aus. Bis zu ihren Treffen hatte Oke jedenfalls nie davon gehört, dass man Kohlrabi grillen konnte. Die Küche war für ihn allein schon zu klein. Mit Inse und ihrem Besuch würde er sich wie in einer Besenkammer vorkommen. Außerdem würden sich die Frauen garantiert beklagen, wenn er zwischen ihnen mit der Knochensäge herumfuhrwerkte. Den Küchentisch bräuchte er eigentlich sowieso komplett für seine Zwecke.

Dann eben morgen Abend. Gern hätte er das Vieh im Kofferraum verstaut, aber dazu könnte er Gotts Hilfe gebrauchen. Und der textete immer noch das Unfallopfer zu. »Nix bliev, wie et wor«, hörte er den Kollegen sagen. Und als er den angeschlagenen Fahrer in die Wärmedecke hüllte: »Nehmen Sie die Decke. Jetz maache mer et wärm.« Wie konnte man nur so viel sabbeln? In Ostholstein waren die Menschen um einiges wortkarger. Oke hoffte, der Kollege würde sich bald umgewöhnen.

Dann versuchte er, Gott durch Handzeichen auf die arme Sau aufmerksam zu machen.

»Der Keiler bleibt, wo er ist – sonst machst du dich der Wilderei schuldig«, meldete sich Tietjen zu Wort. Dieser Striethammel ging wirklich keinem Ärger aus dem Weg.

Oke taxierte den drei Köpfe kleineren Mann. Sein stechender Polizistenblick hatte weitaus härtere Burschen einknicken lassen. Mit Genugtuung registrierte Oke, dass jetzt zumindest die Feder an Kurts Jägerhut zitterte. Eventuell lag das aber doch nur am Fahrer eines Audi TT, der in diesem Moment mit mindestens 150 Klamotten über die Landesstraße bügelte.

»250 Euronen und du kannst den Keiler haben«, stieß Tietjen hervor. 250 Euro. Viel Geld für einen Polizisten. Zumal Inse einen Bienen-Spleen entwickelt hatte, seit sie sich mit dieser Tilda Schwan angefreundet hatte. Tilda hielt Bienen, und Inse hatte sich sogar schon einen Imkeranzug im Internet bestellt. Kostenpunkt: 129 Euro.

»Ich bin Polizist, nicht Krösus«, hatte er beim Abendbrot gemurrt. Aber sie hatte gemeint, dass sie mit ihrem Job bei der Fewo-Agentur schließlich selbst Geld verdiene. Sie übernahm dort neuerdings zwei Tage die Woche den Telefondienst und vermittelte exklusive Ferienappartements an Urlauber. »Wir brauchen auch noch ein Refraktometer«, war sie ungerührt fortgefahren. Wieso wir? Er wusste nicht mal, was das war: ein Refraktometer. »Damit misst du den Wassergehalt des Honigs«, hatte Inse ihm daraufhin erklärt und in ihr mit Brunnenkresse belegtes Dinkelbrot gebissen.

»Aber wir haben ja noch nicht mal Bienen«, hatte er eingewandt. Da hatte sie ihn traurig angesehen. Und ihm war eingefallen, dass er ihr die Bienen schenken sollte – zum Hochzeitstag.

Inse hatte sogar schon Bienenvölker reserviert. Bei ihrer Freundin Tilda Schwan aus dem Nixenweg.

In Kürze sollte er die Bienen dort abholen. Die Insekten als Hochzeitsgeschenk hatten, wenn er Inse richtig verstand, einen symbolischen Hintergrund: »Weil ein Volk ewig lebt – wie unsere Liebe«, hatte seine Angetraute gemeint. Er fand die Begründung ziemlich fadenscheinig. Nichts und niemand lebte ewig. Außer vielleicht die Meyersche aus dem Neptunweg. Die war 102 Jahre alt und man musste sie wohl irgendwann dood schießen, sonst würde sie bis in alle Ewigkeit mit dem Rollator durch Hohwacht irren. Sie hatte bereits sieben Katzen überlebt. Die siebte, Mieze, lag gerade ausgeweidet auf seiner Werkbank. Draht hatte er ihr auch schon in den Schwanz gesteckt, um die Form anzupassen. Es kam beim Präparieren stark auf die natürliche Anatomie des Tieres an.

»Wenn du die Bienen schon reserviert hast, dann ist es ja keine Überraschung mehr«, hatte er eingewandt. Viel lieber hätte er ihr wie letztes Jahr eine Vase beim Möbelhaus in Schönkirchen gekauft. Vasen hatten den Vorteil, dass man für sie weder Schutzanzüge noch Refraktometer brauchte.

»Wann hast du mich denn das letzte Mal überrascht?«, hatte sie kühl zurückgefragt.

Tietjens Fistelstimme riss ihn aus den Gedanken: »Bezahlst du nun oder nicht?«

Oke hätte sich beinahe an die Stirn getippt. »Klei mi ann mors, Kurt Tietjen. 250 Euro sind Wucher. Außerdem darfst du die Sau gar nicht verkaufen!« Oke wusste von Tietjens Vorgänger, dass Förster verunfallte Wildtiere wegen möglicher, im Zustand des Todes nicht erkennbarer, Krankheiten höchstens selbst verzehren durften oder eben dem Abdecker überlassen mussten. »Am besten«, knurrte er, »du verschwindest sofort von meiner Unfallstelle, oder du kassierst wegen Behinderung einer Amtsperson ein Verwarngeld von – 250 Euro.« Der Mann in der dunkelgrünen Fleecejacke blinzelte.

Nach diesem Teilsieg stapfte Oke einigermaßen zufrieden zum Unfallwagen. Im rötlichen Licht der aufgehenden Sonne beobachtete er von dort, wie der Förster seine Sau an den Hinterläufen packte und zu seinem Kombi zog. Als er davonfuhr, wirbelten trockene Blätter auf, die hier seit dem Herbst lagen. Tietjens Wackeldackel auf der Hutablage nickte ihm zu, Hohn und Spott in den Knopfaugen.

Auf die Niederlage folgte ein Dienstag. Dienstage hatten sich bisher im Küstenstädtchen von anderen Wochentagen unterschieden, weil dienstags die Müllabfuhr kam. Jetzt war der Dienstag in Hohwacht nicht mehr nur Müllabfuhr-, sondern auch Polizei-Tag. Zwei Stunden lang durfte der Kommissar die Wache am Berliner Platz neuerdings nur noch öffnen, von 10 bis 12 Uhr. Den Rest der Woche verbrachte er auf Anordnung des Polizeichefs in der Polizeistation in Lütjenburg.

Als er am Berliner Platz ankam, sah er den roten Käfer seiner ehemaligen Hohwachter Kollegin Jana Schmidt vor dem Polizeihaus parken. Im Vorbeigehen spähte er durch die Heckscheibe: Ein Umzugskarton nahm fast die komplette Rückbank ein. Sie holte ihren restlichen Krempel aus der Wache, schlussfolgerte er. Jana Schmidt arbeitete inzwischen in Kiel bei der Spurensicherung. Nicht mal eine neue Vertretung hatte Oke für Hohwacht genehmigt bekommen. Das bedeutete, dass er nun allein mit der Kaffeemaschine zurechtkommen musste, was er als persönliche Strafe empfand. Für dieses Gerät benötigte man einen Waffenschein: Schrotthupen!

Eine Vertretung brauchte es aus Sicht der Plöner Polizeiführung nicht. Falls Not am Mann sei, erklärte ihm Polizeichef Jens Hallbohm, könne immer noch der Neue einspringen, dieser junge Gott aus Köln. »Der liebt doch die Küste.«

Gegen Vincent Gott konnte man im Großen und Ganzen nichts sagen. Man verstand zwar kaum ein Wort von ihm, dafür tippte Gott gewissenhaft alle Notizen in sein Smartphone und nahm Oke damit eine Menge Arbeit ab. Das Einzige, was ihn wirklich an Gott störte: Er war nicht Jana Schmidt.

Auch gegen Lütjenburg als neuen Dienstort sprach im Prinzip überhaupt nichts. Seine ostfriesische Verwandtschaft aus Backemoor hatte sich beim jüngsten Besuch mit Begeisterung über den historischen Marktplatz führen lassen. Sie hatten das barocke Rathaus besichtigt und ein Gruppenfoto vor dem ehemaligen Färberhaus gemacht, weil seiner Cousine das bunte Eingangstor so gut gefiel. Je länger er darüber nachdachte, desto weniger gab es an Lütjenburg auszusetzen. Das Einzige, was ihn an Lütjenburg störte: Es war nicht Hohwacht.

»Hey Chef«, begrüßte ihn Jana Schmidt, ohne aufzublicken. Offenbar hatte sie kein schlechtes Gewissen, dass sie gleich nach Bekanntwerden der Umstrukturierung ihre Versetzung zur SpuSi beantragt hatte. Der blonde Pferdeschwanz wippte, als sie die Schubladen ihres Schreibtisches aufzog und wieder zuknallte.

Mehr als ein »Moin« brachte er nicht heraus. Er hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Vielleicht das Vorzeichen einer Erkältung. Es konnte nichts anderes sein. Ein Oke Oltmanns wusste nicht mal, wie man »Rührseligkeit« schrieb.

Nach einem Mord an einem Münchner Geschäftsmann im vergangenen Sommer hatte er gehofft, die Wache würde bestehen bleiben. Selbst ein Polizei-Bürokrat wie Jens Hallbohm hätte einsehen müssen, dass ein Polizeirevier in Hohwacht Sinn ergab. Aber Hallbohm sah nichts ein. »Oschi, es sind von Hohwacht nach Lütjenburg über die L 164 an der Golfanlage vorbei nicht mal neun Kilometer – wo ist das Problem?«

Oke hielt dagegen, dass es gut wäre, wenigstens einen dezentralen Standort zu erhalten. Hallbohm hatte alle kleinen Reviere entweder geschlossen oder deren Öffnungszeiten wie in Hohwacht radikal reduziert. »Gerade ein Badeort wie Hohwacht …«, wollte Oke weiter argumentieren. Aber Hallbohm hörte nicht zu. Sein Chef blies die Hamsterbacken auf und berechnete mit Hilfe eines Routenplaners in seinem Smartphone weitere Fahrtwege: »Über die B 202 sind es zehn Kilometer. Du musst ja nicht über Seekamp fahren. Das wäre länger. Warte: Das wären – Moment – zwölf Kilometer. Mein Gott, Oschi, das kannst du alles sogar mit dem Rad machen. Wäre nicht schlecht – bei deinen Gewichtsproblemen.«

Das Wandtelefon klingelte. Jana Schmidt tat so, als ginge sie das nichts mehr an. Oke seufzte und nahm ab. Der Anrufer meldete gestohlene Nummernschilder. Oke notierte alles und versprach, sich zu kümmern. Dann beobachtete er deprimiert, das Kinn auf die Fäuste gestützt, wie seine Kollegin ihren Wandkalender abnahm: Nun würde er all ihre geliebten Rosetten-, Glatthaar- und Mohair-Meersäue nicht mehr sehen. Dabei fand er die April-Kurzhaar-Peruaner eigentlich ganz niedlich.

956,63 ₽
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Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
Объем:
253 стр. 6 иллюстраций
ISBN:
9783839267547
Издатель:
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