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Читать книгу: «Vineta», страница 3

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Drittes Kapitel


Als die ersten blauen Lichter in das Zimmer sinterten, war Hermine wach. Die Wände traten deutlich auseinander. Schon wurde die hellgrüne Farbe der Tapete sichtbar mit den schwarzen Ranken, und auch die hinein gezeichneten feuerroten Quadrate tanzten noch immer mit einer ihrer Ecken gleichsam auf der Nase, eine Reihe über der anderen. Zwei Fenster schauten blöde nach der Straße hinaus, zwei nach dem Garten. Unbehaglich waren die Dielen anzusehen, deren unendlich lange Ritzen unter den Bettstellen hervorgelaufen kamen und an der gegenüberliegenden Wand verschwanden. Der Hausrat genügte nicht, die breite Leere zu füllen.

Hermine wußte nicht, was sie beginnen sollte. Das Kindermädchen zu ihren Füßen schlief noch. Sollte sie aufstehen? Wohin dann? Sie sprang aus dem Bette und bekam eine Gänsehaut. Sie trat ans Fenster und legte sich wieder sogleich.

Der bläuliche Schimmer hier drinnen war eine Täuschung gewesen und nun verschwunden. Draußen zogen fahle Wolken vorüber, in deren zerrissenen Klunkern ihren verklebten Augen hin und wieder Sterne zu sitzen schienen gleich kleinen silbernen Kletten.

Wohl eine Stunde verging. Das Kindermädchen wurde wach und kleidete sich an. Hermine suchte immer den Atem anzuhalten, bis es hinaus war. Dann wartete sie noch lange auf die steigende Helle, doch blieb das Licht mottenfarb. Ein Regentropfen klopfte ans Glas, und binnen kurzem schlängelte es sich auf den Scheiben wie von dünnen weißen Aalen.

Hermine hob auf einem Beine das Deckbett hoch in die Schwebe, bekam wiederum eine Gänsehaut, drückte die Arme dicht an den warmen Körper und warf das Bett ganz hinaus. Das Regnen hörte auf, noch unfreundlichere Helle trat ein. Grelerts Tauben flogen wohl an den Fenstern vorüber, denn ein paar schwarze Blitze huschten über ihr Hemd. „Ja, ja, Totengräber, nun komme ich doch,“ sagte sie gedankenlos und zog mit dem Finger auf dem Laken Kreise und Halbmonde, wie sie die Mutter gestern abend ausgeschnitten hatte.

Die Kirchturmuhr schlug zehn. Das Blut schoß Hermine in den Kopf darüber, daß sie nicht aufhören wollte zu schlagen. Möchte doch nur die Mutter nicht herauf kommen, dachte sie, stellte sich die Jagdgesellschaft vor, die gewiß jetzt unten beisammen wäre und praßte, und wurde glühend aufgeregt trotz unbestimmter Leere in sich, blieb aber dennoch im Bette. Als es dann wieder regnete und zwar noch heftiger als vorhin, kleidete sie sich an.

Sollte sie in das Schlafzimmer oder in das große zu den vielen Leuten treten? Sie war schon ganz ruhig und wollte nur ihr Frühstück verzehren. Ein unbestimmtes Suchen, etwas wie die Witterung nach Modergeruch zog sie in die Gesellschaft hinein. Sie prallte mit einem Gelächter zusammen, dessen Töne wie grausame, klatschende Peitschenhiebe auf sie eindrangen. Doch es brach sofort ab, und sie begegnete mitleidig warmen Blicken, unter denen ihr Schmerz um die Freundin sich sogleich erneuerte. Alle Augen schienen sie weit von sich wegzuschieben, immer rückwärts, bis ihre Fersen anstießen und sie sich auf einen Sarg setzen mußte; aber ihr war, als müßte sie ihren Peinigern danken; sie ging zu jedem einzelnen, gab ihm die Hand und sagte laut: „Guten Tag!“ Sie sah jedem fest ins Auge, alle Blicke wurden natürlich verwundert und neugierig, machten ihr Qual und schienen daher herzlos zu glotzen. Ihr blinder Wunsch war erfüllt. Zum Überlegen und Prüfen war sie noch zu jung und jetzt zu kummervoll, aber die Gefühle fanden ihr Gleis: wer mit Dagott verkehrte, den konnte sie sich nicht anders als ihm verwandt vorstellen.

Nur des Uhrmachers Winterlicht Sohn Hugo, ein Rechtsstudent, der zu den Ferien die Eltern besuchte, schien ihr minder kalt zu blicken. Weil er noch jung und mit der Gesellschaft wenig bekannt war, sprach er auch weniger und wanderte mit den Augen öfter über des Mädchens Gestalt.

Eine erste Neigung keimte in Hermine auf und stand über ihrem Weh wie ein zartes Morgenrot über bitteren Wassern.

Um so mehr schloß sie ihre Seele den andern. Wie sie so redeten und sich abwechselnd zeitweilig ihr zukehrten, dachte sie an einen Schweinekauf, den sie auf dem Lande mit angesehen, wo man bald handelte und bald dem fetten Tier den Hinterleib beklopfte. In ihr entstand eine zornige Verwirrung, so daß sie ihre in einen Winkel geschobenen Schiffe auflas und hinaus ging.

Niemand beachtete sie, nur Hugo Winterlicht hörte die Haustür werfen und sah durchs Fenster des Schlafzimmers Hermine im Garten verschwinden. Noch immer strömte der Regen. So ging er ihr nach, sie zu holen. Die Mutter hatte ihm vorher bedeutet, daß es ihm nicht gelingen werde. Hermine müsse später eben die Kleider wechseln, um sich nicht zu erkälten.

Er sah ihr perlgraues Gewand am Gartenbrunnen. Sie kauerte auf dem breiten Rande des eirunden zementenen Beckens, hatte die Schiffe ins flache Wasser gesetzt und zog an den Fäden. Von fern schien sie durch die schrägen silbrigen Regenstreifen wie durch einen Nebel größer, verdüstert und starr wie Bronze. Hinter ihr erhoben sich im Halbkreis herbstrote Bäume, von der Nässe glänzend wie Glut.

„Magst du so im Regen sitzen?“ fragte Hugo Winterlicht.

„Ja.“

„Ist er denn angenehm?“

„Nein, er ist sehr kalt.“

„Komm doch herein.“

„Hier ist es schöner als drinnen.“ Sie sah ihn traurig an: es mußte aber doch lauter Süße in ihrer Seele sein.

„Du hast ja noch nicht gegessen.“

„Nein.“

„Willst du nicht essen?“

„Nein – —“

„Du hast schöne Schiffe. Der Regen wird sie häßlich machen.“

„Es schadet nicht. Ich habe sie von Bruno Pfeiffer bekommen, und Elisabeth Pfeiffer —“

„Nun, dann verwahre sie doch, bis du mit Bruno spielst.“

„Nein, der ist beinahe schon ein Mann. Mit Knaben mag ich überhaupt nicht spielen. Nur den Edwin Maßholder mag ich gern.“

„Wenn der dir sagen würde, du möchtest hereinkommen und essen, dann würdest du wohl auf ihn hören,“ sagte Hugo in einem Tone, als ob er beleidigt wäre.

„Ja, mit dem würde ich gehen und essen,“ erwiderte Hermine lebhaft und errötete. Ihr kam ein Spielerlebnis in den Sinn, und sie hätte es am liebsten mit Hugo Winterlicht auf der Stelle wiederholt, was doch nicht anging. Hugo merkte ihr die Verlegenheit an und hielt seine Entgegnung zurück. Hermine hätte ihm gern die Hand gestreichelt, weil er sie gesucht hatte und lockte, stand nur nicht auf, um länger mit ihm zu sprechen und war glücklich, ihm etwas erzählen zu können. Sie sah ihn traurig an, und es mußte doch lauter Sonne in ihrer Seele sein.

„Auf dem Lande haben Edwin Maßholder und ich uns aus dem Fliederbusch hinter dem Stall alle Scherben herausgesucht – die wurden immer dorthin geworfen – und haben sie mit einem Stein auf dem anderen rund geklopft; da hatten wir Teller. Und allerlei andere Dinge für den Tisch machten wir aus den Scherben und hatten ein ganz reiches Geschirr. Wir dachten, wir müßten ein Königspaar sein. Wir wollten ein ganzes Reich haben. Edwin zog auf der Erde Grenzstriche, dick und schwarz, und pflanzte Bäume in das Land. Das waren aber nur lauter rote Mohnblumen und gelbe Sonnenblumen, die wir gerupft hatten. Wir hatten nun unsere eigene Welt. Als wir aber das viele Geschirr liegen sahen, feierten wir eine große Hochzeit. Grüne Brennesseln und rote Taubnesseln und Käsekraut waren die Speise. Bloß Menschen fehlten uns. Da rissen wir die Bohnenstöcke aus der Erde und setzten sie mit einer papierenen Schürze um unseren Tisch. Ach, wir waren stolz und höhnisch gegen sie, weil wir allein wirkliche Menschen unter den vielen Stöcken waren.“

Sie hielt seufzend inne und sah Hugo voll an. Der ließ sich den Regen gefallen und hätte willig weiter gehorcht, wenn Hermine durchaus nicht folgte, gerade weil die kindlichen Dinge zu dem weinerlichen Wetter nicht paßten. Er suchte Hermine bei ihrer Erzählung zu erhalten:

„Da müßt ihr aber majestätisch ausgesehen haben.“

„Das haben wir auch. Ich hatte uns aus alten grünen Bettgardinen Mäntel genäht. – Wenn etwas Schönes aus dem Stoffe wird, nähe ich für mein Leben gern.“

Hugo benutzte die Gelegenheit, sie doch vielleicht fortzulocken und sagte:

„Vielleicht zeigst du mir etwas von deinen Näharbeiten. Wollen wir nicht hinein gehen?“

Hermine warf einen Blick auf die Segel ihrer Schiffe, errötete wiederum und schwieg, traurig vor sich hinträumend.

„Also, schon Hochzeit hast du gefeiert?“

„Ja. Schon zweimal. Mit Bruno Pfeiffer habe ich es auch getan, aber – nun ist Elisabeth tot und ich spiele nicht mehr mit ihm.“

„Dann könnten wir ja auch ein Hochzeitsmahl halten, nicht wahr? Wenn es mit mir auch so schnell aus sein sollte, wie mit Bruno Pfeiffer.“

„Wenn Sie mit mir spielen, werden die anderen Sie ja auslachen.“ – Hermine weinte, weil sie Hugo durchschaute und sich grämte, so als Kind behandelt zu werden.

Hugo aber sagte: „Wir setzen uns in der Stube schweigend an den Tisch, jetzt gleich, und damit ist es getan.“

Hermine taten die Worte siedend weh, sie folgte aber doch ihm, der sie zum Weinen gebracht hatte, wie der Verzweifelte hellen Irrlichtern durch dunkle Gassen nachsprang, und freute sich über den Ernst, den Hugo bei Tische gleich ihr wahrte, und daß er so zerstreut an der Unterhaltung der Großen teilnahm, dagegen sich öfter an sie wandte. Hugo erquickte sich im stillen an ihrem Gesicht, aus dem immer neues Leuchten quoll, und suchte sich vorzustellen, wie seine kleine Braut als Erwachsene bei diesem Hochzeitsmahle aussehen würde.

Er wollte ihr zu Gefallen die Waffensammlung besichtigen, die beiläufig erwähnt wurde, aber Dagott saß sehr bequem auf dem Sofa und wehrte gutmütig ab: „Ach, das sind ältere Spezialitäten. Für Sie ist es doch nichts. Sie hängen schon seit manchem Lustrum unbeachtet.“

Hermine schenkte nun niemand mehr Aufmerksamkeit außer Hugo und blieb in sich gestillt, bis er sowie die andern Besucher sich verabschiedeten. Nachher drangen wieder die Erinnerungen an die tote Elisabeth und alles, was sie um sie erlebt hatte, durch und kämpften gegen den Frieden an. Gegen Abend verklagte sie sich, daß sie den Gang zu Grelert so lange vernachlässigt hätte. Verdiente Elisabeth so wenig Treue?


Sie trabte erst nach dem Bürgermeisterhause hinüber. Die Freundin lag mumienstarr zu ihren Füßen, weißgewandet, viel stolzer als je im Leben. Ihre ernsteste Empfindung war auf die Stirne gedrungen und gefroren. Über ihren Leib hinweg sagte Hermine, die langen Wimpern – kleine Dächer, die einen großen Schatz nicht überbreiten können – die kleinen Wimpern niedergesenkt, daß sie die Gedenkpappel, von der man hier öfter gesprochen, nun bestellen gehe, und sie hatte das Bewußtsein, eine ungeheure Sendung anzutreten. Sie mußte der Freundin an der Bahre davon Kunde geben. Ihre Worte stiegen sicher wie ein Schicksalsspruch aus der Tiefe, und die beladenen Eltern widersprachen ihnen nicht, so eigentümlich sie die beginnende Verwirklichung des Kinderwunsches berührte. Es war, als würde einem Schatten lebendiges Blut eingegossen.

Als Hermine dann über die mondhelle Straße ging und längs dem weißen Kirchhofszaun, dessen Ständer gewaltige Holzkugeln trugen, und als die bronzenen Wipfel auf dem Totenacker vor dem kalten Silberlicht zurückbebten, – in ihr tat sich etwas Frostig-Schönes auf: ihre Seele war ein Meer, das sinkend zurückweicht, und steile Vorgebirge mit fremden Blumen und spielenden Engeln tauchen auf, aber die Blumen sind größeren trauernden Narzissen ähnlich, die Engel tragen ein rätselhaftes Mal an der Stirn und sind sehr blaß …

Die Behausung Grelerts ward Hermine ein Stück ahnungsvoller Märchenwelt, obwohl sie nichts enthielt, was sie nicht schon öfter gesehen: sie war nach den vorangegangenen Flutungen bereit, alles mit Staunen aufzufassen. Schon daß Grelert fern drinnen Harmonika spielte in summenden Akkorden, wurde ihr bedeutungsvoll.

Sie klopfte leise, – zu leise, und sie mußte noch zweimal klopfen.

Dreimal!

Es raschelte, Grelert rief.

Er hatte mit seiner Harmonika auf der Bodentreppe, also im finstersten Winkel des dunklen Raumes gesessen, gegenüber dem einzigen Fenster nach dem Friedhofe hinaus. Über dem blauen Rock bewegte sich schnell ein Vogelgesicht von wächsernem Aussehen, mit spitzer Nase und spitzem Kinn. Die hohe, zurücktretende Stirn verlängerte sich in einer hohl aufgespritzten weißen Haarwelle. Die noch schwarzen Brauen liefen pfeilgerade über kleinen dunklen Augen, und der Mund bildete, als er sich bei Hermines Eintritt zu einem pfiffigen Lächeln breitreckte und Nase und Kinn noch spitziger hervorragen ließ, zu ihnen eine Parallellinie.

Der Mann sagte freundlich: „ach – ach!“ Seine Stimme hatte viel Flüsterndes, obwohl sie ihre ganze Stärke aufwandte. Hermine brachte schnell ihr Anliegen vor, während Grelert gebückt, aber wie der Wind in großen, leisen Schritten an eine Konsole sprang, um die Lampe herunter zu holen. Hermine folgte ihm mit den Augen und blieb, ohne zu bemerken, daß sie ausgeredet, gebannt stehen.

Wie dieser Alte aussah mit seinen zappeligen Bewegungen! Wahrhaftig gleich einer Figur aus gelben Volksbüchern, die von Alchemisten und Sterndeutern handelten. Wie seine Wohnung schon stimmte! Unendlich stiller als die Straße schien sie. Schmal war sie, weiß getüncht. Dicke Querbalken teilten die Decke in mehrere Felder; es sah aus, als wäre sie aus langen weißen Särgen zusammengesetzt. Die Fensterscheiben faßten Leichensteine ein, den bläulichen Vollmondkreis und ein Vogelbauer. Der Mond saß gleichsam gefangen hinter den Drahtstäben des Käfigs, und ein dunkelgrüner Vogel schlief mitten in ihm wie in einem Heiligenschein. Er schlief fest, verzaubert, ein ungeformtes Klümpchen Leben.

Grelert war inzwischen leise nach Streichhölzern herumgesprungen, immer mit seinen stoßweisen Bewegungen. Wie er nun das grünliche Bassin empor hielt gegen das blaudämmerige Licht, es darin schüttelte und nachdenkliche Mienen annahm! Weil sie leer gebrannt war, stellte er die Lampe wieder auf jene Konsole, Hermine wiederholt Gewährung ihrer Bitte verheißend, mit hurtigen, sehr freundlichen Worten, doch leise wie bei der Begrüßung. Er schien sehr erfreut, daß sie ihn ausgesucht. Er fragte, ob sie ein Weilchen bei ihm verziehen möchte. Hermine antwortete mit einem Kopfnicken, musterte aber furchtsam und starr die Konsole, wo ein zusammengewickeltes, starkes Hanfseil und ein nacktes Messer lag. Grelert bemerkte ihre Beklommenheit, zeigte auf das Messer und wisperte: „Daß ich es immer vor mir habe, du kleines Wiesel! Damit wollte ich, als ich ein junger Bursche war, im Zorne meinen eigenen Vater erstechen. Pst! nicht fragen und davon reden, kleines Wiesel, nicht reden.“ Das wollte Hermine nun freilich auch ohne seine so wundersam rührend klingende Bitte nicht. Sie schwieg tief staunend. Grelert fuhr, auf das Seil deutend, traumschwer und bekümmert fort: „Und das —“

Er hielt inne und sah Hermine an, die sich, auf eine lang erwartete Geschichte gefaßt, gerade auf eine Treppenstufe setzen wollte. Er schoß herbei, sein Schatten fuhr ihm nach, quer über die Stiege und an der rotbunten Gardine des Treppenwinkels herunter. Er schlug die Gardine zurück. Es befand sich dahinter ein Stuhl mit altem Gerümpel. Grelert riß ihn hervor, so daß die Dinge polternd zu Boden fielen, voran eine dicke Puppe, und stellte ihn mitten in die Stube, Hermine zum Sitzen einladend. Sie jedoch versuchte mechanisch sich erst zu bücken, denn einige Marmelkugeln von der Art, wie sie Kinder zum Spielen benutzen, kamen aus einem der umgestülpten Kästchen hervorgerollt. „Ich werde sie selbst sammeln, kleines Wiesel,“ sagte Grelert, umfaßte zimperlich ihre beiden Handgelenke und drückte sie sanft auf den Stuhl nieder: „Da sollst du sitzen, wo sie immer gesessen hat mit dem Kaffeetöpfchen in der Hand.“ Hermine saß nun so ruhig, als wäre jede Bewegung verboten, während Grelert ihr zu Füßen nach den Kugeln herumblitzte, köstlich von seiner Tochter erzählend. Hermine hatte richtig geraten: was hinter dem Vorhange aufbewahrt wurde, waren Erinnerungen an sie, und wirklich hatte jenes Hanfseil von der Glocke herunter gehangen, die sie erschlug, als sie nach dem Schallloch kroch, um einen Brautzug zu verfolgen. Und in der Tat hatte Grelert daran gezogen, aus Gram tags darauf mit seinem Vorgänger das Amt getauscht und war wie der Töter so auch schon der Totengräber seines Kindes gewesen.

Als er mit seinem Sammeln fertig war, trat er auf Hermine zu. Sie wartete mit schwerem Herzklopfen, aber ohne eigentliche Furcht. Er senkte seine Augen treuherzig in die ihren, lächelte düstersüß und streichelte ihr mehrmals die linke Hand. „Weiß,“ sagte er leise. Hermine schauerte ein wenig, weil sie das Gesicht des Mannes bis dahin noch nie so nahe gesehen hatte, aber sie fürchtete sich nicht. Grelert humpelte wieder fort von ihr, schritt schnell um den Tisch herum, krabbelte mit den Händen wie närrisch in der Luft und rief: „Hundertmal – hier – hier – dadada – mein weißes weißes (er atmete hoch) totes Wiesel. – So – so!“ Nun lief er trippelnd über die Dielen, blieb stehen, kam dann wieder an den Stuhl und streichelte Hermines Hand. Er schnalzte mit der Zunge und sagte, nach einem Ausdruck für seine Entzückung ringend: „Achachach! Sie hatte Glieder von weißem Sammt!“ Hermine begehrte, aus Seelengrunde erschauernd, immerzu auf diesem Ehrensitze zu sitzen, mitten in dieser Stube. O, war es still …

Grelert hielt ihr noch die Hand …

Eine zwingende Wallung, sie war wie die plötzliche Angst, in Schwefeldunst zu ersticken, hob ihr den Kopf empor und ließ sie Grelert die Stirn küssen. Der Totengräber schnellte empor und blieb rückwärts übergebeugt stehen. „Nicht,“ sagte er geringhin unter breitem Lächeln. Hermine durchrieselte ein frostig-warmes Zwittergefühl. Da er auch im größten Ernst schon so gelächelt hatte, ließ sich nicht unterscheiden, ob er jetzt scherzte oder nicht.

Jedenfalls glänzte das Lächeln abscheulich und Hermine wollte pfui! murmeln, aber sie achtete den Totengräber wie einen Vater, und so erhob sich in ihr eine zweifelnde Neugier nach jenem Lächeln, ein schlangenhaft bestrickendes Verlangen, es zu ergründen, wie man angezogen wird, einen häßlich schillernden Wurm wider alles Sträuben öfter zu sehen.

Indessen stand sie auf, um zu gehen. Er drückte sie wiederum auf den Stuhl, eilte katzenmäßig die Treppe hinan, ergriff seine Harmonika und spielte lange. Lenkte er ein? Hatte er etwas vor? Hermine harrte geduldig, bis er selbst ihr die Hand reichte, und sie begriff nicht, wie sie diese Stunde ausgehalten hatte.


Zu Hause wurde sie von Vater und Mutter mit trockenen Vorwürfen empfangen, weil sie herumstreife und sich zu Konfirmation und Abendmahl nicht vorbereite. Die Gesichter hingen welk, grau und glanzlos aus dem fahlen Lampenschein: draußen aber lag die blaue Mondwelt, wo man immer wie durch unfaßbare Schleier griff und in jeder Ecke ein Märchenwicht kichern konnte. Hermine erwiderte leer, daß sie keinen Segen ohne Elisabeth empfangen wolle. Die Äußerung wurde ihr verwiesen, aber sie setzte in demselben Tone hinzu: auch möge sie von Karp nicht weiter unterrichtet werden. Die Mutter seufzte: „Mädchen, Mädchen —“

Diese Worte wiederholten sich ihr vor dem Entschlafen in gemessenen Abständen mehrmals: Mädchen! Mädchen! – Mädchen! Mädchen!

Dann aber träumte sie, ihr würde die Hand gestreichelt, und sie sehnte sich, Hugo Winterlicht die Hand zu streicheln. Sie pilgerte andächtig aus der Haustür in den schweren, schweren Regen. An der Wassertonne unter der Dachtraufe lehnte Hugo. Sie lief, wie sie konnte, aber der Regen hinderte. Sie mußte die einzelnen Strahlen mühsam beiseite schieben wie Taue, und über ihrem Haupte läuteten davon Glocken. Endlich erhaschte sie Hugos Hand und streichelte sie, und es streiften sich Strahlen herab, die in das dumpfe Wasser des Regenfasses fielen und wie grüne Seidenfäden darin fortleuchteten.

Sie schlief so fest, daß sie geweckt werden mußte.

Was dann?

Öde ringsum! Die Wände mit den feuerroten Quadraten.


Die beiden letzten Tage hatten ihre Seele mit Eindrücken ausgefüllt, die in ihr bisher dunkel anreizende Leidenschaften gewirkt hatten, und noch dazu, als sie unter einem alles vernichtenden Schlage danach gieriger war denn je.

Sie würde Hugo Winterlicht nur noch flüchtig begrüßen, das wußte sie: unmittelbar nach Elisabeths Begräbnis entführte ihn der Wagen aus dem stillen Talkessel und der Eisenbahnzug dann in die weite Welt.

Aber Grelert behielt sie in der Nähe, und sie war darum von Morgen an sich zu Troste beflissen, zwischen allen Eindrücken die Seelenabenteuer des gestrigen Abends nicht untergehen zu lassen. Sie bemühte sich mit dem gestrigen Auge zu sehen und mit dem gestrigen Ohre zu hören an diesem Tage, da das Kirchenfest jede Gasse aufregte, da alles, was nicht unmündig oder siech und gebrechlich war, sich mit ihr im Gotteshause zu vereinigen anschickte.

Der Himmel schaute nicht günstig auf sein Fest. Durch dunstige Nebel schien eine Aschenkruste zu lasten von der letzten Kupferfarbe des Ausglimmens. Ob im nächsten Augenblick nicht etwas gleich einem schwarzen Hagelsturz eintreten konnte?

Hermine stellte sich in ihrem Zimmer an das eine nach der Straße weisende Fenster, keusch geputzt. Sie lehnte sich an die Mauerkante. Der zurückgezogene, gelbe Vorhang faltete sich um ihren Rücken bis an die Arme. Sie ergriff ihn, raffte ihn vorn in ihren Händen zusammen, warf sich zurück und baumelte matt hin und her wie in einer Schaukel.

Sie übersah einen guten Teil der Stadt. Die Straße, die mit der Front des Dagottschen Hauses verlief, verfolgte sie nach rechts und links, bis der graue Streifen außerhalb im Felde zu Punkten verschrumpfte. Rechts hinunter lag etliche Häuser weiter der bleiche Kirchhofszaun und spiegelte sich wohl wieder in den langen, durch den Gegensatz des getünchten Rahmenholzes völlig schwarzen Fenstern des gegenüber errichteten Schulhauses. Gerade vor Hermine dehnte sich das Viereck des Marktes leer, trübe. Sie begann die runden Steinköpfe in seiner Fläche zu zählen; sie verschwammen drüben, und ihre gedrängte Schar dehnte sich ohne Ende die drei jenseits strahlenförmig entspringenden Straßen hinab. In dem einen Eckhause wohnte der Uhrmacher Winterlicht, rechter Hand, in dem anderen zur Linken lag die tote Elisabeth … Am Ende der mittleren Straße erhob sich die Kirche. Der fahle Turm steckte heute reinlich im Dunste: infolge der qualmigen Luft schien seine Wand milchiges Email, doch verschwamm Kreuz, Hahn und das Dünnste der Spitze im Ungewissen. In den zwei für Hermine sichtbaren Kirchenfenstern entglomm nach einer Weile ein gelbrotes mattes Leuchten: man zündete drinnen schon die Kronleuchter an. Die fünf Straßen mit ihren feuchten Steinköpfen bildeten nun noch öder ihren großen Stern, und der Markt war seine kahle Mitte.

Allmählich begannen viele Füße auf den harten Steinköpfen herumzutreten, zwerghaft klein. Sie trotteten unregelmäßig dahin, nicht nach dem taktmäßigen Geheul, das in der Luft lag.

Ja, die Glocken läuteten schon: tiau- uuu! tiau- uuu!

Der Menschenschwarm drängte sich nach der Kirche, schwarz, nur ab und zu unterbrochen von einem weißen Mädchenkleid. Feierlich, das Haupt gesenkt, drängte man sich, wankte man durch die Gassen. Auch die weißen Mädchen bogen ihre jungen, unbedeckten Köpfe. Meistens besaßen die Haare einen lichtblonden Glanz und waren von einem Kränzchen geschmückt.

Nur der am hellsten blonde Kopf, der Elisabeths, mischte sich nicht in die sprenklige Schar, und ihr Kränzchen aus vierzehn Jahresrosen schwankte nicht. Sie würde einzig das Haupt aufrecht tragen unter all diesen Fremden. Wenn doch ein Wunder geschähe und die Tür drüben aufginge und Elisabeth lachte herauf! …

Hermine wurde unsanft gerufen, weil es höchste Zeit geworden sei. Willenlos, Ameisenkribbeln in den Gliedern, ging sie.

Nun schleiften die Schritte neben ihr kritzend dahin.

Wo blieb nur die Sonne? Es war wirklich so dunkel wie um die Zeit, da die Hähne zu krähen anheben.

Bald waren die Tritte der Nebenmenschen nicht mehr zu hören. Immer lauter dröhnten die Glocken, die gefährlichen Glocken, denen man nicht nahe kommen durfte, die auch Glieder von weißem Sammt totschlagen. Warum rückte man ihnen immer mehr zu und schob einander am Rücken vorwärts, stieß einander an und grüßte nur so selten und steinern!

Nun war die spitzbogige Tür mit einem weißen Lamm in grauem Felde erreicht; und nun der schwerflüssige Glockenklang durch den Verschlag der dunklen Decke abgenagelt.

Die drei Kerzenkegel der Kronleuchter strömten einen leichenen Geruch aus. Eigentlich schwebten sie aber doch recht drollig wie drei große Zipfelmützen über der Gemeinde, wenn man sich halb umdrehte und mit zugekniffenen Augen hinschielte. Irgendwo waren doch Elefanten- und Bärentreiber gewesen, die gerade so flach geformte Spitzmützen über den Schädeln sitzen hatten.

Die Gesichter starrten alle wie aus gelbem Holz geschnitzt schief vor sich hin, und zwischen ihnen erhob sich das braune Gestühl ebenso unbewegt.

Als die Orgel gleich einer riesigen Hummel zu brummen begann, fuhr Hermine wie gestochen herum und betrachtete durch die Löcher der leise zitternden Krause an ihrem Kleidärmel den Boden. Er war nicht zu ergründen, dazu war es zu dunkel. Es schien sich unten eine endlose Kellertiefe zu verlieren, doch wenn man auftrat, fühlte es sich im Schwarzen ziemlich weit oben hart an.

Man sang. Hermine sah auf, blätterte in ihrem Buch und richtete wieder den Blick empor. Blanke Stimmen und darüber rostige wälzten einen klagenden Chor durch das Schiff vorwärts in die hohe Altarnische, wo der schmerzhaft gekrümmte Leib des Gekreuzigten überhing. Er war schwarz, die mageren Umrisse glichen im Dämmer denen eines Menschen, welcher zierlich einhergetänzelt kommt, die übereinander gestemmten Zehen eben zu einer Kreisdrehung bereit. Hermine wünschte ihm eine Fiedel, so wäre es der Rattenfänger von Hameln. Unterdes die gesamte Einwohnerschaft hier versammelt saß, konnte der Rattenfänger Ruth und die anderen kleinen Kinder hinauslocken … in einen paradiesischen Garten … Im nächsten Augenblick erschrak sie jäh errötend und wurde immer unruhiger, bis ihr der Spruch einfiel: Lasset die Kindlein zu mir kommen. Aber gleich darauf schämte sie sich bitter über ihre Ausflucht.

Das Lied war zu Ende, es wurde gepredigt. Hermine suchte aufzumerken. Des Pfarrers Stimme klang so andächtig und weckte fast einen Widerhall im langen Raum. Sie schien gegen die Fenster anzustoßen, an das grün und gelb gewürfelte Glas und das schwarze Gerank darin. Die Knäufe dieses Gerankes glichen schlafenden Raben. Sechs saßen links hinan, sechs rechts, einer in der Mitte, dreizehn an jedem Fenster. Eins, zwei, drei, vier, fünf – Hermine fuhr auf. Sie hörte nun genau auf jeden Satz, obwohl sie ihn nicht den früheren anreihte, und setzte in Gedanken jedes Komma und jeden Punkt, manchmal unter leisem Kopfnicken.

Als sie sodann das Glaubensbekenntnis zu sprechen aufstand, mäkelten stolze Stimmen in ihr: Warum weilt nicht Elisabeth Pfeiffer an meiner Seite, sondern die bucklige, sommersprossige Elisabeth! Gleich betäubten aber andere: O pfui, pfui über dich!

Es wurde wie von unterirdischem Verließe her gemurmelt: „Ich glaube an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden.“

Während Hermines Lippen sich wortlos nach dem Tonfall bewegten und ein Schauder über ihren Rücken lief, tanzte die Freundin leichtfüßig vor ihr und nieste lachend.

„Und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn —“

Die Lippen bebten Hermine, aber vor ihr lief der Kobold Elisabeth auf eine Pappel zu und erkletterte sie.

„Und an den heiligen Geist —“

„Mein Gott, mein Gott,“ lispelte Hermine den ganzen Abschnitt hindurch, an ihren gefalteten Händen rauh Knochen gegen Knochen pressend, fast durch die schwitzende Haut hindurch.

Mit der Absicht, sich der Einsegnung zu verweigern, trat sie vor den Altar, aber sie fürchtete sich sehr. Wenn die schläfrigen Gesichter alle aufwachen! Der Priester und die Leute im Schiffe drunten hatten Macht über sie. Sie würde bös und verständnislos ausgelächelt werden mit einer Kirche voll Dagottgesichtern. Ausgestoßen wie eine Aussätzige oder Pestbeulige!

Oder sollte sie ihnen allen trotzen?

Weh, schon lag die segnende Hand auf ihrem Haupte und spendete ihr Fluch. Es war zu spät. Sie mußte knien und knien und knien. Ihr Herz schlug heiß und hastig.

Ihr wurde unwohl, sie fürchtete sich zu sterben und schüttelte alle Zerknirschung aus Liebe zum Leben ab. Gewiß, nur müde Gesichter schauten zum Altar hinauf, schon abgespannte; die konnten ihr nichts anhaben, nie. So. Die Leuchter waren noch immer die drei Zipfelmützen, und die Dunkelheit wich noch immer nicht aus den grüngelben Fenstern; es blieb die Zeit des scheidenden Mondes, kurz bevor der Hahnenschrei kommt. So, ruhig, ruhig!

Gott hatte sie am Ende gar nicht gern, diese Einsegnung. Unzweifelhaft hatte sie nach seinen Geboten ein Recht, sich der eben Verstorbenen zu erinnern, auch jetzt. Wenn nicht, warum hatte er ihr nicht eingegeben, sich zu befreunden mit – mit? Sie drehte den Kopf zur Seite, musterte die nahen Reihen zuerst, dann die ferneren, kam an ihrem Stiefvater vorüber, räusperte sich und wiegte sich in Erinnerungen an den gestrigen Abend.

Das Ausgangslied wurde gesungen. Sie hatte Lust, mit zu wimmern, wagte es aber nicht und vertrieb die Unruhe mit erzwungenen, albernen Gedanken, sie nach dem Rhythmus des Chorals sinnlos zerstückend: „Wenn wir alle hinaus sind – löscht der Küster die Lichter aus, eins nach dem andren – und blast seine Backen – wie Lehrer Karp, der Küster – tut es“ – —

Hermine war sitzen geblieben, bis die Nachbarinnen sie drängten. Bei der Tür bildete sich ein scheckiger Keil, der sich kaum vorwärts schob. Herein hing darüber ein viereckiges Stück Himmel, ähnlich einem grauen, schmutzig angeröteten Segel. So sah es da draußen aus, nicht freundlicher als in der dumpfen Bethalle. Warum hastete man doch so dem Ausgange zu und drückte Schulter an Schulter, Fuß an Fuß? Ob dort oder hier, war das von Belang? Hermine wurde nun auch in die Menge eingepfercht. Lauter fahle Gesichter schoben sich neben ihr vorwärts, unbewegt selbst beim Flüstern, eine Parade von feierlichen Gespenstern. Ihr Körper war kalt, obgleich eingepackt.

Nachdem sie sich gesagt: „Die Kleider stecken zwischen uns …“ schaute sie fröstelnd hinaus auf das Himmelsstückchen, in dessen Ferne einen Moment verblaßte Feuerlilien schwebten, indessen mochte sie sich das auch nur vortäuschen.

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04 декабря 2019
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