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Читать книгу: «Vineta», страница 4

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Sie sprach zu ihren Eltern so seltsam, daß sie sich zu Hause sofort für krank hinlegen mußte. Am anderen Tage stand sie zu Elisabeths Begräbnis eine Stunde auf, um dann noch eine ganze Woche im Bette gehalten zu werden.

Die Gestalt der Freundin veränderte sich in ihrem Gedächtnis mehr und mehr. Sie vergaß ihren Gang, ihren Wuchs, den diamantenen Glanz ihrer Stimme, sogar die lieblichen Spiele der Augen. Ohne Bewegung konnte sie sich bereits im nächsten Frühling ein Geripp unter der sanften Veilchendecke denken. Aber Elisabeth war doch um sie, mit geistigem Leib, mit unaussprechlich neuem Namen. Sie schweifte und lachte und weinte mit ihr und füllte mehr und mehr ihre Welt; auf dem Siebengestirn, mitten im summenden Bienenschwarm, zwischen den stillen Sparren auf dem Boden, im Blitz, im Läuten der Kirchglocken, im Gelächter der Mitbürger, überall weilte sie. Sie war in der ganzen Stadt zu finden, nur daß sie allein Hermines Sinnen und Hermines Seele freund war und sie anzog, manchmal rauh, wie wenn in Feuersnot ein Seil um ihren Körper gelegt wäre und zum Ersticken eng zugeschlungen würde.

Sie ward Hermines verklärtes Ich, stark und geheimnisvoll, ein immer erreichbares Sinnbild für Seelenwallfahrten, gleichviel aus welcher Regung her.

Viertes Kapitel


Während sich Hermine mit der Bürgerschaft des Städtchens, im Tiefsten bebend, sie möchte zerdrückt werden, auseinander gesetzt hatte, kannte diese Bürgerschaft das Mädchen kaum. Es war zwar auf der Straße getroffen worden, man hatte flüchtig nach seinem Namen gefragt, es war mit Anteil als die Tochter der jungen Frau Dagott betrachtet und ihr Bild in die lokalpatriotische Rumpelkammer des Gedächtnisses geschoben worden, zumal die Freundschaft mit der Tochter des Bürgermeisters nicht unerwähnt blieb. Damit war jede Neugier erschöpft und um die Zeit jener Konfirmation jedes Interesse an dem jungen Ankömmling längst tot.

Später wußten selbst die gleichaltrigen Mädchen wenig um Hermine, da sie nur oberflächlich mit ihr bekannt waren und das Gefühl hatten, als würden sie gemieden.

Frau Katharina suchte in den ersten Jahren ihres städtischen Aufenthaltes selten Gesellschaften auf und bemühte sich nur gering um neue Bekannte, erzählte daher nur Allgemeines und Zusammenhangloses von ihrer Tochter und unterließ am liebsten überhaupt, von ihr zu reden.

Der alte Pfarrer schmetterte seine Predigten nach wie vor in eine wohlgefüllte Kirche, und daß eine einzige seiner früheren Konfirmandinnen gar nie unter den Zuhörerinnen saß, konnte er unmöglich bemerken; auch am Tisch des Herrn drängten sich so viele nach dem Brot des Lebens Hungrige, daß er eine für ihr ganzes Leben Gespeiste nicht vermißte. – Wieviel weniger hatten die übrigen Männer Zeit, auf rätselhafte Blicke einer Unbekannten zu achten! Sie waren vom Morgen bis zum Abend fleißig im Laden, bei ihrem Handwerk oder Acker.

Zu aller Arbeit begann sich in Unterhaltungen hier und da, selbst schon in zünftigen Versammlungen eine Aufregung langsam auszubreiten; nur drei Jahre noch fehlten, bis das fünfhundertjährige Jubiläum der Stadtgründung begangen werden mußte. Den Handwerkern war verbrieft, bei dem dann stattfindenden großen Umzuge mit besonderen Ehren teilzunehmen, und unter ihnen regte sich allmählich ein Wettbewerb um die hervorragendsten Stellen. „Ich trage eine Fahne!“ sagte der Böttcher Bürrmeister und bezeichnete sich als einen Menschen, der immer – nun mindestens seine Pflicht getan. Baute er alle von ihm verfertigten Tonnen aufeinander zu einer Pyramide, so würden sie die Spitze des Kirchturms erreichen. Sogar noch der achtzigjährige Glaser Hopp beteiligte sich an dem Rangstreit mit der Bemerkung, in der ganzen Stadt wäre wohl kaum eine Fensterscheibe (Keller- und Bodenluken nicht ausgenommen), die er nicht irgendwann eingesetzt, worauf der Metzger Müllerstein es ihm zuvortat, indem er die Vermutung verfocht, daß die ganze Stadt zum Wanken, was sag ich, zum Einsturz kommen würde, wenn sämtliche von ihm geschlachteten Schweine zu gleicher Zeit schrien. Darob erhob sich unter den Anwesenden ein großes Gelächter, nur ein Fischer stimmte nicht ein, sondern verdrehte die Augen, denn er sah in Gedanken es um sich von unzähligen fetten Regenwürmern wimmeln, die er im Laufe der Zeit an seine Angeln gespießt hätte.

Zwar steigerte man seine Phantasie selten zu solchen wunderlichen Berechnungen, – aber wer hatte Zeit, an die arme Hermine zu denken?


Nicht einmal ihr eigener Stiefvater Dagott. Ihr Gebahren wurde ihm etwas Altes. Auch er hatte genug zu tun, wo nicht in seinem Laden, so doch zum Wohle der Stadt. Mit unbegrenzter Opferfreudigkeit und nie versagender Hingebung in den Ratsversammlungen tätig, genoß er großes Ansehen in der ganzen Gemeinde, wenn man sich hinter seinem Rücken auch wohl ein klein wenig anlächelte. Das sah er ja nicht. Er mißdeutete sogar etwas eitel, wie manchmal kleine Kinder mit Fingern auf ihn wiesen: er strebte um so eifriger, seine ganze Kraft gemeinnützigen Arbeiten zu schenken.

Tapfer, alles vergessend, schritt er in der langen schmalen Stube hinter seinem Laden, wenn’s dämmerig wurde, auf und ab und arbeitete unermüdlich an seinen Reden. Im Winter mußte der breite eiserne Ofen ihm recht warm geheizt werden, damit er zur Erhöhung seiner behaglichen Tätigkeit bei Sturm ein Spältchen am Fenster aufsperren könnte, um es tüchtig rütteln zu hören. Die Reliefbilder am Ofen, welche eine Heuernte darstellten, putzte er sich selbst glänzend blank; stumpfes Eisen war nicht nach seinem Geschmack. So stand nichts im Wege, daß sein Geist die schönsten Funde machte. Flossen ihm die Gedanken am besten, so schritt er schneller, indessen blieb er auch zu Zeiten ein Weilchen stehen, die Hände in den Hosentaschen, etwas vornüber gebeugt, und ließ die Lippen sich kurz bewegen, während ein angenehmes Schütteln durch den Körper sickerte. Hermine erzählte Grelert einst boshaft, sie habe im Laden gesessen und zu jener Stellung die Worte vernommen: mit Majestät!

Dagott aber wurde mit seinen Erfolgen eitler. Er ging mit dem Gedanken um, eine Zeitung zu begründen, damit jedermann seine Reden lesen könne. Darauf war er verfallen, weil in einer Ecke seiner Stube alte, hübsch eingebundene Jahrgänge auswärtiger Blätter aufgestapelt lagen und unter wunderschönen Frakturtiteln die interessantesten Begebenheiten „aus so lang verwichenen Lustren“ aufbewahrten. Er setzte sich gern auf diesen Zeitungsstoß, stieß mit den Fersen behäbig trommelnd gegen die schwarzbedruckten stattlichen Rücken, schielte sie freundlich vorgebückt zwischen den Knien hindurch an und nannte sie im stillen die Großväter seines Gründergedankens. Als er aber seinen Plan mit einigen Bekannten besprach, wiesen ihn diese belustigt ab mit der Frage, was er denn in seine Zeitung hineinzusetzen gedenke. Er rettete sich, indem er scherzhaft versetzte: „Nun, jede Verlobung.“ Das ließ man nicht gelten, weil wirkliche, nicht erdichtete Verlobungen zustande kämen eine wie die andere, also eine Beschreibung nicht anziehen werde, die er, da die bloßen Namen ihm wöchentlich kaum eine Zeile füllen würden und da er ein beredter Mann sei, doch beabsichtigen müsse.

Seitdem sprach man wieder vierzehn Tage lang von Hermine. Dagott habe vor, sie schon zu verheiraten, obwohl sie kaum ausgewachsen sei. Hermine kam das Gerücht zu Ohren, doch trotz ihrer bitter spöttischen Blicke beachtete Dagott sie nicht mehr besonders. Er ließ seine Gedanken dadurch nur auf Augenblicke voneinander trennen, nicht anders als durch die gewohnten Schläge der Kirchenuhr, die er zwar jedesmal sorgfältig auszählte, selbst wenn er schrieb und mitten in einem Satze steckte, und die doch eben nur eine Unterbrechung, keine Störung bildeten.

Seine Tätigkeit befriedigte ihn mehr und mehr, und die Lust seines Herzens zeigte sich in einer immer innigeren Liebe zu seinem jungen Kinde – wenn Hermine ihn nie suchte, konnte er sie allenfalls entbehren – und zu seiner Frau.


Frau Katharina wurde nun ganz glücklich und beschäftigte sich gleichfalls weniger mit Hermine. Sie lernte über Dagotts Schwächen hinwegsehen wie die Bürgerschaft, sie gewöhnte sich, den Mann zu schätzen, den alle schätzten, den Gatten wieder zu lieben, der sie liebte. Sie hatte lange genug einsam in den vier häßlichen Stuben rechts vom Flur die Zähne klappern lassen, jetzt rückte sie näher an Dagott, hielt sich oft im Laden und dem langen Brütehinterstübchen auf. Aus der Küche, neben diesem ebenfalls hinter dem Laden gelegen, mußte sogar eine kleine Tür durch die Mauer gebrochen werden. Auch Ruth, die sich zu einem hastigen, sehr ungezogenen Wicht entwickelte, zog über den Flur nach, und es lagen seither viel mehr zerbrochene Teller und Tassen am Boden, ohne daß böse Worte hinterdrein polterten. Die Ehezwiste hörten fast ganz auf, und Frau Katharina hatte Hermine nur selten die dafür nach ihrer trockenen Weise gemünzte Formel mitzuteilen: „Heute war wieder Hochzeit.“

Da ihr der Haushalt mehr ihr berechtigter Wirkungsbezirk schien als bis dahin, entwickelte sie wieder ihre vernachlässigte Haupttugend der Sparsamkeit und kam dabei sich selbst possierlich vor, denn alles war im Überfluß vorhanden. Nur mit einem Lächeln konnte sie sich an frühen Wintermorgen vor das offene Ofenfeuer kauern und dort am Strickzeuge Maschen auflesen, die Lampe zu ersparen. Dann freute sie sich, Dagott schnarchen zu hören. Im nächsten Augenblick würde er erwachen, sie fragen, warum sie sich die Augen verderbe, sich über ihren Geiz prächtig erregen und schließlich das Frage- und Antwortspiel mit einem Kusse abbrechen.

So fand sie die belustigende Seite ihrer Sparsamkeit, die ihr doch tief im Blute lag, in der Beziehung auf den Gatten: wo die verstohlen vernachlässigte Hermine dabei ins Spiel kam, wich sie peinlich ab. Nur schwer erweicht durch inständige Bitten, verstand sie sich dazu, das Dienstmädchen abzuschaffen. „Ich mußmuß – schwer – schwer arbeiten,“ hatte Hermine gebeten. Nun sah sie es beklommen an, wie die Tochter ein Jahr um das andre in den Stuben rechts vom Flur, im Keller, auf dem Boden, im Garten schaffte, selten ganz froh. Eigentlich einmal nur schien sie sich vor Freude nicht lassen zu können. Klein Ruth stürzte damals herein und erzählte, Hermine habe sie unter Tränen glühend umarmt. Aber wer weiß, was dieser Überschwang bekunden konnte! Indessen tröstete sich Frau Katharina: Sie ist glücklich, sie kann es vor anderen nur nicht so zeigen. Ich war ebenso in ihrem Alter. Laß sie erst näher an meine Jahre kommen! – Die viele Arbeit schadet ja schließlich nichts.

In allerlei Handarbeiten wohl bewandert und geschickt und deshalb stolz auf sich, unterrichtete sie Hermine, Nabel und Zwirn zu handhaben. Doch zeigte sie nur die notwendigsten Handgriffe und erklärte kaum die Muster, um aus den unbehaglichen Stuben schnell ins Geschäft oder die Küche zu entkommen. Sie hatte eben jahraus jahrein für Speis und Trank zu sorgen und die Kunden bedienen zu helfen, und Hermine nähte Jahr um Jahr.

Nur sonderbar, manchmal erhob das Mädchen ein fertiges Hemdchen, schüttelte die Falten auseinander und sagte trübe: das ist nichts Schönes geworden, obwohl es sauber und passend gearbeitet war. Die Mutter wußte gar nicht, was das zu bedeuten habe, denn sie kannte nicht das Gespräch mit Hugo Winterlicht. Aber sie freute sich schließlich über die Äußerung als Beweis jugendlich ungenügsamen Strebens.

Ja, und doch hatte sie sich zu wundern über die ganze Lebenshaltung Hermines, über Kleinigkeiten, Worte, Bewegungen, Schweigen, beinahe tagaus tagein, so wenig sie beobachtete. Sie verstand nicht, warum Hermine sich nicht nach einer neuen Freundin umsehe, was doch nicht schwer und fruchtlos sein konnte, da sie Elisabeth Pfeiffer gleichsam zufällig gefunden. Sie begriff auch nicht, warum Hermine immer wieder in Abständen von ein bis zwei Monaten abends zu Grelert ging, warum gerade zu einem Totengräber, und auf ihre vielfachen Fragen, was sie denn mit ihm auszureden habe, erhielt sie die Antwort: „Meistens sind wir ganz still; er sitzt nur auf der Bodentreppe und spielt Harmonika!“ Diesem komischen Manne strickte Hermine gar einen blauen, zu seinem Rocke passenden Schal. Allein Dagott erhielt einen noch längeren und breiteren aus weißer Wolle, so war nichts dagegen einzuwenden. Sonderbarerweise hieß es nur wieder von dem weißen: „Da hab’ ich nichts Schönes gestrickt.“

Am besten war wohl, Hermine ohne viel Einspruch nach eigener Wahl leben zu lassen und auf allmählich sich entwickelnde Klärung zu vertrauen.

Die Schattenhöhlchen der Mundwinkel Frau Katharinas glänzten von einem dauernden Schmunzeln.


Am meisten bekümmerte sich noch Lehrer Karp um Hermine. Ihn hatte damals, als sie ihm den Unterricht aufkündigte, eine Art Scheu vor ihr ergriffen, die sich bald verlor und dann, mit ihrem Älterwerden, wieder wuchs.

Zu den Mittagsmahlzeiten blieb er weiter Kostgänger im Hause Dagott und suchte, an den Gesprächen ziemlich unbeteiligt und durch Aufmerken nicht völlig in Anspruch genommen, in Hermines Gesicht zu lesen. Er glaubte herauszufinden, daß sie ihn wärmer betrachtete, ohne freilich sich ganz zu erwärmen. Die lieblicheren Funken aus den Augen wären nur gleich plötzlich aufspießenden Rosen in zwei Schneefeldern, und er glaubte sogar Blütezeiten unterscheiden zu können. Jedesmal, wenn eine neue eintrat, lag ihm ein linder Rhythmus in den Ohren, der langhastend die Worte gliederte: Jetzt sind – die Zeiten – der Rosen – im Schnee! Den Vergleich aber fand er, als Hermine in der Mitte ihres achtzehnten Lebensjahres stand. Es schien ihm nun anziehend, wer weiß aus welcher mutwilligen Laune her, einmal einige solcher Rosen zu zerpflücken, und dazu bediente er sich folgenden Umstandes:

Bei seinen einsam bis in die Nacht währenden, aber trotzdem sehr bescheidenen und mäßigen Abendimbissen beschäftigte er sich mit der Durchsicht populär-astronomischer Werke und zwar so zelotenhaft, daß er gern, falls er einmal zum Reden neigte, die Unterhaltung auf die Sternkunde lenkte. Er bemühte sich, alles möglichst eindringlich zu schildern, und zum Zeichen des hob er unermüdlich die beiden Eidfinger am schlaff hängenden Arm nach vorn. Seine Stimme dehnte alle Silben auseinander, bloß die Empfindung wollte nicht an Gewalt zunehmen und saß wie ein hartnäckig kleines Knötchen in ellenweit ausgezogenen Gummifäden. Als er jene Grausamkeit mit Hermine vor hatte, erfaßte ihn selbst unversehens das Grausen bei seinen bedeutend an sie gerichteten Worten vom möglichen Zusammenstoß eines Kometen mit der Erde, während Hermine keine Furcht, nicht einmal ein Staunen zeigte. Mehr schien sie gar ihn selbst ergründen zu wollen. Der Weltuntergang mußte sie nicht berühren.

Seine Scheu vor ihr steigerte sich darauf erheblich, und er begnügte sich, fortan nur auffällige Verwandtschaften einiger ihrer Neigungen mit seinen im stillen festzustellen: sie liebte die dumpfen, in der Nähe von schattigen Kolonialwarenhandlungen hausenden Kellergerüche wie er und manche auch von ihm geschätzte Blumen. Seine Mühe, eine bestimmte Seele aus den Blüten zu deuten, blieb fruchtlos. Das war nun einmal eine grundlose Vorliebe, und sie stimmte überdies nur bei einigen Gewächsen überein. – Diese hatten meist ein altertümliches Aussehen oder einen gleichsam verschollenen Geruch. Besondere Aufmerksamkeit genossen hahnenfußartige, blau blühende Stauden, die bei trübem Wetter von innen zart durchglüht schienen, und mit deren Töpfen Hermine ein ganzes Fensterbrett besetzt hatte.

Von ihnen schaute sie eines Sonntags, wie Karp gar wohl wahrnahm, vergleichend auf die blauen Äderchen an seinen Handwurzeln, mit neugierig mitleidigem Blicke. Karp sammelte seitdem alle ihre Blicke auf seine Schläfen und Hände wie Schmetterlingspuppen: das feindselige Bedauern, das er früher in ihnen beiläufig überrascht hatte, verwandelte sich offenbar in Teilnahme und Milde.

Seinerseits ehrfürchtig-mitleidig, bemühte er sich, ihr kleine Gefallen zu erweisen und ein wenig Freude zu bereiten. Am meisten vergnügte es ihn um ihretwillen, als er am Beginn seiner Mühwaltungen von seiner alten Mutter einen Festkuchen erhalten hatte und einen Kostehappen zu Dagotts hinübertragen durfte. Lange überlegte er mit dem Messer in der Hand, wieviel er einpacken sollte, teilte in Gedanken einen Viertelnapf ab, dachte an Hermine, unsicher die Schneide ein Stück weiter rückend, und zerviertelte nach der Erwägung, daß Dagott ein starker Esser sei und von der Süßigkeit am Ende zu wenig übrig lassen würde, den ganzen Kuchen. Mit ehrbar verkniffenem Lächeln überschritt er die Straße, um am Kirchhofszaun entlang den Marktplatz zu gewinnen – auf der Straßenseite, die Hermine zu benutzen pflegte. Seines guten Herzens Ruhm durch Dagott nahm er mit einem huldvoll abweisenden hm! auf, suchte aber in Hermines Gebärden irgend eine Anerkennung. Sie blieb aus. Nun erzählte er wehmütig, als müsse er unheilbar krank zu Tode siechen, wie er in seiner Kindheit von der Mutter Kuchen erhalten hätte, wenn er mit seinem Schwesterchen Elisabeth vor versammelter Tantenschaft Geschichten erzählte, dergestalt, daß er mit Ausmalungen aushalf, wenn Elisabeth in den Ereignissen stecken blieb. „Elisabeth hieß Ihre Schwester?“ unterbrach ihn Hermine feurig, „und Sie gaben die Ergänzungen? O, das ist schön!“ – So unterdrückte er, daß ihm der Kuchen eigentlich zum Lohne dafür zugestanden wurde, daß er die Anwesenden mit seinen wirren, unsinnigen Erfindungen höchlich belustigt hatte. Seinen Zweck, ein freundliches Wort von Hermine zu hören, hatte er erreicht und sich in der Kraft des Namens Elisabeth nicht geirrt.

Kurz, er suchte auf die verschiedenste Weise in Hermines Wesen einzudringen, doch Gewohnheit und die Beschaffenheit seines eigenen Gemütes bewahrten ihn davor, daß er jemals sehr überrascht wurde.


So blieb, was in Hermine etwa ungewöhnlich war, lange vor den Leuten verborgen. Aber es war nicht ausgestorben. Es war mit leisen Kräften immer am Werke, und endlich wurde sie von den vielen ihr seltener zugewandten Augen so angesehen, als wanderte ein schwarzer Stern über ihrem Haupte mit und faßte sie in einen Kegel schwarzen Lichtes ein. Da sie an Alter zunahm, wurden verworren dunkle Eindrücke von ihrem Verstande auseinander geschlagen, und sie sprach deshalb nie mehr so brunnenhaft hallende Worte wie nach dem Einzuge oder so irrsinnig einsame wie nach der Einsegnung, deshalb nicht, aber eines Abends tat sie aus Grund herbeigesogener Wirklichkeit hilflos vor der Mutter die Lippen auseinander …

In sechs Monaten hatte sie leise jene mit sich selbst beschäftigte Bürgerschaft auf sich aufmerksam gemacht, als sie achtzehn Jahre alt war und auf ausdrückliches Verlangen der Eltern zu Besuchen, Familienfeiern, Vereinsfesten und ähnlichen Veranstaltungen mitgehen mußte. Früher war sie seltener in größerer Gemeinschaft gesehen worden und hatte als Kind gegolten, wo etwas an ihr zu bemänteln oder entschuldigen war. Jetzt erschien sie nach langer Pause als eine junge Dame.

Anfangs nahm man nur eine ungewöhnliche Schweigsamkeit an ihr wahr, ab und zu eine auffällige Kleinmut, und beobachtete ausschweifende Wünsche in Kostümfragen.

Manche stolze Mutter bemitleidete Hermine im stillen, daß sie noch so schüchtern sei und an Gewandtheit im Verkehr sich mit ihrer Tochter nicht in entferntesten messen könne, und aus Mitleid wurden bei festlichen Anlässen manche jungen Mädchen von den Angehörigen zu Hermine herüber geschickt: sie scheine so einsam zu sein. Aber wenn die lustigen Fräulein zurückkamen, hieß es: Hermine ist komisch. Mit Hermine ist nichts anzufangen. Hermine ist langweilig. Hermine ist lauernd. Und die lustigen Fräulein wurden von den Eltern ausgelacht, und die Schuld ward ihnen zugeschoben.

Darüber erzürnt, gingen sie das nächste Mal mit Hermine nicht gerade linder um. Auf dem Heimwege keiften sie, daß die dunklen Straßen beinahe erwachten. Wenn man Hermine zufällig bei Dagotts spreche, sei sie noch leidlich zu ertragen, obwohl sie auch dann ziemlich albern sei. Sie wisse nichts zu erzählen als dumme Scherze aus der Kindheit und krause Träumereien. Und höre man ihren Erzählungen nicht gespannt zu, oho, merke sie es, werde gereizt und mürrisch. Sie schmolle leicht. Das sei so alles bei ihr zu Hause – ach ja, und dann ihre törichten, geheimnisvollen Redewendungen wie: ich warte; aber zu den großen Festen scheine sie sich völlig auf Muckertum vorbereitet zu haben. „Daran läßt sich nicht zweifeln,“ sprach nun die erfahrene Frau Schwarzbart aus dem Hintergrunde und schnitt, weil alle darüber staunten, jegliche weitere Erörterung ab. An der nächsten Ecke gähnten sich aber schon mehrere Mäuler des heimziehenden Fähnleins aus und verabschiedeten sich dann.

Nach vierzehn Nächten trat aus dem großen Lokal in der Ölkannengasse nahe dem See ein ähnlicher Trupp, voran Friederike Turtel, die Hände in die viel zu hoch angesetzten Jackettaschen gestemmt und den Mond mit dem Nachgeschmack einer Zigarette öfter heimlich anhauchend. Mit einer anbetenden Gebärde gegen das Gestirn sagte sie: „Kein Wort war aus ihr heraus zu bekommen.“ Aus der dritten Reihe hieß es: „Ihre Limonade stand unberührt vor ihr, als die anderen längst ausgetrunken hatten,“ aus der zweiten: „Sie drückte sich immer an den hinteren Tischen herum,“ und wieder aus der dritten: „Dann ging sie hinaus, ich glaube, hier nach dem See herunter.“ Und Friederike Turtel kehrte sich schnell herum: „Still, da geht sie ja noch!“

Weil die Jungen andauernd so erzählten, konnten die Alten schließlich nicht alles beschönigen und allem widersprechen. Immer zwar fanden sich etliche gereiste Damen, die entschuldigten, doch dadurch wurde die Unterhaltung über den Gegenstand in die Länge gezogen. Je mehr man von Hermine redete, desto sonderbarer schien diese selbst zu werden, und es wurde nun nicht mehr schwer, Züge zu sammeln. Man suchte immer eifriger, wie Knaben, die einen Drachenschwanz aufknüpfen, mit jeder bunten Elle ungeduldiger werden.

Hermine sollte manchmal seufzen,wo die anderen lachten. Im Konzertgarten hatte sie sogar einmal geweint. Weil sie den Totengräber aufsuchte, fand man, daß der ihr den Kopf verdrehe; sie spreche ja mitunter zum Verwundern. Hanna Hagen hatte sie anvertraut, daß sie gegen Abend die reichste Seelenfülle in sich spüre, von der Zeit an, da die Schatten halbmeilenlang würden. Und sie denke sich, wenn es ganz dunkel geworden wäre, reiche ihr eigener Schatten bis in die Sterne hinauf, sogar bis in die entferntesten, so daß die Hüften mit Sternen besetzt seien und die Brust, der Hals und das Gesicht.

Frieda Keßler verbreitete als Hermines Bericht: Hinter ihrem Garten stehe ein versumpfter Graben. Eine Stelle darin sei wie ein blaugrünes Pfauenauge gefärbt. Das komme aber von den giftigen Pflanzen, und Hermine habe mehrfach die Versuchung gespürt, von dem bunten giftigen Wasser zu trinken.

Solcher Mären kannte man wohl zwanzig. Aber sie erschöpften sich doch, und so sprach man von den Abendgängen Hermines. Nach Grelert fragte man Dagott aus, der selbst nichts wußte und zu den krausen Andeutungen besonders wässerig schielte. – Als man alles vielfach überdacht, sagten einige kecke Burschen, Hermine sei wohl etwas beschränkt und weiter nichts. Schüchtern hoben sich im Kreise die Achseln, doch bald in energischem Doppelzucken, was wie eine mitleidige, aber erwünschte Zustimmung aussah. Nicht lange, so tippten andere schon ihren Finger sanft an die Stirn. Mit mutigem Schrecken und gieriger Entrüstung wies man das zurück. Die Belege ließen sich aber leicht häufen, und so begannen sich wirklich vereinzelt ernstliche Zweifel an Hermines gesundem Geiste zu regen. Die Gläubigen verstanden nun erst ganz die späte Wandlerin vor Dagotts Hause, durch die Gassen, und die Bedeutung des Mondlichts für sie.

Damals verschwand Hermine aus allen glänzenden Sälen und selbst von den Straßen. Eines Abends spät trat sie verstört in die Küche, wo Mutter und Stiefvater Hand in Hand saßen und Ruth auf Dagotts Schoße eingeschlafen war. „Mutter,“ sagte sie gepreßt, drehte sich langsam um und schlug mit Abscheu die Tür zu. Frau Katharina ließ Dagotts Hand fahren, sprang auf und umschlang Hermine, als ob diese ohnmächtig niederstürzen wollte. „Was geschieht?“ fragte Dagott mit verstellt klingender Stimme, da die Frauen schwiegen. Die Mutter streichelte ihrer Tochter, die nun größer war, als sie selbst, beide Wangen.

Einige der späten, zierlich am Honig nippenden Fliegen kamen um die Frauen wütend herumgesummt und waren verschwunden.

„Mutter,“ fuhr Hermine endlich fort, und in ihrer Stimme schienen jahrhundertstarre Klagen und Taten von Vorfahren nachzuleben, die immer gedrückt und mit Frohn beladen gewesen waren. „Ist es möglich? Ich bin doch über achtzehn Jahre alt. Sie stehen jetzt am Fenster im dunklen Gelaß und sehen mir hämisch nach. Sie verstecken sich hinter den Laden und lauern durch die Ritzen. Ein Kopf wurde mir nachgereckt. Die Gardinen haben sich bewegt. Ich mußte durch die ganze Stadt gehen heute abend, weil ich früher hier und da diese Schändlichen in den Fenstern gesehen hatte. Ich mußte gehen – ich mußte gehen! – Es ist sehr dunkel, aber ich habe mich nicht geirrt: Ein Bub’ hat mir seine Hand von der Nase gespreizt und das große Mädchen neben ihm, ich glaube Friederike Turtel, ihm nicht gewehrt. Und ein anderes Kind hat mir die Zunge ausgestreckt. – Ein Hund heulte, als sähe er Geister vorüber schwirren; da lief ich bis hierher und habe nur eine Weile im Hausflur gestanden.“

Noch einmal schlangen die schnellen Fliegen um der Frauen Köpfe ihren tönenden Kreis und waren verschwunden.

Frau Katharina beklagte sich anderen Tages bei mehreren Nachbarinnen, daß man ihre Hermine so rücksichtslos behandle, und erreichte, daß sich das Gerücht der Geistesstörung, welches durch die Flucht bei den wenigen Anhängern noch geschürt war, verlor, und nach ihren vernünftigen Worten sowie denen einiger besonnener Hausväter flaute das ganze Gerede über Hermine ab.

Die Verängstigte durfte nun nach ihrem Wunsche völlig zurückgezogen leben.

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Дата выхода на Литрес:
04 декабря 2019
Объем:
145 стр. 10 иллюстраций
Правообладатель:
Public Domain

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