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Konflikt und Angst

25 Kriege, Attentate, Verfolgungen aus rassistischen oder religiösen Motiven und so viele Gewalttaten gegen die Menschenwürde werden auf verschiedene Weise geahndet, je nachdem, ob sie für bestimmte, im Wesentlichen wirtschaftliche Interessen mehr oder weniger günstig sind. Etwas ist wahr, solange es einem Mächtigen genehm ist, und ist es dann nicht mehr, wenn es seinen Nutzen für ihn verliert. Solche Gewaltsituationen haben »sich in zahlreichen Regionen der Welt so vervielfältigt, dass sie die Züge dessen angenommen haben, was man einen ›dritten Weltkrieg in Abschnitten‹ nennen könnte«.23

26 Das verwundert nicht, wenn wir das Fehlen von Horizonten feststellen, die uns zur Einheit zusammenführen, weil in jedem Krieg letztlich »das Projekt der Brüderlichkeit selbst […], das der Berufung der Menschheitsfamilie eingeschrieben ist«, zerstört wird, denn »jede Bedrohung nährt das Misstrauen und fördert den Rückzug auf die eigene Position«.24 So schreitet unsere Welt in einer sinnlosen Dichotomie fort, mit dem Anspruch, »Stabilität und Frieden auf der Basis einer falschen, von einer Logik der Angst und des Misstrauens gestützten Sicherheit verteidigen und sichern zu wollen«.25

27 Paradoxerweise gibt es angestammte Ängste, die nicht vom technologischen Fortschritt überwunden worden sind. Sie haben sich vielmehr zu verbergen gewusst und vermochten sich hinter neuen Technologien zu potenzieren. Auch heute gibt es hinter den Mauern der alten Stadt den Abgrund, das Land des Unbekannten, die Wüste. Was von dort kommt, ist nicht vertrauenswürdig, weil man es nicht kennt, man nicht vertraut mit ihm ist, weil es nicht zum Dorf gehört. Es ist das Gebiet des ›Barbarischen‹, vor dem man sich verteidigen muss, koste es was es wolle. Folglich werden neue Schranken zum Selbstschutz aufgerichtet, sodass nicht mehr die eine Welt existiert, sondern nur noch die ›meine‹, bis zu dem Punkt, dass viele nicht mehr als Menschen mit einer unveräußerlichen Würde angesehen werden, sondern einfach zu ›denen da‹ werden. Von Neuem erscheint »die Versuchung, eine Kultur der Mauern zu errichten, Mauern hochzuziehen, Mauern im Herzen, Mauern auf der Erde, um diese Begegnung mit anderen Kulturen, mit anderen Menschen zu verhindern. Und wer eine Mauer errichtet, wer eine Mauer baut, wird am Ende zum Sklaven innerhalb der Mauern, die er errichtet hat, ohne Horizonte. Weil ihm dieses Anderssein fehlt«.26

28 Die Einsamkeit, die Angst und die Unsicherheit vieler Menschen, die sich vom System im Stich gelassen fühlen, lassen einen fruchtbaren Boden für die Mafia entstehen. Diese kann sich durchsetzen, weil sie sich als ›Beschützerin‹ der Vergessenen ausgibt, oft mittels verschiedener Arten von Hilfe, während sie ihre eigenen kriminellen Interessen verfolgt. Es gibt eine typisch mafiöse Pädagogik, die in einem falschen Gemeinschaftsgeist Bindungen der Abhängigkeit und der Unterordnung schafft, von denen man sich nur sehr schwer befreien kann.

Globalisierung und Fortschritt
ohne gemeinsamen Kurs

29 Mit dem Großimam Ahmad Al-Tayyeb verkennen wir nicht die positiven Fortschritte in der Wissenschaft, der Technologie, der Medizin, der Industrie und in der Wohlfahrt, besonders in den entwickelten Ländern. Nichtsdestoweniger »betonen wir, dass mit diesen großen und geschätzten historischen Fortschritten auch ein Verfall der Ethik im internationalen Handeln sowie eine Schwächung der geistlichen Werte und des Verantwortungsbewusstseins einhergehen. All dies trägt dazu bei, dass sich ein allgemeines Gefühl von Frustration, Einsamkeit und Verzweiflung ausbreitet. […] In Spannungsherden werden Waffen und Munition angehäuft, und dies geschieht in einer global von Unsicherheit, Enttäuschung, Zukunftsangst und von kurzsichtigen wirtschaftlichen Interessen geprägten Weltlage. Wir bekräftigen weiter, dass die heftigen politischen Krisen, die Ungerechtigkeit und das Fehlen einer gerechten Verteilung der natürlichen Ressourcen […] weitere Opfer hervorrufen und tödliche Krisen verursachen, denen mehrere Länder ausgesetzt sind, obwohl sie auf natürlichen Reichtum und die Ressourcen der jungen Generationen zählen können. Das internationale Schweigen angesichts dieser Krisen, die dazu führen, dass Millionen von Kindern aufgrund von Armut und Unterernährung bis auf die Knochen abmagern und an Hunger sterben, ist inakzeptabel«.27 Vor diesem Panorama finden wir, auch wenn uns der Fortschritt auf vielen Gebieten fasziniert, keinen wirklich menschlichen Kurs.

30 In der gegenwärtigen Welt nimmt das Zugehörigkeitsgefühl zu der einen Menschheit ab, während der Traum, gemeinsam Gerechtigkeit und Frieden aufzubauen, wie eine Utopie anderer Zeiten erscheint. Wir erleben, wie eine bequeme, kalte und weit verbreitete Gleichgültigkeit vorherrscht, Tochter einer tiefen Ernüchterung, die sich hinter einer trügerischen Illusion verbirgt, nämlich zu glauben, dass wir allmächtig sind, und zu vergessen, dass wir alle im gleichen Boot sitzen. Diese Enttäuschung, welche die großen geschwisterlichen Tugenden hinter sich lässt, führt »zu einer Art Zynismus. Das ist die Versuchung, der wir ausgesetzt sind, wenn wir diesen Weg der Ernüchterung oder Enttäuschung einschlagen. […] Die Isolierung und das Verschlossensein in sich selbst oder die eigenen Interessen sind nie der Weg, um wieder Hoffnung zu geben und Erneuerung zu bewirken, wohl aber die Nähe, die Kultur der Begegnung. Isolierung: nein; Nähe: ja. Kultur der Konfrontation: nein; Kultur der Begegnung: ja«.28

31 In dieser Welt, die keinen gemeinsamen Kurs erkennen lässt, atmet man eine Luft, in der »die Distanz zwischen der Obsession für das eigene Wohlergehen und dem geteilten Glück der Menschheit zuzunehmen scheint, so sehr, dass man vermuten könnte, dass mittlerweile ein richtiggehendes ›Schisma‹ zwischen dem Einzelnen und der menschlichen Gemeinschaft im Gange ist. […] Denn es ist eine Sache, sich zum Zusammenleben gezwungen zu fühlen, und eine andere Sache, den Reichtum und die Schönheit der Samen des gemeinsamen Lebens wertzuschätzen, die gemeinsam gesucht und gepflegt werden müssen«.29 Die Technologie macht ständige Fortschritte, doch »wie schön wäre es, wenn die Zunahme der Innovationen in Wissenschaft und Technik auch mit einer immer größeren Gleichheit und sozialen Inklusion einhergehen würde! Wie schön wäre es, wenn wir, so wie wir die Entdeckung neuer entfernter Planeten gemacht haben, die Bedürfnisse unseres Bruders und unserer Schwester wiederentdecken würden, die um uns kreisen«.30

Die Pandemien und andere Geisseln
der Geschichte

32 Eine globale Tragödie wie die Covid-19-Pandemie hat für eine gewisse Zeit wirklich das Bewusstsein geweckt, eine weltweite Gemeinschaft in einem Boot zu sein, wo das Übel eines Insassen allen zum Schaden gereicht. Wir haben uns daran erinnert, dass keiner sich allein retten kann, dass man nur Hilfe erfährt, wo andere zugegen sind. Daher sagte ich: »Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. […] Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser ›Ego‹ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene segensreiche gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind«.31

33 Die Welt bewegte sich unerbittlich auf eine Wirtschaft zu, welche mit Hilfe des technologischen Fortschritts die ›menschlichen Kosten‹ zu verringern suchte, und mancher maßte sich an, uns glauben zu machen, die Freiheit des Marktes würde ausreichen, um alles zu gewährleisten. Doch der harte und unerwartete Schlag dieser außer Kontrolle geratenen Pandemie hat uns notgedrungen dazu gezwungen, wieder an die Menschen, an alle zu denken anstatt an den Nutzen einiger. Heute sehen wir ein, dass »wir uns mit Träumen von Pracht und Größe ernährt und letztlich doch nur Ablenkung, Verschlossenheit und Einsamkeit gegessen haben; wir haben uns mit Connections vollgestopft und darüber den Geschmack an der Geschwisterlichkeit verloren. Wir haben schnelle und sichere Ergebnisse gesucht und fühlen uns beklommen vor Ungeduld und Unruhe. Als Gefangene der Virtualität ist uns der Geschmack und das Aroma der Realität abhandengekommen«.32 Der Schmerz, die Unsicherheit, die Furcht und das Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen haben, appellieren an uns, unsere Lebensstile, unsere Beziehungen, die Organisation unserer Gesellschaft und vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken.

34 Wenn alles miteinander verbunden ist, fällt es uns schwer zu glauben, dass diese weltweite Katastrophe nicht in Beziehung dazu steht, wie wir der Wirklichkeit gegenübertreten, wenn wir uns anmaßen, die absoluten Herren des eigenen Lebens und von allem, was existiert, zu sein. Ich möchte hiermit nicht sagen, dass es sich um eine Art göttlicher Strafe handelt. Ebenso wenig kann man behaupten, dass der Schaden an der Natur am Ende die Rechnung für unsere Übergriffe fordert. Es ist die Wirklichkeit selbst, die seufzt und sich auflehnt. Es kommen uns da die berühmten Verse von Vergil in Erinnerung, wo die Tränen der Dinge oder der Geschichte heraufbeschworen werden.33

35 Wir vergessen aber schnell die Lektionen der Geschichte, der »Lehrerin des Lebens«.34 Ist die Gesundheitskrise einmal überstanden, wäre es die schlimmste Reaktion, noch mehr in einen fieberhaften Konsumismus und in neue Formen der egoistischen Selbsterhaltung zu verfallen. Gott gebe es, dass es am Ende nicht mehr ›die Anderen‹, sondern nur ein ›Wir‹ gibt. Dass es nicht das x-te schwerwiegende Ereignis der Geschichte gewesen ist, aus dem wir nicht zu lernen vermocht haben. Dass wir nicht die älteren Menschen vergessen, die gestorben sind, weil es keine Beatmungsgeräte gab, teilweise als Folge der von Jahr zu Jahr abgebauten Gesundheitssysteme. Dass ein so großer Schmerz nicht umsonst war, dass wir einen Sprung hin zu einer neuen Lebensweise machen und wir ein für alle Mal entdecken, dass wir einander brauchen und in gegenseitiger Schuld stehen. So wird die Menschheit mit all ihren Gesichtern, all ihren Händen und all ihren Stimmen wiedererstehen, über die von uns geschaffenen Grenzen hinaus.

36 Wenn es uns nicht gelingt, diese gemeinsame Leidenschaft für eine zusammenstehende und solidarische Gemeinschaft wiederzuerlangen, der man Zeit, Einsatz und Güter widmet, wird die weltweite Illusion, die uns täuscht, verheerend zusammenbrechen und viele dem Überdruss und der Leere überlassen. Im Übrigen sollte man nicht naiv übersehen, dass »die Versessenheit auf einen konsumorientierten Lebensstil – vor allem, wenn nur einige wenige ihn pflegen können – nur Gewalt und gegenseitige Zerstörung auslösen kann«.35 Das ›Rette sich wer kann‹ wird schnell zu einem ›Alle gegen alle‹, und das wird schlimmer als eine Pandemie sein.

Ohne menschliche Würde an den Grenzen

37 Sowohl in einigen populistischen politischen Regimen als auch in liberalen wirtschaftlichen Kreisen vertritt man die Ansicht, dass man die Ankunft von Migranten um jeden Preis vermeiden müsse. Gleichzeitig wird argumentiert, dass man die Hilfen für arme Länder beschränken soll, damit diese den Tiefstand erreichen und sich entschließen, Maßnahmen für effektive Einsparungen zu ergreifen. Man merkt aber nicht, dass solchen abstrakten, schwer aufrechtzuerhaltenden Behauptungen so viele zerstörte Existenzen gegenüberstehen. Viele flüchten vor Krieg, vor Verfolgungen und Naturkatastrophen. Andere sind mit vollem Recht auf der Suche »nach Chancen für sich und ihre Familien. Sie träumen von einer besseren Zukunft und wollen die Voraussetzungen dafür schaffen, damit diese wahr wird«.36

38 Leider werden manche »von der Kultur des Westens angezogen und brechen mit teils unrealistischen Erwartungen auf, die schwer enttäuscht werden können. Skrupellose Menschenhändler, die oft mit Drogen- und Waffenkartellen in Verbindung stehen, nutzen die Schwäche von Migranten aus, die auf ihrem Weg immer wieder mit Gewalt, Menschenhandel, psychischem und physischem Missbrauch und unsagbarem Leid konfrontiert werden«.37 Diejenigen, die emigrieren, »erleben die Trennung von ihrem ursprünglichen Umfeld und oft auch eine kulturelle und religiöse Entwurzelung. Der Bruch betrifft auch die Gemeinschaften am Herkunftsort, die ihre stärksten Mitglieder mit der größten Eigeninitiative verlieren, sowie die Familien, insbesondere wenn ein oder beide Elternteile emigrieren und ihre Kinder in ihrem Herkunftsland zurücklassen«.38 Folglich muss auch »das Recht nicht auszuwandern – das heißt, in der Lage zu sein, im eigenen Land zu bleiben – bekräftigt werden«.39

39 Obendrein »lösen in einigen Ankunftsländern Migrationsphänomene Alarm und Ängste aus, die oft für politische Zwecke angeheizt und missbraucht werden. Auf diese Weise verbreitet sich eine fremdenfeindliche Mentalität, man verschließt sich und zieht sich in sich selbst zurück«.40 Die Migranten werden als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen. Daher müssen sie ihre eigene Rettung selbst in die Hand nehmen.41 Niemand wird behaupten, dass sie keine Menschen sind, in der Praxis jedoch bringt man mit den Entscheidungen und der Art und Weise, wie man sie behandelt, zum Ausdruck, dass man ihnen weniger Wert beimisst, sie für weniger wichtig und weniger menschlich hält. Es ist nicht hinnehmbar, dass Christen diese Mentalität und diese Haltungen teilen, indem sie zuweilen bestimmte politische Präferenzen über fundamentalste Glaubensüberzeugungen stellen. Die unveräußerliche Würde jedes Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion ist das höchste Gesetz der geschwisterlichen Liebe.

40 »Die Migrationen werden ein grundlegendes Element der Zukunft der Welt darstellen«.42 Heute werden sie jedoch »mit dem Verlust jenes Sinns für brüderliche Verantwortung, auf dem sich jede Zivilgesellschaft gründet«,43 konfrontiert. Europa beispielsweise läuft ernsthaft Gefahr, diesen Weg zu beschreiten. Immerhin besitzt es, »unterstützt durch sein großes kulturelles und religiöses Erbe, die Mittel […], um die Zentralität der Person zu verteidigen und um das rechte Gleichgewicht zu finden in seiner zweifachen moralischen Pflicht, einerseits die Rechte der eigenen Bürger zu schützen und andererseits die Betreuung und die Aufnahme der Migranten zu garantieren«.44

41 Ich kann nachvollziehen, dass manche gegenüber den Migranten Zweifel hegen oder Furcht verspüren. Ich verstehe das als Teil des natürlichen Instinkts der Selbstverteidigung. Es ist jedoch auch wahr, dass eine Person und ein Volk nur dann fruchtbar sind, wenn sie es verstehen, die Öffnung gegenüber den anderen in sich selbst schöpferisch zu integrieren. Ich lade dazu ein, über diese primären Reaktionen hinauszugehen, denn »das Problem ist, dass diese unsere Denk- und Handlungsweise so weit konditionieren, dass sie uns intolerant, verschlossen und vielleicht sogar – ohne dass wir es merken – rassistisch machen. Und so beraubt uns die Angst des Wunsches und der Fähigkeit, dem anderen […] zu begegnen«.45

Die Täuschung der Kommunikation

42 Während verschlossene und intolerante Haltungen, die uns von den anderen abschotten, zunehmen, verringert sich oder verschwindet paradoxerweise die Distanz bis hin zur Aufgabe des Rechts auf Privatsphäre. Alles wird zu einer Art Schauspiel, das belauscht und überwacht werden kann. Das Leben wird einer ständigen Kontrolle ausgesetzt. In der digitalen Kommunikation will man alles zeigen, und jeder Einzelne wird zum Objekt von oftmals verborgenem Interesse, das ihn bespitzelt, entblößt und in die Öffentlichkeit zerrt. Die Achtung vor dem anderen bröckelt, und auf diese Weise – gerade wenn ich ihn verdränge, ihn nicht beachte und auf Distanz halte – kann ich ohne irgendeine Scham bis zum Äußersten in sein Leben eindringen.

43 Auf der anderen Seite bilden die zerstörerischen Hassgruppen im Netz – wie manche uns glauben machen möchten – nicht eine geeignete Plattform gegenseitiger Hilfe, sondern sind reine Vereinigungen gegen einen Feind. Ja, »durch digitale Medien besteht die Gefahr, dass Nutzer abhängig werden, sich isolieren und immer stärker den Kontakt zur konkreten Wirklichkeit verlieren, wodurch die Entwicklung echter zwischenmenschlicher Beziehungen behindert wird«.46 Es bedarf der körperlichen Gesten, des Mienenspiels, der Momente des Schweigens, der Körpersprache und sogar des Geruchs, der zitternden Hände, des Errötens und des Schwitzens, denn all dies redet und gehört zur menschlichen Kommunikation. Die digitalen Beziehungen, die von der Mühe entbinden, eine Freundschaft, eine stabile Gegenseitigkeit und auch ein mit der Zeit reifendes Einvernehmen zu pflegen, geben sich nur den Anschein einer Geselligkeit. Sie bilden nicht wirklich ein ›Wir‹, sondern verbergen und verstärken gewöhnlich jenen Individualismus, der sich in der Fremdenfeindlichkeit und in der Geringschätzung der Schwachen ausdrückt. Die digitale Vernetzung genügt nicht, um Brücken zu bauen; sie ist nicht in der Lage, die Menschheit zu vereinen.

Aggressivität ohne Scham

44 Während die Menschen in ihren behaglichen Konsumgewohnheiten verharren, gehen sie gleichzeitig ständig vereinnahmende Bindungen ein. Dies fördert das Aufwallen ungewöhnlicher Formen von Aggressivität, von Beschimpfungen, Misshandlungen, Beleidigungen, verbalen Ohrfeigen bis hin zur Ruinierung der Person des anderen. Dies geschieht mit einer Hemmungslosigkeit, die bei einem Zusammentreffen von Angesicht zu Angesicht nicht in der gleichen Weise vorkommt, weil wir uns sonst am Ende gegenseitig zerfleischen würden. Die soziale Aggressivität findet auf Mobilgeräten und Computern einen Raum von noch nie dagewesener Verbreitung.

45 So wurde es möglich, dass die Ideologien jede Scham fallenließen. Was bis vor wenigen Jahren von niemandem gesagt werden konnte, ohne dass man seinen Ruf vor der ganzen Welt gefährdet hätte, das kann heute in aller Grobheit auch von Politikern geäußert werden, ohne dafür belangt zu werden. Man darf nicht übersehen, »dass in der digitalen Welt gigantische wirtschaftliche Interessen am Werke sind, die ebenso subtil wie invasiv Kontrolle ausüben und Mechanismen schaffen, mit denen das Gewissen und demokratische Prozesse manipuliert werden. Viele Plattformen funktionieren so, dass sich im Endeffekt häufig nur Gleichgesinnte begegnen und eine Auseinandersetzung mit Andersartigem erschwert wird. Diese geschlossenen Kreise erleichtern die Verbreitung von falschen Informationen und Nachrichten und schüren Vorurteile und Hass«.47

46 Wir müssen zugeben, dass von solchem Fanatismus, der zur Zerstörung anderer führen kann, auch religiöse Menschen – Christen nicht ausgeschlossen – befallen sind, die »über das Internet und die verschiedenen Foren und Räume des digitalen Austausches Teil von Netzwerken verbaler Gewalt werden [können]. Sogar in katholischen Medien können die Grenzen überschritten werden; oft bürgern sich Verleumdung und üble Nachrede ein, und jegliche Ethik und jeglicher Respekt vor dem Ansehen anderer scheinen außen vor zu bleiben«.48 Was aber tragen sie so zu der Geschwisterlichkeit bei, die unser gemeinsamer Vater uns vor Augen stellt?

Information ohne Weisheit

47 Die wahre Weisheit beinhaltet die Begegnung mit der Wirklichkeit. Heute jedoch kann man alles herstellen, verbergen und verändern. Das führt dazu, dass man die direkte Begegnung mit den Grenzen der Wirklichkeit nicht erträgt. Folglich führt man einen ›Auswahl‹-Mechanismus durch und macht es sich zur Gewohnheit, das, was einem gefällt, sofort von dem, was einem nicht gefällt, das Attraktive vom Unliebsamen, zu trennen. Nach der gleichen Logik wählt man die Menschen aus, mit denen man die Welt teilen will. So werden Menschen oder Situationen, die unsere Empfindsamkeit verletzt haben oder uns unangenehm waren, heute einfach in den virtuellen Netzen eliminiert. Auf diese Weise bilden wir einen virtuellen Kreis, der uns von der Umgebung, in der wir leben, isoliert.

48 Sich hinsetzen, um einem anderen zuzuhören, ist charakteristisch für eine menschliche Begegnung und stellt ein Paradigma einer aufnahmebereiten Haltung dar. Damit überwindet ein Mensch den Narzissmus; er heißt den anderen willkommen, schenkt ihm Aufmerksamkeit und nimmt ihn in der eigenen Gruppe auf. Dennoch »ist die Welt von heute mehrheitlich eine taube Welt […]. Manchmal hindert uns die Geschwindigkeit der modernen Welt, die Hektik, daran, einem anderen Menschen gut zuzuhören. Wenn er in der Mitte seiner Wortmeldung ist, unterbrechen wir ihn schon und wollen ihm antworten, obwohl er noch nicht zu Ende gesprochen hat. Man darf die Fähigkeit zuzuhören nicht verlieren. [Der heilige Franziskus] hat der Stimme Gottes zugehört, er hat der Stimme des Armen zugehört, er hat der Stimme des Kranken zugehört, er hat die Stimme der Natur vernommen. All das verwandelt er in einen Lebensstil. Ich hoffe, dass der Samen des heiligen Franziskus in allen Herzen heranwachse«.49

49 Wenn es kein Schweigen und Zuhören mehr gibt und alles in ein schnelles und ungeduldiges Tippen und Senden von Botschaften verwandelt wird, setzt man diese Grundstruktur einer weisen menschlichen Kommunikation aufs Spiel. Man schafft einen neuen Lebensstil, bei dem man das herstellt, was man vor sich haben will. Dabei schließt man alles aus, was man nicht flüchtig und augenblicklich kontrollieren oder erkennen kann. Diese Dynamik verhindert aufgrund ihrer inneren Logik ein ruhiges Nachdenken, das uns zu einer menschlich vermittelbaren Weisheit führen könnte.

50 Wir können gemeinsam die Wahrheit im Dialog suchen, im ruhigen Gespräch oder in der leidenschaftlichen Diskussion. Das ist ein Weg, der Ausdauer braucht und auch vom Schweigen und Leiden geprägt ist. Er ist in der Lage, geduldig die umfangreiche Erfahrung der Menschen und Völker zusammenzubringen. Die erdrückende Fülle von Information, die uns überschwemmt, bedeutet nicht mehr Weisheit. Weisheit entsteht nicht durch ungeduldiges Nachforschen im Internet und auch nicht durch eine Ansammlung von Information, deren Wahrheitsgehalt nicht erwiesen ist. Auf diese Weise reift man nicht in der Begegnung mit der Wahrheit. Die Gespräche kreisen am Ende nur um die neuesten Daten und sind schlicht ein oberflächlicher Wortschwall. Man schenkt aber dem Eigentlichen des Lebens keine eingehende Aufmerksamkeit und dringt nicht zu ihm vor, man erkennt nicht, was das Wesentliche ist, um der Existenz Sinn zu verleihen. So wird die Freiheit eine Illusion, die uns verkauft wird und die mit der Freiheit, vor einem Bildschirm zu surfen, verwechselt wird. Das Problem besteht darin, dass ein Weg der Geschwisterlichkeit, im Kleinen wie im Großen, nur von freien Geistern beschritten werden kann, die zu wirklichen Begegnungen bereit sind.

860,87 ₽
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231 стр. 3 иллюстрации
ISBN:
9783843613149
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