Читайте только на ЛитРес

Книгу нельзя скачать файлом, но можно читать в нашем приложении или онлайн на сайте.

Читать книгу: «Vineta», страница 8

Шрифт:

„Ich glaube wohl.“

„Dann ist es Grelert. Er spielt seine Harmonika.“

„Er wird die Fenster geöffnet haben.“

„Das tut er gern. – Der vorrückende Abend klärt den Schall.“

„Ich höre beinahe die Melodie eines Volksliedes.“

„Kommen Sie, wir wollen zu ihm gehen. Ich war ihm gram und muß mich jetzt mit ihm versöhnen.“

„Ich komme.“

Sie gingen selbander.

Als sie an der Tür des Totengräbers klopften, rief dieser drinnen, wahrscheinlich schon ahnend, daß Hermine draußen war: „Achachachach!“

Sie traten ein und blieben stumm an der Tür stehen. Die Stube war dunkel.

Grelert stutzte, spielte schnell eine Kadenz und humpelte ihnen dann entgegen. Er betrachtete sie aufmerksam, schien sorgfältig in ihren Augen zu lesen und haspelte unter seinem breiten Grinsen mit glücklicher Stimme hervor: „Hier darf man zur Verlobung Glück wünschen.“

Hermine entdeckte einen herzlichen Zug in Grelerts Lächeln und konnte nicht glauben, daß er spottete. Jetzt endlich hatte sie den Grund dieses Lächelns gefunden.

Sie widersprach nicht, Karp blieb ebenfalls stumm. Sie fühlte neben ihm alle umflorten Ereignisse ihres Lebens sich mehr angehören. Es war ein schmerzender Reichtum, an den sie gemahnt wurde, aber es lag doch Fülle des Herzens darin. Sie griff eine der ausgestreckten Hände Grelerts und faßte zu gleicher Zeit Karps Rechte. Karp reichte dem Totengräber nun die Linke.

Hermine sagte zu Grelert nur: „Jetzt wollen wir wieder gut miteinander sein.“

Er streichelte sie.

Dann sagte sie zu Karp leise: „Komm.“

Im Hausflur umschlang sie ihn und küßte seinen Mund.

„Wir müssen es nun der Mutter erzählen,“ bestimmte sie ernst.

Karp schwieg mit seiner Hermine und drückte ihr nur die Hand, während sie dem Hause Dagotts zueilten.

Dort erregten sie zunächst Befremden, dann aber die herzlichste Freude. Dagott küßte, wen er erwischte, und fuhr in der Stube umher wie ein chassierendes Orhoftfaß.

„Töchterchen!“ schrie er. „Sofort muß ich dir etwas schenken. Kommt, Kinder, zum Uhrmacher Winterlicht. Dort suchen wir Ringe aus und etwas extra. Und wenn wir ihn aus dem Schlaf trompeten müssen.“

Kein Sträuben half. Nur Frau Katharina blieb zu Hause.

Dagott rief auf den Markte: „Herrrr Nachbar Winterlicht! Machen Sie Licht im Laden!“

Bald konnten sie eintreten.

Während das Paar schwieg, war Dagott noch immer außer sich. „Meine Tochter hat sich verlobt. Wir möchten Ringe. Und dann verkaufen Sie mir ein Geschenk für Hermine. Sie hat mich glücklich gemacht. Meine liebe Tochter!“ Er küßte sie täppisch.

Winterlicht streckte beide Hände und wünschte Glück, etwas versonnen. „Das ist selten,“ sagte er. „Gerade am Todestag Ihrer Freundin finden Sie den Lebensgefährten.“

„Woher wissen Sie das Datum so genau?“ fragte Hermine beklommen.

„Das ist schön,“ fuhr Winterlicht in sinnendem Tone fort. „Schade, daß mein Sohn in dieser Stunde nicht mehr zugegen ist. Er würde sich über den Zufall auch wundern.“ Verändert sagte er dann: „Woher ich es weiß? – Ja, das hat seine Bewandtnis“

„Nun schön,“ sagte Dagott, „aber jetzt muß ich meiner Tochter zuerst etwas schenken.“

„Das hat seine Bewandtnis,“ sagte Winterlicht, „Wenn Sie etwas schenken wollen, so kaufen Sie mir eine feine Damenuhr ab, die ich Ihnen sogleich suchen werde. – Sehen Sie, dieser Uhr wegen weiß ich das Datum so genau. Erschrecken Sie nur nicht, weil ein schwarzes Kreuz auf dem Rücken eingraviert ist. Daran ist ein trauriges Lied schuld.“

„Dort unten in der Mühle!“ fiel Dagott listig ein.

„Woher wissen Sie das?“ fragte Winterlicht betroffen.

„Ich habe Sie damals singen hören,“ gab Dagott pfiffig zurück.

Hermine sah unterdessen umher, und das Aufsehen kam ihr vor wie ein Wagnis, denn sie sank in immer tiefere Kümmernis. Das mangelhafte Licht im Laden streifte viele blanke Gegenstände. Hier tickte es schwer, dort hüpfte das Pendel einen leichten Polkatakt. Drüben schlug es. Draußen unter der Himmelsglocke schmachtete eine solche Stille und hier drinnen schien geräuschvoll das Leben bemessen zu werden. Für Hermine tropften aus den Rädern Schicksale, das ihre vielleicht aus denen, die der Uhrmacher eben auszog. Zwar kamen ihr solche Empfinden nur dumpf ein: sie hatte bloß Vorstellungen von Glänzen und Blinken und von der Beweglichkeit dieses Glänzens und Blinkens und dazu von dem, was Winterlicht erzählte.

„Kaufen Sie mir das Ding ab, Herr Dagott, zur Erinnerung,“ sagte der zuletzt.

Hermine bat wehmütig und Dagott kaufte ihr die Uhr.

Dann trennte man sich. Als Hermine sich entkleidet hatte, stand sie noch lange im Bette. Der Mond war höher gestiegen. Die Welt lag wie unter Glas.

Hermine stand und fror.

Plötzlich taumelte sie rückwärts gegen die Wand und verletzte sich an den gekreuzten Morgensternen den Rücken. Sie tastete die Stacheln mit den Fingern ab und legte sich. Nun schlief sie bald ein und träumte, alles, was sie berühre, verwandle sich in vielspitzige Morgensterne.

Neuntes Kapitel


Die Ringe waren noch nicht gewechselt worden. Auf Hermines Wunsch sollte das erst am nächsten Nachmittage geschehen. Sie dachte bei dieser Abmachung daran, daß Edwin Maßholder dann zum letzten Male zu kommen versprochen hatte. Sie wollte mit Dagott und Karp solange im Gespräche sitzen, bis er einträte und die Ringe auf dem Tische liegen sähe. Dann wollte sie die Verlobung rückgängig machen und hoffte – — Aber als die Stunde näher kam, saß sie wie auf glühendem Roste! Würde Edwin sie heiraten, wenn sie den Lehrer zurückwies, nachdem schon Bruno Pfeiffer von ihr fortgeschickt war? Sie liebte ja auch Karp, ihren inneren Verwandten! Das war er doch? Wozu alle Sorge! So begann sie und spann sich dann verzweifelt tiefer und tiefer in Düsternis. Ihr ganzes Leben faßte sich ringend zusammen. Wozu hatte sie gelebt? Sie duldete wahre Seelenkrämpfe.

Endlich konnte sie es nicht mehr ertragen und stürzte in die Küche, wo Frau Katharina einen Imbiß bereitete; sie warf weinend ihren Kopf an die Mutterbrust und küßte der Erstaunten beide Hände. Frau Katharina streichelte ihr das Haar. Hermine tat sich das erschreckende Bewußtsein einer ungeheuren, unbesiegbaren Feigheit vor dem Bekenntnis auf und sie rang im stillen mit der Mutter um Verständnis. Ihr Hirn war auch zu voll und zu unklar, als daß sie hätte reden und erklären können. Ihre Not mußte nach ihrem Schweigen gedeutet werden. Dennoch ermannte sie sich und versuchte noch heftiger weinend zu sprechen.

Aber sie bemerkte auch in den Augen der Mutter Tränen und sah an deren Mienen, daß sie mißverstanden wurde. „Also bekennen, bekennen,“ schrie es in ihr. „Allein bleiben kann ich nicht mehr,“ dies war das einzige, was aus ihren wirren Gedanken zu Wort ward, was allem anderen gewaltsam vorausdrang. Der feste Glaube an eine unfaßbare, unbarmherzige Notwendigkeit warf sie fast ohnmächtig zu Boden. Die Mutter trocknete ihr die Tränen und sagte: „Hab keine Furcht. Komm.“

Sie gehorchte ohne Einspruch und Weigerung, nur der Abend des Jubiläums kam ihr ins Gemüt. Und Frau Dagott ergriff drinnen die Ringe, sagte: „Kommt, meine Kinder,“ und das Gold wurde um die Finger gelegt.

Hermine war nun wie zerbrochen, aber doch unendlich getröstet.

Als Edwin Maßholder kam, ließ sie Karps Hand nicht frei und nahm kurzen Abschied.

Nun folgte ihr eine Zeit des Nähens. Sie schaffte am Brautstaat. Sie mußte sich wacker gegen das Kinderwort vom Brunnen wehren, und während sie es in der Erinnerung unterdrückte und die herumgelagerten Ereignisse aufbaute, bildete sie sich ein, nicht daran zu leiden. War es ihr nicht, wie wenn sie sich mit jedem Stich selbst in die Haut stäche? Der Faden zog sich wie die ununterbrochene, dünne Trauer über alle Ränder. All das weiße Zeug dünkte sie Trauergewand, in das sie ihre blutwarmen Glieder einsperren wollte. Sie wartete und wartete auf einen Besuch, der fragen würde, ob sie glücklich bei ihrer Arbeit wäre: dann sollten sie hören, wie es in ihr aussähe. Aber der Besuch, zu dem sie offen zu reden die Kraft gehabt hätte, blieb aus, nur Teilnehmer vom fünfhundertjährigen Stadtjubiläum kamen, und sie ergrimmte dann wohl so, daß sie sich mit der Nadel in den Finger stach, um einen Grund zum Fortgehen zu haben.

Der Mutter vertraute sie. Doch was sollte sie ihr eigentlich klagen? Auf Hugo und Edwin und Bruno glaubte sie schon fest verzichtet zu haben, jedesmal wenn sie ihr gegenüber den Mund auftun wollte. Sie machte gewiß nur eine Zeit des Unbehagens durch und ahnte doch ein heilloses Verschrumpfen, ein Greiswerden ihrer Seele.

Und die Mutter war so lind. Der war die eigene schwere Entscheidung vor der zweiten Heirat lebendig geworden. Sie nahm sich vor, einmal mehr zu reden als sonst und der Tochter über den offenbar unsicheren Zustand möglichst zu helfen wie einer ungeübten Schlittschuhläuferin über einen See. Sobald sie einen fragenden Gedanken in Hermines Blicken gelesen hatte, gab sie nach bestem Gewissen in kargen Silben eine Antwort.

Hermines Seele wurde allmählich heller wie ein Prunkzimmer, in dem jemand nach wüsten Tanznächten mit dem Staubwedel umgeht. Und doch! – und doch …

Am Nachmittage ihrer öffentlichen Verlobungsfeier brach sie mit dem Bräutigam zu einem Spaziergange auf, unbekümmert, nur daß es in ihr nagend schwelte und ab und zu einen irrtanzenden Funken sprühte.

Es war nebelig, die Luft qualmte bis zum Himmel.

Sie gingen in den Wald: er war leerer und weiter und verlassener als sonst. Alles war weiß, wie von Silber überzogen.

Die beiden schwiegen.

Der Wald wies tausend gespenstische Verschlingungen seiner Zweige auf, selbst die dünnsten waren haarig bereift, Knäuel von langen, raupenartigen Würmern schienen hier erstarrt. Die Farben waren erloschen bis auf schwarz und weiß, höchstens leuchtete aus den dunklen Tiefen des Waldes einmal von der Erde ein schorfig rotes Blatt. Weiterhin dehnte sich schwarzes Herbstlaub wie abgeworfene Drachenhaut – alles tot! Hermine wußte nicht, warum das sie so anzog und warum sie doch so sehr verlangte zu rufen: „Es werde Leben!“

Sie ging mit Karp zurück über die Wiese und hätte es gern gehabt, wenn er ihren Arm genommen oder ihr wenigstens die Hand gegeben hätte.

Er schritt, von den grauweißen Nebeln kalt, nur ruhig neben ihr her und fürchtete sich fast vor ihr. Sie hatte heute etwas Riesiges an sich. Er schirmte sich vor ihr durch kleinliche Ausmalung des künftigen Lebens, sah ein artig eingerichtetes Stübchen im Mittagslichte liegen, während Fliegen über den blauen Himmel in den Fensterscheiben wie große Kühe krochen, hörte seine Frau in der Nebenstube mit Linnen rauschen, stellte sich vor, wie er morgens nach der Schule gehen würde und draußen fiel duftiger Schnee … Er suchte mehr zusammenhängend zu denken. Weil ihm zu seiner Pein lange nichts einfiel, begann er seine Zukunftspläne mit dem Aufstehen und füllte die Zeit bis wieder an den Morgen mit Alltagsgeschäften aus; ebenso rückte er nach den Jahreszeiten vor.

Hermine deuchte es, als wären sie schon sehr weit gegangen. Zehn Schritte wurden ihr zehn Meilen.

Auf der Wiese leuchteten die Doldengewächse silbern bereift wie winzige Puppenkandelaber, nur waren diese silbernen Kronleuchter so still. Kein Fünkchen glimmte auf ihren vielen Ästen.

Hermine träumte, durch viele Säle zu schreiten, – es mußten doch sehr viele Gemächer sein, wo so viele Leuchter angebracht waren, nur pilgerte es sich so totleise auf ihren Teppichen. Ein possierliches Völkchen müßte da wohnen und lachen und weinen und spazieren gehen und tafeln: – so war es eine wüste Stätte.

Aber sie war ja ein so langes Menschenkind, daß wohl zwanzig Ellchen im Liliputanermaß an ihren Körper hätten gelegt werden müssen, um ihn auszumessen. Ja, ihre Nase würde bis an die Wetterfahne eines Kirchturms reichen und könnte das Wetter vorausschmecken, dem die Fahne sich zudrehte.

Weil diese Welt viel zu winzig war, kam es ihr wiederum so vor, als wäre sie schon weit weggegangen – bis an das Ende ihres Lebens und fände nicht die rechte Fröhlichkeit. Dann starb sie, wurde wieder ein Kind, begann von vorn, und zwar mit rechter Herzenslust, und sah die Kronleuchter wie ein Ding ihrer Spielstube an: da kam ihr eine Lösung des Druckes.

Vor Wonneweh einer unaussprechbaren Erkenntnis blühte sie und wünschte Weihnachtslichter, ganz kleine, an die Schafgarben, und Weihnachtsfreuden, die sie nichts angingen, in die Stätte. Sie paßte nicht hinein, für sie war sie nicht geschaffen. – Welcher haftende, böse Beisinn nur quälte sie so wund! Reichte doch Karp die Hand!

Schweigend, wie sie fortgegangen, kam sie mit Karp zu Hause an.

Die Nebel wurden dicker, der Abend sank sehr früh.

Viele Gäste fanden sich ein. Hermine mochte keinen. Nur einen hatte sie froh geladen, und der fehlte unter ihnen, denn er war schon gestorben: Grelert. Sie zürnte darum fast mit den übrigen. In ihr glitt eine unsägliche Sehnsucht hin und her. Allmählich nahm dieselbe an Gewalt zu und wollte ihr jedes andere Gefühl zerknittern.

Über die Treibhausblumen, die man ihr zahlreich gebracht, konnte sich die Blumenfreundin nicht freuen.

Sie sprach nicht, sie antworte knapp, wenn sie gefragt wurde.

Man ordnete sich zur Abendmahlzeit in der großen Stube.

Hermine trieb es hinaus, ehe sie sich setzte. Sie umschritt im Garten ein Rondell. O, zu der Dunkelheit dieser erstickende naßkalte Nebel im ganzen Tal bis in den Himmel hinein!

Durch das Schlafzimmer wollte sie zurück. Sie verweilte dort. Viele der Blumen hatte man in Vasen gesetzt und hierher getragen. Matte Dämmerung von nebenan webte herein. Drüben summte das Gespräch, hier war niemand. Man hatte geraucht, der Qualm verhüllte im Zimmer alles. Über den Treibhausblumen lag er wie ein lebendiger blauer Schleier.

Hermine ging zu den Fenstern und öffnete sie.

Nun begann sich der Rauch zu ziehen und wogte wie die Tiefe eines Meeres. Sie stand mitten darin und sann und bemerkte Fische und Drachen von seltsamer Form rings umher. Ha, auch draußen wogten die Nebel wie ein grausiges Meer.

Zum Unglück fielen ihr frühere schwere Tage ihres Lebens ein und zum Unglück entdeckte sie in manchen Umständen tieferen Sinn und Vorbedeutung. Welche Mär hatte sie Elisabeth doch zuletzt erzählt! Was hatte sie Hugo Winterlicht am Brunnen gesagt: die drei, mit denen sie spielend ein Hochzeitsmahl gehalten, mit ihnen durfte sie es jetzt nimmer tun, sie waren ihr auf immer verloren. Jetzt würde sie mit Karp das Mahl teilen, und Stöcke saßen um den Tisch.

Sie wäre darüber fast zusammengebrochen und hielt sich am Bettpfosten.

Bleich setzte sie sich an die Tafel, wo man ihrer schon wartete.

Als die Gläser zusammenklirrten, meinte sie betäubt und schwindelig, Silberglocken würden einen vergessenen Ton geben, aber das Kristall lachte so hell wie Geigenmusik.

Und als Dagott in einer Rede das junge Paar feierte, umso lauter feierte, weil keine Zeitung seine Namen verkünde, und betonte, daß durch das Band der Ehe zwei Bürger fester an die Stadt gebunden sein würden, weinte sie innerlich: „Sie allesamt wissen nicht, woran sie sind. Ich muß mich gut hüten. – Hugo – Edwin!“ —


Damit war ihr Leben zu Ende, obwohl sie erst nach einem Jahre still verschied. Zwar hatte sie schon am nächsten Morgen die Torheit ihrer Untergangsgedanken erkannt, aber das Weh, welches mit ihnen verbunden gewesen war, blieb ungemindert ihr in der Brust. Der Schmerz um Hugo und Edwin erstarrte und fraß aus all ihrem Erleben das Mark. Es war schlaff, und sie hatte davon eine Witterung. Sie hatte sich vorgenommen zu leben, bis die böse Glut verkohlt wäre, aber die Glut verkohlte nicht, sonst wäre sie nicht so früh dahingewelkt. Sie gebar bis zum Tode kein Kind und hoffte nicht, noch jemand zu lieben. Erzählte Karp, der doch nicht geliebte, jetzt vom möglichen Zusammenstoß eines Kometen mit der Erde, so fürchtete sie sich. Sie ist durch manche bunten Tage hindurchgegangen, aber nur wie durch leise Zimmer, in denen Kränze von kleinen Flittern aufgehängt sind und kleine wehende Lichter, anmutig gereiht, mit geringen Finsternissen und Dämmerungen spielen, wo jedoch die Menschen schlafen oder stumm sind: hinter keiner Tür ward ihr Auge geblendet, hinter keiner fand sie eine endliche Ewigkeit. Ihre Kräfte faßten sich nie mehr berauschend zusammen und segneten sie mit dunklem Segen. Die Stärke ihrer Seele bröckelte ab wie morsches Weidenholz. Zuletzt sah sie nur noch mit inniger Rührung aus ihrem leichenbleich umrahmten Fenster schräg über dem Kirchhof, wie die Spätsonne gezogen kam bis an die Pappel neben dem Grabe ihrer kleinen Freundin und oben zwischen den beiden Hauptästen glitzernd ruhte wie zwischen zwei flehend erhobenen zitternden Armen. Aber der Schein blendete sie. Als die Bewegung des Landes raschelnder und seine Farbe rot wurde, gedachte sie zweier Michaelistage ihres Lebens, und es senkte sich auf sie wie ein Alp. Sie schüttelte den Kopf und dachte sich: „Daß ich Keule oder Morgenstern führen könnte!“ Dann verschloß sie sich wochenlang mit einer Handarbeit; sie häkelte, ihren frierenden Körper zu schützen, einen Kragen, den sie vor Brüten trotz mehrfachen Aufdröselns völlig verdarb. Und sie fror weiter, bis der Frost in ein Fieber überschlug. Lange hörte sie leise Glocken gehen, lächelte, sah auf ihre Hände – weiß! tastete über ihre Glieder, die sich wohltuend anfühlten wie weißer Sammt, begann plötzlich zu zittern, als fürchte sich sich, richtete sich starr in die Höhe, als wolle sie fliehen, schrie auf und fiel, als wären alle ihre Glieder zerschlagen, tot in die Kissen zurück. So ging das Sonntagskind hin …

Ende

Über den Autor

Oskar Loerke (13.3.1884 – 24.2.1941) war ein deutscher Dichter des Expressionismus und des Magischen Realismus.

Der in Jungen (Westpreußen) geborene Oskar Loerke studierte ab 1903 in Berlin Geschichte, Germanistik, Philosophie und Musik. 1906 brach er das Studium ab, im gleichen Jahr lernte er seine spätere Lebensgefährtin Clara Westphal kennen. Zwischen 1908 und 1912 unternahm er lange Reisen in Deutschland und Frankreich. Seine Erlebnisse dokumentierte er in ausführlichen Reisetagebüchern. 1909 traf er erstmals Moritz Heimann, Lektor des S. Fischer Verlags.

Als Schriftsteller trat er zuerst mit der Erzählung Vineta (1907) hervor. 1911 erschien sein erster Gedichtband. Loerke wirkte mit seinen formstrengen, von intensiver Bildlichkeit, Musikalität und mythischen Zügen geprägten Gedichten wegbereitend für die Naturlyrik. Mit 29 Jahren erhielt er 1913 den Kleist-Preis (zusammen mit Hermann Essig). Das Preisgeld ermöglichte ihm weitere Reisen nach Italien und nach Algier.

1910 bis 1917 war Loerke Mitglied der Berliner „Donnerstags-Gesellschaft“, ein Sammelpunkt des künstlerisch-intellektuell fortschrittlichen Berlins, wo über Literatur, Musik und Malerei diskutiert wurde.

Seit 1917 war Loerke beim „S. Fischer Verlag“ als Lektor tätig und lernte hier die Autoren des Verlags, insbesondere Thomas Mann, kennen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Oskar Loerke ein begeisterter Anhänger von Max Herrmann-Neiße und Walter Rheiner.

Zwischen 1920 und 1928 erschienen im „Berliner Börsen-Courier“ zahlreiche Aufsätze und Rezensionen aus der Feder Loerkes. Zwischen 1929 und 1932 lieferte er auch Beiträge für die Literaturzeitschrift Die Kolonne, die der Naturlyrik gegenüber aufgeschlossen war.

Im Jahre 1926 wurde er Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Zwei Jahre später erhielt er dort eine besoldete Stellung als Sekretär der „Sektion für Dichtkunst“.

1926 hielt er eine Vortragsreihe über Formprobleme der Lyrik. In den Jahren von 1931 bis 1937 veranstaltete er Leseabende in dem Berliner Verlag Rabenpresse.

Seine Liebe zur Musik fand ihren Niederschlag in zwei Schriften zu Johann Sebastian Bach und 1938 zu Anton Bruckner.

1933 wurde Loerke, der den Nationalsozialismus ablehnte, aus der Preußischen Akademie der Künste ausgeschlossen. Nachdem er jedoch im Oktober 1933 das Gelöbnis treuester Gefolgschaft unterschrieben hatte, – nach dem Zeugnis seiner Freunde in der Absicht, seinen jüdischen Verleger Samuel Fischer zu schützen – wurde er wieder Mitglied in der „gesäuberten“ Deutschen Akademie der Dichtung, einer Unterabteilung der Preußischen Akademie der Künste. Loerke zog sich in sein Haus in Berlin-Frohnau zurück und blieb bis zu seinem Tod Cheflektor des S. Fischer Verlags, den er gegen immer neue Repressionen und Zensurmaßnahmen zu verteidigen versuchte. Seine in den 1930er Jahren erschienenen Gedichtbände Der Silberdistelwald (1934), Der Wald der Welt (1936) und Der Steinpfad (1938) begründeten seinen Ruf als Dichter der „Inneren Emigration“ und Vertreter der so genannten „naturmagischen Schule“.

Oskar Loerke starb 1941 in Berlin-Frohnau.


(Adaptiert von Wikipedia.)

Возрастное ограничение:
0+
Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
145 стр. 10 иллюстраций
Правообладатель:
Public Domain

С этой книгой читают