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Unterwerfung und Selbstverachtung

51 Einige in wirtschaftlicher Hinsicht erfolgreiche Länder werden als kulturelle Vorbilder für die weniger entwickelten Länder hingestellt, anstatt zu versuchen, dass jedes Land in dem ihm eigenen Stil wachse und seine Fähigkeiten zu einer Erneuerung nach den eigenen kulturellen Werten entwickle. Diese oberflächliche und betrübliche Vorstellung führt dazu, eher zu kopieren und zu kaufen, als vielmehr selbst schöpferisch tätig zu sein, und gibt Anlass für ein sehr niedriges nationales Selbstwertgefühl. In den wohlhabenderen Schichten vieler armer Länder und manchmal bei denen, die es geschafft haben, aus der Armut herauszukommen, stellt man eine Unfähigkeit fest, ihre eigene Situation und deren Entwicklung zu akzeptieren. So verfallen sie einer Verachtung der eigenen kulturellen Identität, als ob sie die Ursache aller Übel sei.

52 Das Selbstwertgefühl einer Person zu zerstören ist ein einfacher Weg, um sie zu beherrschen. Hinter diesen Tendenzen, die auf eine Homogenisierung der Welt abzielen, treten Machtinteressen hervor, die von der geringen Selbstachtung profitieren, während gleichzeitig über Medien und Netzwerke versucht wird, eine neue Kultur im Dienst der Mächtigeren zu schaffen. Dies wird von einer skrupellosen Finanzspekulation und Ausbeutung ausgenutzt, wo die Armen immer die Verlierer sind. Andererseits bedeutet das Ignorieren der Kultur eines Volkes, dass viele politische Verantwortungsträger nicht mehr in der Lage sind, ein leistungsfähiges Projekt durchzuführen, das frei übernommen und über die Zeit hinweg aufrechterhalten werden kann.

53 Man vergisst, dass »es keine schlimmere Entfremdung gibt als erfahren zu müssen, keine Wurzeln zu haben und zu niemanden zu gehören. Ein Land wird nur in dem Maß fruchtbar sein, ein Volk wird nur in dem Maß Früchte tragen und Zukunft schaffen können, wie es Beziehungen der Zusammengehörigkeit unter seinen Mitgliedern hervorbringt und Bindungen zur Integration unter den Generationen und seinen verschiedenen Gemeinschaften schafft; und wie es die Spiralen durchbricht, welche die Sinne trüben und so uns immer mehr voneinander entfernen«.50

Hoffnung

54 Trotz dieser dunklen Schatten, die nicht ignoriert werden dürfen, möchte ich auf den folgenden Seiten den vielen Wegen der Hoffnung eine Stimme geben. Gott fährt nämlich fort, unter die Menschheit Samen des Guten zu säen. Die jüngste Pandemie hat uns erlaubt, viele Weggefährten und -gefährtinnen wiederzufinden und wertzuschätzen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. Wir können erkennen, dass unsere Leben miteinander verwoben sind und wir durch einfache Menschen Hilfestellung erfahren haben, die aber zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte geschrieben haben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet.51

55 Ich lade zur Hoffnung ein. »Sie spricht uns von einem Durst, einem Streben, einer Sehnsucht nach Fülle, nach gelungenem Leben; davon, nach Großem greifen zu wollen, nach dem, was das Herz weitet und den Geist zu erhabenen Dingen wie Wahrheit, Güte und Schönheit, Gerechtigkeit und Liebe erhebt. […] Die Hoffnung ist kühn. Sie weiß über die persönliche Bequemlichkeit, über die kleinen Sicherheiten und Kompensationen, die den Horizont verengen, hinauszuschauen, um sich großen Idealen zu öffnen, die das Leben schöner und würdiger machen«.52 Schreiten wir voller Hoffnung voran!

Zweites Kapitel
EIN FREMDER AUF DEM WEG

56 Alles, was ich im vorigen Kapitel angesprochen habe, ist mehr als eine abgehobene Beschreibung der Wirklichkeit, denn »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände«.53 In der Absicht, ein Licht inmitten der Geschehnisse, die wir gerade durchleben, zu finden, möchte ich, bevor ich einige Handlungsleitlinien entwerfe, einer zweitausend Jahre alten Erzählung Jesu ein Kapitel widmen. Auch wenn sich dieses Schreiben an alle Menschen guten Willens, jenseits ihrer religiösen Überzeugungen, richtet, so äußert sich das Gleichnis doch in einer Weise, dass jeder von uns sich von ihm ansprechen lassen kann.

»In jener Zeit stand ein Gesetzeslehrer auf, um Jesus auf die Probe zu stellen, und fragte ihn: ›Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu erben?‹ Jesus sagte zu ihm: ›Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?‹ Er antwortete: ›Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Jesus sagte zu ihm: ›Du hast richtig geantwortet. Handle danach und du wirst leben!‹ Der Gesetzeslehrer wollte sich rechtfertigen und sagte zu Jesus: ›Und wer ist mein Nächster?‹ Darauf antwortete ihm Jesus: ›Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber. Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber. Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde?‹ Der Gesetzeslehrer antwortete: ›Der barmherzig an ihm gehandelt hat.‹ Da sagte Jesus zu ihm: ›Dann geh und handle du genauso!‹« (Lk 10,25–37).

Der Hintergrund

57 Dieses Gleichnis hat einen uralten Hintergrund. Kurz nach der Erzählung von der Erschaffung der Welt und des Menschen zeigt die Bibel die Herausforderung unserer zwischenmenschlichen Beziehungen. Kain beseitigt seinen Bruder Abel, und da ertönt die Frage Gottes: »Wo ist Abel, dein Bruder?« (Gen 4,9). Die Antwort ist die gleiche, wie wir sie oft geben: »Bin ich der Hüter meines Bruders?« (ebd.). Mit seiner Nachfrage stellt Gott jede Art von Determinismus oder Fatalismus infrage, die versuchen, die Gleichgültigkeit als einzig mögliche Antwort zu rechtfertigen. Der Herr befähigt uns stattdessen, eine andere Kultur zu schaffen, die uns dahin ausrichtet, die Feindschaften zu überwinden und füreinander zu sorgen.

58 Das Buch Ijob nimmt die Tatsache, dass wir einen gemeinsamen Schöpfer haben, als Grundlage für einige allgemeine Rechte: »Hat nicht er, der mich im Mutterleib gemacht hat, ihn gemacht, hat nicht Einer uns im Mutterschoß geformt?« (31,15). Viele Jahrhunderte später drückte der heilige Irenäus dies mit dem Bild der Melodie aus: »Wer die Wahrheit liebt, darf sich durch die Unterschiedlichkeit der einzelnen Töne nicht verleiten lassen und mehrere Künstler und Schöpfer annehmen, wobei der eine die hohen Töne, ein anderer die tiefen und noch ein anderer die mittleren beigetragen hätte, sondern es war ein und derselbe, zur Demonstration des ganzen Werks und der Weisheit, der Gerechtigkeit, Güte und Gnade«.54

59 In der jüdischen Tradition scheint sich der Imperativ, den anderen zu lieben und sich um ihn zu kümmern, auf die Beziehungen zwischen den Gliedern ein und desselben Volkes zu beschränken. Das alte Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (Lev 19,18) verstand man für gewöhnlich auf die Landsleute bezogen. Doch besonders im Judentum, das sich außerhalb des Landes Israel entwickelte, begannen sich die Grenzen zu weiten. Es wurde deutlich, dass man dem anderen nicht etwas zufügen darf, von dem man nicht will, dass es einem selbst angetan wird (vgl. Tob 4,15). Der Weise Hillel (1. Jh. v. Chr.) sagte in diesem Zusammenhang: »Darin besteht das Gesetz und die Propheten, alles andere ist nur die Erläuterung«.55 Der Wunsch, die göttliche Haltung nachzuahmen, führte zur Überwindung der Tendenz, sich nur auf die Nächsten zu beschränken: »Das Erbarmen eines Menschen gilt seinem Nächsten, das Erbarmen des Herrn aber gilt allen Lebewesen« (Sir 18,13).

60 Im Neuen Testament findet das Gebot des Hillel einen positiven Ausdruck: »Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten« (Mt 7,12). Dieser Aufruf ist universal, er strebt danach, alle zu umfassen, allein wegen ihres Menschseins; denn der Allmächtige, der himmlische Vater »lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten« (Mt 5,45). Und folglich wird verlangt: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!« (Lk 6,36).

61 Die Motivation, das Herz so weit zu machen, dass es den Fremden nicht ausschließt, ist schon in den ältesten Texten der Bibel zu finden. Sie lässt sich auf die beständige Erinnerung des jüdischen Volkes zurückführen, dass es als Fremder in Ägypten gelebt hat:

»Einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen« (Ex 22,20).

»Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid im Land Ägypten Fremde gewesen« (Ex 23,9).

»Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen« (Lev 19,33–34).

»Wenn du in deinem Weinberg die Trauben geerntet hast, sollst du keine Nachlese halten. Sie soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. Denk daran: Du bist in Ägypten Sklave gewesen« (Dtn 24,21–22).

Im Neuen Testament ertönt nachdrücklich der Aufruf zur brüderlichen bzw. geschwisterlichen Liebe:

»Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« (Gal 5,14).

»Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht und in ihm gibt es keinen Anstoß. Wer aber seinen Bruder hasst, ist in der Finsternis« (1 Joh 2,10–11).

»Wir wissen, dass wir aus dem Tod in das Leben hinübergegangen sind, weil wir die Brüder lieben. Wer nicht liebt, bleibt im Tod« (1 Joh 3,14).

»Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht« (1 Joh 4,20).

62 Auch diese Einladung zur Liebe konnte falsch verstanden werden. Nicht von ungefähr ermahnte der heilige Paulus seine Jünger, angesichts der Versuchung der ersten Gemeinden, geschlossene und isolierte Gruppen zu bilden, Liebe zueinander »und zu allen« (1 Thess 3,12) zu üben; und in der Gemeinde des Johannes forderte man, die Brüder gut aufzunehmen, »sogar [die] Fremden« (3 Joh 5). Dieser Zusammenhang hilft, den Wert des Gleichnisses Jesu vom barmherzigen Samariter zu verstehen: Für die Liebe ist es unerheblich, ob der verletzte Bruder von hier oder von dort kommt. Denn es ist »die Liebe, die die Ketten sprengt, die uns isolieren und trennen, indem sie Brücken schlägt; Liebe, die es uns möglich macht, eine große Familie zu bilden, in der wir uns alle zu Hause fühlen […]; Liebe, die nach Mitgefühl und Würde schmeckt«.56

Der Verlassene

63 Jesus erzählt, wie ein verwundeter Mann am Wegesrand auf dem Boden lag, weil er überfallen worden war. Mehrere Menschen gingen an ihm vorbei und blieben nicht stehen. Es waren Menschen mit wichtigen Stellungen in der Gesellschaft, die aber die Liebe für das Gemeinwohl nicht im Herzen trugen. Sie waren nicht in der Lage, einige Minuten zu erübrigen, um dem Verletzten zu helfen oder zumindest Hilfe zu suchen. Einer blieb stehen, schenkte ihm seine Nähe, pflegte ihn mit eigenen Händen, zahlte aus eigener Tasche und kümmerte sich um ihn. Vor allem hat er ihm etwas gegeben, mit dem wir in diesen hektischen Zeiten sehr knausern: Er hat ihm seine Zeit geschenkt. Sicherlich hatte er sein Programm für jenen Tag, entsprechend seiner Bedürfnisse, seiner Aufgaben oder seiner Wünsche. Aber er ist fähig gewesen, angesichts dieses Verletzten alles beiseite zu legen, und ohne ihn zu kennen, hat er ihn für würdig befunden, ihm seine Zeit zu schenken.

64 Mit wem identifizierst du dich? Diese Frage ist hart, direkt und entscheidend. Welchem von ihnen ähnelst du? Wir müssen die uns umgebende Versuchung erkennen, die anderen nicht zu beachten, besonders die Schwächsten. Sagen wir es so, in vieler Hinsicht haben wir Fortschritte gemacht, doch wir sind Analphabeten, wenn es darum geht, die Gebrechlichsten und Schwächsten unserer entwickelten Gesellschaften zu begleiten, zu pflegen und zu unterstützen. Wir haben uns angewöhnt wegzuschauen, vorbeizugehen, die Situationen zu ignorieren, solange uns diese nicht direkt betreffen.

65 Eine Person wird auf der Straße überfallen, und viele laufen weg, als hätten sie nichts gesehen. Oft gibt es Menschen, die jemanden mit dem Auto anfahren und fliehen. Es ist ihnen nur daran gelegen, Probleme zu vermeiden; es interessiert sie nicht, ob durch ihre Schuld ein Mensch stirbt. Dies aber sind Zeichen eines verbreiteten Lebensstils, der sich auf verschiedene, vielleicht auch subtilere Weisen zeigt. Da wir alle zudem sehr auf unsere eigenen Bedürfnisse bezogen sind, ist es uns lästig, jemanden leiden zu sehen; es stört uns, weil wir keine Zeit wegen der Probleme anderer verlieren wollen. Dies sind Symptome einer kranken Gesellschaft, die versucht, in ihrem Leben dem Schmerz den Rücken zuzukehren.

66 Besser ist es, nicht in dieses Elend zu verfallen. Betrachten wir das Modell des barmherzigen Samariters. Dieser Text lädt uns ein, unsere Berufung als Bürger unseres Landes und der ganzen Welt, als Erbauer einer neuen sozialen Verbundenheit wieder aufleben zu lassen. Es ist ein immer neuer Ruf, obwohl er als grundlegendes Gesetz in unser Sein eingeschrieben ist: dass die Gesellschaft sich aufmacht, das Gemeinwohl zu erstreben, und von dieser Zielsetzung her ihre politische und soziale Ordnung, ihr Beziehungsnetz und ihren Plan für den Menschen immer wieder neu gestaltet. Mit seinen Gesten hat der barmherzige Samariter gezeigt, dass »die Existenz eines jeden von uns an die der anderen gebunden ist: das Leben ist keine verstreichende Zeit, sondern Zeit der Begegnung«.57

67 Dieses Gleichnis ist ein aufschlussreiches Bild, das fähig ist, die grundlegende Option hervorzuheben, die wir wählen müssen, um diese Welt, an der wir leiden, zu erneuern. Angesichts so großen Leids und so vieler Wunden besteht der einzige Ausweg darin, so zu werden wie der barmherzige Samariter. Jede andere Entscheidung führt auf die Seite der Räuber oder derer, die vorbeigehen, ohne Mitleid zu haben mit den Schmerzen des Menschen, der verletzt auf der Straße liegt. Das Gleichnis zeigt uns, mit welchen Initiativen man eine Gemeinschaft erneuern kann, ausgehend von Männern und Frauen, die sich der Zerbrechlichkeit der anderen annehmen. Sie lassen nicht zu, dass eine von Exklusion geprägte Gesellschaft errichtet wird, sondern kommen dem gefallenen Menschen nahe, richten ihn auf und helfen ihm zu laufen, damit das Gute allen zukommt. Zugleich weist uns das Gleichnis auf bestimmte Verhaltensweisen von Menschen hin, die nur auf sich selbst schauen und sich nicht um die unabdingbaren Erfordernisse der menschlichen Realität kümmern.

68 Die Erzählung – sagen wir es deutlich – liefert keine Lehre abstrakter Ideale und beschränkt sich auch nicht auf die Funktionalität einer sozialethischen Moral. Sie zeigt uns eine oft vergessene wesentliche Charakteristik des menschlichen Seins: Wir sind für die Fülle geschaffen, die man nur in der Liebe erlangt. Es ist keine mögliche Option, gleichgültig gegenüber dem Schmerz zu leben; wir können nicht zulassen, dass jemand ›am Rand des Lebens‹ bleibt. Es muss uns so empören, dass wir unsere Ruhe verlieren und von dem menschlichen Leiden aufgewühlt werden. Das ist Würde.

Eine Geschichte, die sich wiederholt

69 Diese Geschichte ist einfach und linear, enthält jedoch die ganze Dynamik des inneren Kampfes, die mit der Entfaltung unserer Identität einhergeht, in jeder Existenz auf dem Weg zur Verwirklichung menschlicher Geschwisterlichkeit. Einmal auf dem Weg, treffen wir unvermeidlich auf verletzte Menschen. Heute gibt es immer mehr verletzte Menschen. Die Inklusion oder die Exklusion des am Wegesrand leidenden Menschen bestimmt alle wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder religiösen Vorhaben. Jeden Tag stehen wir vor der Wahl, barmherzige Samariter zu sein oder gleichgültige Passanten, die distanziert vorbeigehen. Und wenn wir den Blick auf die Gesamtheit unserer Geschichte und auf die ganze Welt ausweiten, sind wir oder waren wir wie diese Gestalten: wir alle haben etwas vom verletzten Menschen, etwas von den Räubern, etwas von denen, die vorbeigehen, und etwas vom barmherzigen Samariter.

70 Es ist interessant, wie die Unterschiede zwischen den Gestalten der Erzählung vollständig verwandelt werden angesichts des qualvollen Ausdrucks des gefallenen und gedemütigten Menschen. Es gibt keine Unterscheidung mehr zwischen dem Bewohner von Judäa und dem von Samaria, es gibt weder Priester noch Händler; es gibt einfach zwei Arten von Menschen: jene, die sich des Leidenden annehmen, und jene, die um ihn einen weiten Bogen herum machen; jene, die sich herunterbücken, wenn sie den gefallenen Menschen bemerken, und jene, die den Blick abwenden und den Schritt beschleunigen. In der Tat fallen unsere vielfältigen Masken, unsere Etikette, unsere Verkleidungen: Es ist die Stunde der Wahrheit. Bücken wir uns, um die Wunden der anderen zu berühren und zu heilen? Bücken wir uns, um uns gegenseitig auf den Schultern zu tragen? Dies ist die aktuelle Herausforderung, vor der wir uns nicht fürchten dürfen. In den Augenblicken der Krise stehen wir sozusagen vor einer bedrängenden Alternative: Wer in diesem Moment kein Räuber ist bzw. distanziert vorbeigeht, ist entweder verletzt oder trägt auf seinen Schultern einen Verletzten.

71 Die Geschichte des barmherzigen Samariters wiederholt sich: Es wird immer deutlicher, dass die soziale und politische Unbekümmertheit viele Orte der Welt zu trostlosen Straßen macht, wo innere und internationale Auseinandersetzungen sowie Gelegenheitsplünderungen viele Ausgestoßene am Straßenrand liegen lassen. In seinem Gleichnis stellt Jesus keine Alternativwege vor, wie zum Beispiel: Was wäre aus diesem schwerverletzten Menschen oder seinem Helfer geworden, wenn Zorn oder Rachegelüste in ihren Herzen Raum gefunden hätten? Jesus vertraut auf die bessere Seite des menschlichen Geistes und ermutigt ihn mit dem Gleichnis, sich an die Liebe zu halten, den Leidenden wieder einzugliedern und eine Gesellschaft zu aufzubauen, die dieses Namens würdig ist.

Die Personen

72 Das Gleichnis beginnt mit den Räubern. Der Ausgangspunkt, den Jesus wählt, ist ein schon geschehener Überfall. Er lässt uns nicht lange über das Vergangene klagen; er lenkt unseren Blick nicht auf die Räuber. Wir kennen sie. Wir haben in der Welt die dunklen Schatten der Verwahrlosung, der Gewaltanwendung aufgrund von schäbigen Machtinteressen, von Gier und Konflikten anwachsen gesehen. Die Frage könnte lauten: Lassen wir den Verletzten liegen, um uns in Sicherheit zu bringen oder um die Räuber zu verfolgen? Können wir angesichts des Verletzten unsere unversöhnlichen Spaltungen, unsere grausame Gleichgültigkeit, unsere internen Auseinandersetzungen noch rechtfertigen?

73 Weiter lässt uns das Gleichnis eindeutig einen Blick auf die richten, die vorbeigehen. Diese gefährliche Gleichgültigkeit, nicht anzuhalten – mehr oder weniger unschuldig –, ist die Frucht der Geringschätzung oder einer betrüblichen Zerstreutheit, und macht aus dem Priester und dem Leviten nicht weniger traurige Spiegelbilder jener Absonderung von der Wirklichkeit. Es gibt viele Weisen des Vorbeigehens, die einander ergänzen. Eine besteht darin, sich auf sich selbst zurückzuziehen, sich nicht für die anderen zu interessieren, gleichgültig zu sein. Eine andere Weise wäre, nur woandershin zu schauen. Was diese letzte Weise des Vorbeigehens betrifft, gibt es in einigen Ländern oder in bestimmten Bereichen davon eine Geringschätzung der Armen und ihrer Kultur. Man schaut auf andere Länder, als ob ein von dort importiertes Projekt ihre Stelle einnehmen sollte. Dies kann die Gleichgültigkeit einiger erklären, denn jene, die ihr Herz mit ihren Bitten anrühren könnten, existieren für sie einfach nicht. Sie befinden sich außerhalb ihres Interessenhorizonts.

74 Bei jenen, die vorbeigehen, gibt es eine Besonderheit, die wir nicht übersehen dürfen: Sie waren religiöse Menschen. Mehr noch, sie widmeten sich dem Gottesdienst: ein Priester und ein Levit. Das ist eine besondere Bemerkung wert: Es weist darauf hin, dass die Tatsache, an Gott zu glauben und ihn anzubeten, keine Garantie dafür ist, dass man auch lebt, wie es Gott gefällt. Ein gläubiger Mensch mag nicht in allem treu sein, was der Glaube selbst erfordert, kann sich aber dennoch Gott nahe fühlen und sich für würdiger als die anderen halten. Es gibt hingegen Weisen, den Glauben so zu leben, dass er zu einer Öffnung des Herzens gegenüber den Mitmenschen führt, und dies ist Gewähr für eine echte Öffnung gegenüber Gott. Der heilige Johannes Chrysostomus hat diese Herausforderung für die Christen mit großer Klarheit zum Ausdruck gebracht: »Willst du den Leib Christi ehren? Dann übersieh nicht, dass dieser Leib nackt ist. Ehre den Herrn nicht im Haus der Kirche mit seidenen Gewändern, während du ihn draußen übersiehst, wo er unter Kälte und Blöße leidet«.58 Paradoxerweise können diejenigen, die sich für ungläubig halten, den Willen Gottes manchmal besser erfüllen als die Glaubenden.

75 Die ›Straßenräuber‹ haben für gewöhnlich als geheime Verbündete jene, die ›die Straße entlanggehen und auf die andere Seite schauen‹. Es schließt sich der Kreis zwischen jenen, welche die Gesellschaft ausnutzen und hintergehen, um sie auszuplündern, und jenen, die meinen, die Reinheit ihrer entscheidenden Funktion bewahren zu können, aber zugleich von diesem System und seinen Ressourcen leben. Es ist eine traurige Heuchelei, wenn die Straffreiheit von Verbrechen, die Nutzung von Institutionen zum persönlichen oder unternehmerischen Vorteil und andere Übel, die wir nicht ausrotten können, mit einer permanenten Disqualifizierung von allem, mit dem ständigen Säen von Misstrauen und Ratlosigkeit einhergehen. Der Täuschung des ›Alles geht schief‹ entspricht ein ›Keiner kann es richten‹ und ein ›Was kann ich schon machen?‹ Auf diese Weise nährt man Desillusionierung und Hoffnungslosigkeit, und dies stärkt weder die Solidarität noch die Großzügigkeit. Wenn man ein Volk mutlos macht, dann schließt sich ein wahrer Teufelskreis: So funktioniert die unsichtbare Diktatur der eigentlichen verborgenen Interessen, welche die Ressourcen beherrschen wie auch die Meinungsbildung und das Denken bestimmen.

76 Schauen wir zum Schluss auf den verletzten Menschen. Manchmal fühlen wir uns wie er, schwer verletzt und am Straßenrand auf der Erde liegend. Wir fühlen uns auch von unseren ohnmächtigen, schlecht ausgerüsteten Institutionen im Stich gelassen, die manchmal den Interessen einiger weniger von innen oder außen dienen. Denn »in der globalisierten Gesellschaft gibt es einen eleganten Stil, sich abzuwenden, der gegenwärtig praktiziert wird: Unter dem Deckmantel der politischen Korrektheit oder ideologischer Modeerscheinungen schaut man auf den Leidenden, ohne ihn zu berühren; er wird live im Fernsehen übertragen. Es wird sogar eine scheinbar tolerante Sprache voller Euphemismen benutzt«.59

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