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Читать книгу: «Vineta», страница 6

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Sie suchte ihr Zimmer und verwunderte sich über das kalte Aussehen und den Rost der Waffen. Und mußte hinaus.

Sie wankte in den Garten.

Eine hohe dichte Schlehenhecke, sauber ausgewinkelt und rechteckig verschnitten, umgab die alten Baumgruppen gleich einem Dornröschenreich. Klein Ruth hatte im Hintergrunde gehaust; auf die dicken Apfelbaumstämme waren mit Bleistift gleich über dem Erdboden Menschenköpfe ausgemalt mit riesigen Ohren und Schlitzmäulern voll Leitersprossen als Zähne. Der Stift lag noch daneben. Hermine hob ihn auf, um ihn in den Laden zurückzutragen. Sie verweilte widerwillig bei den Fratzen und schürte das Mißbehagen an den ungeschickten Linien durch genaues Betrachten. Dann ging sie zurück durch den verwachsenen Stachelbeergang bis zur Gruppe der Pappeln, von denen links der Brunnen lag und rechts eine Bank und ein Tisch im Lichten standen. Sie nahm Platz.

Ruth spielte unter den Pappeln. Dagott hatte ihr durch den Rumpf eines der alten Schiffe von Bruno Pfeiffer her Löcher bohren müssen, sie ließ den Sand hindurchrinnen, es wuchsen zehn Kegel zu gleicher Zeit.

Hermine blinzte mit eingesogener Oberlippe nach Ruth hinüber, dann vor sich her. Von einer Pappel, die sie mit Elisabeth besonders gern erstiegen hatte, breitete sich der Schatten quer über den Tisch auf sie zu. Matt faßte sie seinen Umriß mit blauen Linien ein und schrieb die Anfangsbuchstaben ihres Namens ganz weich hinein. Ja, sie mußte immer im Dunkel bleiben, und es war noch nicht einmal das schwarze Paradies. Sie beobachtete wiederum Ruth und das lecke Schiff von Elisabeths Bruder her. Warum haßte sie eigentlich Bruno Pfeiffer? Konnte sie ihm nicht wirklich die Hand reichen, da die beiden anderen schönen Männer sie verschmähten?

Zum erstenmal gestand sie sich ihre Liebe zu Hugo Winterlicht und Edwin Maßholder ein, die sie bei Grelert zu verstehen noch nicht gerüstet war, und verzieh das Wort von der Wünschelrute, doch nicht das Lächeln. Darum scheute sie sich, wieder zu Grelert zu gehen. Es hatte sie an allem zweifelhaft gemacht, das Lächeln, etwas wie Hohn hatte darin gelegen. Es stieg samt den wächsernen Zügen, der spitzigen Nase und den schnurgeraden Brauen des Totengräbers aus den Winkeln, zwischen den Stäben des Treppengeländers auf. Sie kannte es aus der Vergangenheit, die jetzt wiederum mit flackernder Unsicherheit, mit verletzter Scham durchmustert zu werden heischte.

Lange träumte sie, dann stand sie auf, weil der Sonnenschein zu sehr auf die Stirn brannte. Doch sie wandte sich freudig erstaunt noch zurück und setzte sich zögernd. Der Pappelschatten war aus seinem Gehege entschlüpft, und ihr Name leuchtete im köstlichsten Lichte zwischen den beiden blauen Strichen. Nun wiederholte sie das Spiel der Sonnenuhr mit kindlichem Lächeln. Ruth sah sie an, trat hinzu, blickte, die Hände auf dem Rücken, über den Tisch und fragte. – „Die Sonne wandert,“ erklärte Hermine und wies auf den flüchtigen Schatten, aber ihr wurde zugleich bange, weil die Zeit so dahinraste, sie nur mit einem kleinen Spiel ermunterte und inzwischen näher zur Nacht führte. Die Tage hasteten leer, ließen betrügerische Leidenschaften aufflammen und waren schon weiter als der entfernteste Stern.

Als sie wieder in die Stube kam, traf sie die Eltern über einem Briefe von Edwin Maßholder. Er schrieb, daß er die Rückkehr auf seinen Administratorposten bis zum Stadtjubiläum zu verschieben beabsichtige und Dagott bäte, ihm sowie seinen Eltern Plätze zu den Vorführungen im Festsaal der Ölkannengasse zu besorgen. Er grüße alle herzlich und besonders seine Spielkameradin, die hoffentlich recht wacker mittun werde.

Hermines Herz hüpfte. Unbedingt mußte sie hinaus aus den dumpfen Mauern, sie mußte ihn sehen, sie mußte vor ihm Reigen tanzen! Die große Sonne sorgte mit an ihrem Glück, sie drehte ihren Namen aus dem Schatten!

Dagott sagte: „Er wird sich sehr über seine träge Spielgefährtin wundern.“

„Laß es nun!“ warnte ihn Frau Katharina scharf.

Doch Hermine, nur die Lider senkend, kehrte Dagott flehende Mienen zu, obwohl er sie ärgerlich träge genannt hatte. Daß er ihr die Beteiligung doch noch einmal anböte! Tat er es nicht, so wollte sie ihn bitten, sagte er, es sei zu spät, wollte sie bei ihm betteln. Allein er fragte:

„Willst du wirklich nicht bei dem Reigen mitwirken, Hermine? Sieh doch, unsere liebe Stadt ist ebenso wie meine auch deine Welt; ein Plätzchen mußt du dir darin erobern.“

„Wenn ich durchaus —“ begann Hermine, verbesserte ihre Worte jedoch tief errötend: „Ich werde im Reigen mitwirken.“

Kaum konnte sie es hinhauchen, denn diese Zustimmung und die Überlegung, daß sie unter Umständen hätte bitten und betteln können, zerbrach sie wie eine Demütigung.

Aber in ihrer winterlichen Seele ging ein Morgenrot auf. Sie eilte in ihr Gemach und überließ Vater und Mutter der Freude und Hoffnung, die große Tochter werde doch immer einsichtiger.

Auf der Treppe schlug sie die Hände gefaltet am Hinterkopf zusammen. Ihre Augen glänzten süß. Im Zimmer aber schnellte sie in einem phantastischen Tanz hin, wirbelte sich wild herum und faßte anmutig ihr Kleid. Daß sie in einem Saale hauste, war heute eben recht.

Nach zwei Tagen traf die Nachricht ein, der junge Richter Hugo Winterlicht sei mit der Abhaltung der Gerichtstage in seiner Vaterstadt betraut worden und werde unmittelbar nach den bevorstehenden öffentlichen Feierlichkeiten seine Amtsgeschäfte beginnen. „Also auch er wird bei meinem Tanze zugegen sein,“ jubelte Hermines ganze Seele. Dieses Bewußtsein band ihre frohen Gedanken – denn die vergrätzten waren verschwunden – zusammen wie ein Taftband eine bunte Garbe Blumen.

Die Proben zu dem Reigen fanden in ihrem Zimmer statt, weil es das größte unter den verfügbaren war. Die Frau Bürgermeister Pfeiffer leitete die Aufführung nach einem dafür verschriebenen Büchlein. Es handelte sich um eine allegorische Darstellung. Eintracht, Fleiß, Friede, Ordnung, Treue, Fröhlichkeit und Gottseligkeit in entsprechenden Trachten drückten durch gemeinsame Auftritte und Sondervereinigungen das Blühen der Stadt und die Beziehungen wichtiger Bürgertugenden zueinander aus. Für Hermine hatte man gemäß ihrem stillen Wesen und ihrem kasteiten Gesichtsausdruck die Rolle der Gottseligkeit ausersehen. Sie und die anderen Figuren nähten eine jegliche ihr Gewand. Die Stoffe hatte Dagott als Inhaber eines Tuchgeschäftes gespendet und ließ sie von sehr weit her kommen.

Hermine sollte einen lichtblauen Mantel mit weiten Ärmeln und grünen Kreuzen auf Rücken und Brust tragen. Lange und hartnäckig hatte sie an dem zu Hugo Winterlicht am Brunnen gesprochenen Wort über ihr Nähen gehangen und dahinein anfangs ihre Lust und ihre Schmerzen wie in ein Gebet gelegt, dann hatte sie es zu gebrauchen sich geschämt, weil es nichtig klang. Jetzt aber drängte es sie, einmal laut gleich einer frommen Formel auszusprechen: „Wenn etwas so Schönes entsteht, nähe ich für mein Leben gern“, und entsetzte sich, wie läppisch es sich auch diesmal anhörte …

Lehrer Karp kam öfter nachsehen, wie weit ihre Arbeit schon vorgerückt sei. Er bog sich mit freundlichem Gesicht über den Tisch und verfolgte einige Minuten lang jeden ihrer Stiche. Sie sah ihn jetzt gern an ihrer Seite lächeln, erklärte ihm willig die Bestimmung der einzelnen blauen Tuchstücke und brach selber oft in ein zierliches Lachen aus, das sich anhörte, als hüpfte ein Silberbecher eine Steintreppe schnell herunter, und das immer heller ward, bis es gleichsam erstickte. Nur hatte es mit der sprechenden Altstimme angenehmem Schillern zwischen Glanz und Sprödigkeit nichts gemein.

Siebentes Kapitel


Der Tag des fünfhundertjährigen Jubiläums lag im Spätsommer. Eine dicke Schwüle füllte die Stadt bis in das verschwiegenste Gemach. Nachmittags reihten sich die Teilnehmer am Umzuge vor dem Rathause auf, um langsam durch die Straßen passierend wieder dorthin zurückzukehren. Die Bürger hatten die Seiten der Feststraßen dichtgedrängt eingenommen. Voran auf einem großen, mit sechs Pferden bespannten Wagen zogen die sieben allegorischen Jungfrauen, dann folgten Vereine und Innungen in bunten Gewändern und mit gestickten Fahnen.

Hermine umspannte mit etwas kindlicher Würde ihren langen, gewichtigen Hirtenstab, den sie erst abends zu dem froheren Reigen ablegen sollte. Sie halte zwar weder Edwin Maßholder noch Hugo Winterlicht bisher gesprochen oder gesehen, aber es war ja gewiß, daß ihre Gesichter unter denen der unzähligen Zuschauer auch steckten und zu ihr emporsahen. Darum strömte während des ganzen Zuges eine holdselige Milde in ihr. Sie hielt das unbedeckte Haupt leicht geneigt. Viel Sonne lag im dichten braunen Haar, so daß das nackte Weiß der hohen, etwas gewölbten Stirn einen ernsten Gegensatz dazu bildete, und so lieblich geschwungen, so hastig beinahe die Wangen in ihrem unteren Teile sich dem Kinn zuspitzten, das Gesicht behielt etwas von madonnenhafter Unnahbarkeit. Das Irdischste war die kleine, gerade, an der Wurzel vielleicht etwas zu starke Nase. Von der Seele verrieten die Züge wenig: das Fleisch war zu dicht unter der gespannten Haut gelagert, als daß sie sich hätte hineinfüllen können. – Wenn die Sonnenstrahlen dieses Gesicht schief und voll beleuchteten, war es, als badeten sie es nicht, sondern brächen vor seinem stillen Frost ab. Alle Flächen darin blieben fast stumpf, wenn nicht die traurigen Augen von ihrer Lieblichkeit soviel verspendet hätten, daß man ihr Leben im Umkreis aufmerksamer suchte. Sie schauten einmal flüchtig zu den Pappeln auf dem Kirchhofe hinweg, von unten her. Da blühte aus dem Braunen ein wundervoll heller Ernst, und als sich der Blick wiederholte, schien er sich zu bescheiden und in ihm lag eine Empfindung: von unten her …

Als man abends in das Lokal der Ölkannengasse eingekehrt war, setzte sich Hermine zuerst heiter genug mit Eltern und vielen Bekannten an denselben Tisch. Sie legte sogar ihren Arm um den Hals anderer junger Mädchen und freute sich über die Federhüte und gestreiften Gewänder der herumsitzenden Handwerker.

Doch wachsende Unruhe machte sie schweigsamer und zuletzt stumm. Begrüßten Hugo Winterlicht und Edwin Maßholder sie nicht? Waren sie nicht da? Sie mußten doch gekommen sein. Jede anschwimmende Erklärung ihres etwaigen Fernseins wies sie trotzig ab, die Rede ihres Blutes war ein goldenes: jaja oder ein ehernes: nein.

Sie erhob sich und spähte in den ganzen Räumen nach den beiden Vermißten. Auch im Garten streifte sie herum. Das summende Gespräch und Gekicher ringsum mutete sie nun unerquicklich an. Sie ganz allein stak unter diesen vielen Zufriedenen in Drangsal. Sie schämte sich, wenn man ihr nachsah, als ob man erriete, was sie treibe. Als sie in das obere Stockwerk empor gestiegen war, machte sie sich Vorwürfe, daß sie den Männern nachlaufe. Und doch, pfui über diese Vorwürfe! Durfte sie nicht suchen? Zu hell brannte in ihr das Verlangen, ihren Jugendgefährten gegenüber zu sitzen oder gar, jeden treu an einer Hand gefaßt, vor der Tür zu lustwandeln.

Schließlich sah sie wie gehetzt umher, ging immer schneller und drängte sich mit gramvollen Gebärden zwischen plaudernden Gruppen hindurch. Sie drückte sogar die Leute mit den Händen beiseite und entschuldigte sich nicht, sondern bohrte sich nur weiter.

Die anderen allegorischen Jungfrauen kamen ihr endlich nach und fragten, was sie suche. Sie schüttelte mit dem Kopfe, wollte nicht hören und eilte weiter. Da die sechs aber folgten und schon viele Augen ihr nachsahen, warf sie in einer leeren Bodenkammer die Tür hinter sich zu und verriegelte sich.

Sie trat ans Fenster. Im Hintergrunde zogen Gewitterwolken auf.

Sie summte verlegen vor sich hin. Kein Zweifel: weder Hugo noch Edwin war da!

Nach einer Viertelstunde zog sie ganz behutsam den Riegel wieder zurück. Sie löste ihr Haar und steckte es etwas anders auf, damit man drunten sähe, was sie in ihrer Abwesenheit getrieben.

Äußerlich ruhiger setzte sie sich an den Tisch der Eltern. Aber sie brach ihr Brot und wußte es nicht, und bald schwatzte sie viel. Man sollte ihre Worte emporflattern sehen wie Vögel, die ins Blaue schießen, und sie glichen Blättern, die zu Boden taumeln. Ihrem Lachen war Anstrengung und Zerstreutheit anzumerken. Und sie nahm schnell genug den halb spöttischen, halb erstaunten Ausdruck des auf den Arm gestützten Gesichtes der jungen Friederike Turtel wahr und ward dadurch verletzt. Manchmal erschrak die Mutter sichtlich über ihre Bemerkungen und zuckte. Sie wandte darum kaum noch die Augen von ihr, redete eifriger und verriet ihre Bewegung um so mehr, je gleichgiltiger die Erörterungen waren. Achtzehn rote Federhüte habe sie gezählt, meinte sie, und nahm nicht Notiz, daß man von einem Ausfluge sprach. – Die Fahnen habe man schon in einen Winkel gelehnt. Auf dieses letzte hörte keiner mehr. Sie würgte hastiger am trockenen Brot und bildete sich ein, man habe sich während ihrer Abwesenheit verabredet, ihr zu ihrer Schonung keine Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Feindseligkeit, die beim neulichen Zurückziehen in ihr gewaltet, begann wieder Jegliches in ihre kalten Strudel zu reißen. Sie wollte kein Glied dieser Gesellschaft sein.

Sie hatte nach Edwin Maßholder und Hugo Winterlicht gelechzt und wurde von ihnen verschmäht. – Wie heftig sie sich durch den Schwarm zu ihnen gewühlt, wie sie das lichtblaue Kleid ihnen zu Ehren genäht und getragen, sich hoffend berauscht, und alles umsonst! Das durften sie nie wissen! Und doch, wenn es ihnen jemand ins Ohr raunen könnte mit totenhaft geigender Mückenstimme! – Wie sie sich zurechtgetüftelt: Richtig, ich muß aus dem Haus gehen; die lieben Männer werden keine so zurückgezogen Lebende leiden mögen! Wie sie geglaubt: Ich werde ihren Dank gewinnen, wenn ich ihnen entgegensteige, da sie doch nicht immer meine Schwelle aufsuchen können! Wenn es ihnen jemand ins Ohr fiedelte und: Glühende Brüste sind euch entblößt! – O, wenn ihr jemand ins Ohr sagte: Törichte, dreimal Törichte!

Sie bestieg das Podium zur Aufführung. Hätte ich einen Schlaftrunk, mich zu bemeistern, wünschte sie und schmeichelte unglaubwürdig auf sich ein. Der Tanz sollte eine neue Begrüßung der guten, schnöde geflohenen Bürgerschaft sein. Sie zeigte sich wieder und würde gern willkommen geheißen werden. Zudem nahte jetzt ein Moment, in dem sie sich als Darstellerin der Gottseligkeit aus dem Alltag erhob. Keinesfalls also erniedrigte sie sich, wenn sie vor den Leuten unten sich bewegte, sie schritt an ihrer Spitze!

Ohne jede Musik bewegten sich die Füße der Sieben, und die Sandalen tönten nur bisweilen dumpf auf den Brettern.

Nein, wozu Selbstbetörung! dachte Hermine weiter. Sie tanzte mit blutendem Herzen. Sie tanzte mit zuckenden Lippen. Ein Clown im Circus stellte sich doch wenigstens um des Geldverdienstes willen zur Schau – und sie? Wie lächerlich war es, sich in die Händekette der übrigen sechs einzufügen und vor Gaffern im Kreise zu schreiten!

Ein ferner Donner rollte in des Saales Schweigen hinein. Starke Stille blieb zurück und schien zu lauschen.

Die Gottseligkeit schaute finster in die Rundbogen der hohen Fenster. Blitze vom Glanze frisch geschnittenen Bleis huschten unheimlich da draußen. Das Laub im Winde rauschte einen gleichmäßigen geisterhaften Gesang. Gewalt, Gewalt, nahende Gewalt! Selbst der krüppelige Birnbaum im Gasthausgarten schien gewaltgeschwellt aufzuleben; es zuckte hinter ihm, als blitzte er selber aus seinen Ästen heraus. Ein Krieg in grellen Farben tobte näher. Seine Grausamkeit und Weihe durchrauschte Hermine. Was waren ihr noch die Narren da unten mit den nickenden Federbüschen!

Sie drehte leise den Hals hin und her, der sich ruckweis in den Wirbeln schob.

Alle süßen Samen der Sehnsucht, seit Jahren in inneren Speichern aufgeschichtet, konnten ihre brache Fruchtbarkeit nicht länger halten und trieben gewaltige Keimranken.

Mit einmal ging die Gottseligkeit etwas zu langsam. Die anderen Tugenden zerrten sie. Unbegreiflich, wie es kam, sie sträubte sich. Jene bemühten sich nur einen Augenblick, damit die Unregelmäßigkeit nicht auffalle, und schlängelten dann ihren Zickzack weiter. Gottseligkeit blieb stehen und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Es traf sich, daß gerade eine Figur ausgeschritten war und die Tänzerinnen eine kleine Pause lang stillstanden, um den vorgeführten Teil vom nächsten abzuheben. Die meisten Zuschauer hatten, mit dem Inhalt der Pantomime nicht vertraut, Hermines Verfehlung kaum gemerkt. Waren sie doch, selbst soweit sie im Orte wohnten, mit ihrem Wesen noch immer nicht bekannt, bis auf den kleinen Kreis, der neulich das Gerede angefacht hatte. So brach in der Pause ein herzlicher Beifall los. Hermine stand noch wie vorhin, in einem Tumulte des Herzens schwelgend und kämpfend.

Nun faßte sie das Händeklatschen als gleisnerische Milde auf, mochte sich nicht unverdient bemitleiden lassen und knirschte mit den Zähnen.

Der Reigen ging weiter. Sie breitete noch einmal unsicher ihre Arme den Gefährtinnen zu, doch drehte sie sich sogleich rasch um, stieg die Stufen hinunter und durchbrach die Reihen der Anwesenden, um das Freie zu gewinnen. Einige jener, die sich schon früher keck gegen sie gezeigt hatten, begannen ihr nachzuklatschen und lachten, andere zischten diese dafür an und geboten Schweigen, die meisten machten überraschte Gesichter und wandten sich Hermine zu.

Nun verstand sie das erste Klatschen noch besser! Sie stieß einen röchelnden kurzen Laut aus, wie man aus schwerem Schlafe ruft. Während sie durch die Straßen hastete, suchte sie absichtlich diesen Laut mehrfach zu bilden, wie um zu erproben, ob sie noch reden könne und um sich von erschöpftem Versinken in Schmerz abzulenken. Sie ging sehr schnell, weil sie die Mutter, die sich im Saale erhoben hatte, auf ihren Fersen vermutete. Zu laufen wagte sie nicht, da die ängstliche Erinnerung an ihre Flucht vor ein paar Wochen sie mit solchem Gruseln durchkitzelte, daß sie die völlige, gespenstische Gleichheit zu vermeiden trachtete und in blöden Gedanken dahinschritt. Ihr Elend hatte nichts als die künstlich tierischen Laute: alle Organe schienen verflucht.

Das Gewitter war nördlich vorübergezogen, doch seine Vorboten Sturm und Regen, die einen Seitensprung in die Stadt gemacht, hatten die Schwüle zerteilt. Die Luft roch ein wenig nach Ozon.

Hermine beruhigte sich zu Hause nicht. In der Küche stürzte sie einen Topf Wasser herunter und befeuchtete sich die Schläfen. Dann eilte sie mit dem Becher in den Garten bis auf die Seite, wo der angetrübte Graben vorüberfloß. An der Stelle, wo Wolfsmilch und ähnliche Gewächse aufzuschießen pflegten, bemühte sie sich durch die Schlehdornhecke zu langen, allein des Grabens Ufer war etwas abgeböscht, und so bedurfte es vieler Anstrengung und brachte Schrammen, den Arm bis an das flüssige Pfauenauge herabzustrecken. Wie mit Geißeln gehetzt, arbeitete Hermine in den Dornen und achtete des stachligen Dickichts nicht. Schließlich konnte sie den Becher in das trübe Wasser tauchen. Sie trank das Geschöpfte zitternd herunter.

Sie glaubte sich vergiftet und gewann infolge der Ermüdung Ruhe, ja Besonnenheit wieder.

Sie hing doch als dankbarer Gast am Leben und ging sehr bekümmert durch den Garten, an der Hecke entlang, schmiegte die Wange ans Haus und empfand es als köstliche Gnade, Abschied zu nehmen. Die Bäume dufteten frisch und die Sträucher, über denen im Frühling Blüten wie eine Decke warmen Schnees flimmerten. – Und sie begann, den Asterbeeten zu Liebe an der Wirkung des Tranks zu zweifeln und war in wenigen Minuten von seiner Unschädlichkeit überzeugt.

Sie zündete in ihrem Saal die Lampe an und brütete, die Stirn auf den Tisch gedrückt, bis sie das Gefühl hatte, als müsse sie kopfüber in grundlose Tiefen stürzen. Da erhob sie sich, sah ihr lichtblaues Gewand, blickte um sich, flüsterte frierend: „Hugo! Edwin!“ und schickte sich eben an, Teile aus dem Reigen für sich selbst zu tanzen, als sie die Haustür gehen hörte.

Die Mutter kam, ungewissen, doch schnellen Schrittes, und hob ihr vergrämt das Kinn empor. Hermine zwang sich zu heiteren, kollektiven Worten. Sie habe es schlecht gemacht und nichts weiter. Sie plauderte haschend von Einzelheiten des Festes, wie wenn ein Ertrinkender schalkisch nach Mücken über der Flut griffe, um sich über die Notwendigkeit des Unterganges zu täuschen. Die Mutter möge nur zurückkehren …

Aber die wich nicht von ihr und tat, als kenne sie nichts Schöneres als eine fernab dem kreischenden Festlärm in einsamem Gemach verträumte Stunde. Die große Hermine mußte sich sogar auf ihren Schoß setzen und Frau Katharina erzählte ihr, mit der einen Hand langsam tupfend auf dem Tisch trommelnd, aus dem Leben der Großmutter von bewegten Jahren, aber in abgeklärter Ruhe, in überredendem Ton, und besänftigte Hermine so lange, bis nichts mehr in ihr zuckte. Die Vergegenwärtigung der ungewohnten Lage und die Tapferkeit der Frau lenkten ab, gängelten. „Nun haben wir unser Schlummerlied gesungen,“ warb zuguterletzt Frau Katharina unter flehendem Lachen. Hermine setzte sich danach neben sie auf den Stuhl und beide schwiegen lange Zeit. Ähnliches hatte Hermine noch nicht erlebt, und sie wollte es der Mutter nicht vergessen …

Dagott trat ein. Er brachte Ruth, die, seit sie dem Säuglingsalter entwachsen war, das obere Zimmer mit Hermine teilte und nun zu Bett gehen mußte. Dagott redete in vielfacher Weise auf Hermine ein. Zuletzt hielt er mit fürstlicher Würde, als stünde er im höheren Geschoß eines Palastes und kehre sich gnädig zu vielem Volk, eine Art Ansprache:

„Meine liebe gute Tochter, du hast in meine warme Hand meistens eine kalte gelegt. Du bist immer so einsam gewesen. Was soll denn einmal aus dir werden auf der Welt! Du stehst im neunzehnten Lebensjahr und wirst das vierte Lustrum binnen kurzem vollendet haben. – Ich habe mich mit meinen guten Freunden besprochen. Sie meinen, du mußt irgend einen nahen Anschluß finden. Dies ist auch meine Ansicht und war es schon weit früher. Ich denke aber, durch eine glückliche Ehe ist dies Ziel am sichersten zu erreichen. Meine – süße Hermine, meistens hört die Jugend in deinem Alter davon mit Erröten reden, aber wir wollen doch vernünftig sein, nicht wahr? Ich habe nun den Plan gefaßt, dir Gelegenheit zu geben, mit sämtlichen jungen Männern unserer Stadt in näheren Verkehr zu treten. Einladungen werde ich ergehen lassen und so weiter. Sämtliche jungen Männer, das heißt natürlich: solche, die nach unserem Stande in Betracht kommen können. Du sollst eine völlig freie Wahl treffen und brauchst dich keineswegs zu übereilen, um so weniger, als – du – augenblicklich – wohl – nicht in höchster Gunst stehen dürftest. Wir wollen recht unauffällig zu Werke gehen, damit wir beide, wenn du – so Gott will – glücklich geworden bist, uns – über unsere – beiderseitige – Anstelligkeit – heimlich – die Hände schütteln können.“

Obwohl Hermine auch nach der Ehe verlangte, stießen sie diese Worte ab wie ein völliges Mißverstehen ihrer innersten Wünsche. Alle Wundenmale öffneten sich. Sie sah junge Menschen sich vor ihr affenhaft verbeugen oder in die Hände klatschen. Holte Edwin oder Hugo sie jetzt doch und ersparte ihr eine lange Reihe von Peinlichkeiten! Wen hatte sie mehr lieb? Sie wollte Dagott anschreien: „Schaff mir einen von ihnen. Schaff sie mir beide!“ Keiner mochte sie. Durch ihr heutiges Ausbleiben taten sie ihre Gleichgiltigkeit kund. Mußte es ja zugegeben werden, gut: sie konnten zwar Gründe haben, daß sie ausblieben, aber sie verzehrten sich nicht wie sie, sie liebten nicht auf Tod und Leben.


In der Nacht erwachte sie aus wüsten Träumen. Die feurigen Abbilder irgend welcher Fenster ruhten groß vor ihr, im Winkel zwischen Decke und Wand schief gebrochen. Heimkehrende Festteilnehmer hatten sich Licht gemacht. Es kreuzten auch dunklere Bewegungen durch die Abbilder.

Hermine drehte sich zornig ab, weil die fremde Welt sich dicht bis an ihre Träume stahl und horchte und das Dunkel um ihren Schlaf störte. Zwei gekreuzte Morgensterne und zwischen ihnen ein Schwert blinkten im Hellen. Die hätte sie gern ergriffen und auf leidige Rücken geschwungen!

Ziemlich spät erschien sie am Morgen im Hinterstübchen Dagotts. Er hielt Ruth auf dem Knie und ließ sie reiten. Als er Hermine eintreten sah und sie ihn sofort um sein Buch von den Schweizerkämpfen, wo so viel von Morgensternen die Rede sei, bat, ließ er mit einem honigsüß gesungenen „Hopphopp“ Ruth zu Boden gleiten. „Ja, mein liebes Kind,“ sagte er und schien die Bitte ganz deutlich als persönliche Annäherung aufzufassen.

Hermine zauste den ganzen Vormittag an seinem Hopphopp herum und konnte nur die Bilder betrachten. Die bunte Wildheit, wo sich Pferde in riesigen Staubwolken bäumten, gefiel ihr wohl.

Wie müde schienen ihr dagegen die mageren Gäule, welchen sie spät nachmittags begegnete, als sie bald hoffend, bald verzweifelnd die Anhöhen hinter der Stadt zum Walde hinanstieg. Schwerfällig gingen die Tiere im Acker und bliesen elend die Nüstern. Die gelben Saatkörner waren in den Boden geflogen, und nun rollten die schweren Walzen langsam darüber hin. „Du schläferndes Schaustück!“ dachte Hermine schwermütig. „Ich möchte einen feurigen Schimmel besitzen wie der Feldherr in dem alten Buch, und einen Wetterhahn und einen Orkan wünschte ich mir! Dann wüßte ich meine lustigen Fahrten.“

So aber wollte sie mit ihren Träumen hoch auf den Hügeln, hoch in den Wäldern bis abend wandern, zwischen Blumen und Tieren. Sie hatte Ehrfurcht vor den Seelen der Vögel und Bäume, darum war ihr unter den Arbeiten die liebste die Sorge für den Garten. In der Dämmerung und ersten Sternenstunde bewegte sie sich oft in seinen Gängen.

Sie schritt mit warmem Wind hinan. Von weitem sah sie die Bäume sich wie rötliche Sprudel regen, die immer aus sich selbst zu gleicher Höhe entwachsen. Näher sah es aus, als ob Kupfermünzen an den Zweigen schaukelten und gleichsam nach einem Zwiegespräch mit Erdgeistern in haderndem Stoß als Verfall zu Boden geworfen wurden.

Dann trat sie in die Vorhalle des Waldes, ein Hägchen dünner junger Stämme. Da lag das Sonnenlicht des Verdämmerns auf den Rinden wie ein dicker gelber Plüsch, überall stark aufgetragen köstlich müdes Licht, während in dem abgesteckten Bezirke sich eine Stimmung ausbreitete, von der sie nicht sagen konnte, ob der Schatten oder die Ruhe ihre Ursache war.

Wohl die Ruhe! Denn die Schatten wirkten ein paar Schritte weiter ganz anders. Duftige Schwere staute sich schwarz zwischen Stamm und Stamm. Das Schwarze schmiegte sich dicht an ihren Fuß, an ihre Brust. an ihre Stirn. Es übermannte sie das Gefühl, durch ein Etwas zu wandeln, das plötzlich versteinernd erstarren und sie einer späten Nachwelt als hohlen Abdruck aufbewahren könnte, und sie ward beklommen.

Aber schau! Noch strahlte drüben zwischen schwarzen Stämmen der Himmel wie ein einziger Diamant, eine halbe Elle hoch und zwei breit. Blaue Stauden standen in seinen Feuern und verbrannten doch nicht. Hermine erschauerte mit den Baumkronen. Das krause Dickicht berührte fast ihren Scheitel. Da oben schliefen tausend Lebensfünkchen in Vögeln und Käfern dicht bei dicht, in ihr wurden tausend wach und fuhren stoßend durcheinander.

Sie ging immer weiter und kam auf eine Waldwiese, über deren Rand sich der Azur wie ein endloser Turm in die Ewigkeit aufreckte. Sie sah im Geist eine weiße Wendeltreppe schwindelnd empor. Und es wurden ihr an dieser Stelle, in dieser Stille viele Wahrheiten geschenkt, nicht solche, die an nachdenklichen Worten wie Greise an Krücken einherkommen, sondern sanftere, im Blut erklingend wie Musik.

Es wurde dämmerig, sie ging zurück, einen langen Blumenstengel in der Hand. Eine verhaltene Begier machte ihre Schritte schleichend. Sie kehrte noch nicht nach Hause. Es trieb sie, die Stadt zu durchschreiten, langsam, mit besonderer Lust quer über die Straßen hinweg. Im Lokal der Ölkannengasse sah sie sich selbst tanzen und die sechs anderen, im räucherigen Petroleumlicht. Sie ballte die Faust und suchte den See auf.

Die Wasser lagen schon eisern blaß zu ihren Füßen, die Fische hatten sich versteckt, spärliches Schlinggedürr und der gelbe Sand des Grundes tauchten deutlich auf, denn alle blendenden Sonnenflitter waren zurück in den Himmel geflogen. Ein duftender Atem ähnlich einem betäubenden Balsamtuch legte sich um Hermines Erregung. Sie folgte dem Bogen des Ufers, bis die Stadt im Hintergrunde lag. Hier fühlte sie sich königlich frei. Die Wasserfläche war einem spiegelnden Tanzsaal gleich. Nebelhaft sah sie auf ihr alle häßlichen, ängstenden Gestalten umschlungen. Hier eine Schweizerschlacht! Hei, da könnte man hineinreiten und alles auseinandersprengen und Eimer voll Wasser über die Köpfe gießen und Schwerter schwingen! – Doch das war alles Trugbild.

Aber wer doch mitten in jener Fläche stehen könnte, still, nichts als den Himmel über sich und die Flut um sich, vielleicht einen Blumenstengel in der Hand. O, jene Mitte war vom Ufer so weit, daß sie wohl kein Steinwurf erreichte! Dort wäre man noch freier und könnte alles abstreifen, beinah müßte man auch die Kleider abwerfen, zu zeigen, wie frei man war!

Hermine schlenderte nach dem anderen Teil des Sees hinüber, der von diesem durch eine Einsattelung gesondert war. Er war kleiner und minder schön. Sie kehrte zurück.

Ein Knecht nahte fern mit einem Zuge schöner Pferde, um sie in die Schwemme zu reiten. Hermine ging ihm entgegen, ihr Herz klopfte.

„Wessen Pferde sind das?“ fragte sie.

Der Knecht gab die Auskunft.

„Schöne Tiere sind’s,“ sagte sie und ging neben den Pferden mit, worüber sie der Mann verwundert betrachtete. „Schmucke Tiere,“ wiederholte sie. „Tun sie nichts? – Dann kann man ja wohl näher kommen.“

Sie klopfte einem Fuchs, der stattlich und leicht tänzelnd seinen Kopf aufwarf, den Hals.

„Wo reiten Sie hin?“

„Da in den See.“

Ihr Herz klopfte höher. „Sie müssen mich mitnehmen,“ sagte sie beinahe flüsternd.

Er lachte laut und ritt, ihren Wunsch nicht mehr beachtend, weiter.

Sie aber faßte ihn bei einem Stiefel und hielt ihn wütend fest.

„Was schadet es?“ lallte sie. „Weil Ihre Schwestern nicht reiten?“

Er ritt schon langsamer, doch da er nicht sofort hielt, preßte sie sein Bein an ihre Brust und wurde fast mitgeschleift. Am Rande des Wassers angelangt, hielt der Knecht und bemühte sich, sie derb abzufertigen. Sie zog jedoch Schuhe und Strümpfe ab wie er selbst und stellte sich vor ihn hin, als er wieder aufsteigen wollte. Alles ging sehr schnell.

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
145 стр. 10 иллюстраций
Правообладатель:
Public Domain

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