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Читать книгу: «Leiche an Bord», страница 2

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»Schon geschehen«, sagte ich und steckte mein Smartphone wieder in die Jackentasche. Ich sah mich um. »Und jetzt möchte ich die Show sehen, bin ganz gespannt.«

»Stimmt!«, sagte Bruckner und sah auf seine Armbanduhr. »Wir müssen tatsächlich ein wenig auf die Zeit achten, sonst ist unser Tatort wieder auf See.«

Bruckner deutete zum Fähranleger. Alle drehten sich zu dem Schiff um, das dort direkt vor den Autorampen angedockt lag. Die MS Dargast erschien mir nicht sehr groß.

»Wir sind angemeldet und müssen uns wirklich beeilen.« Bruckner und Klaus schritten voran.

Ute ging neben mir. »Bist du wirklich ein Ami? Ich meine, dein Akzent verrät dich nicht gerade?«

Ich nickte. »New York, aber wir haben zu Hause viel Deutsch gesprochen. Meine Großeltern. Darum habe ich wohl auch gleich noch eine Deutsche geheiratet. Jetzt leben wir in Hamburg.«

»Ach!«, sagte Ute. »Ich komme aus Bremen.«

»New York!« Gisela ging jetzt auch neben mir. »Dann stimmt das mit dem Cop.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte ich. »NYPD, aber das ist wirklich nichts Besonderes. Ich bin schon ein paar Jahre in anderen Geschäften unterwegs. Darum lebe ich auch in Hamburg.«

»Was sind das für Geschäfte?«, fragte Ute.

»Immobilien, ich bin Makler. Häuser, Wohnungen, Grundstücke, Vermietungen, das ganze Repertoire.«

»Immobilien! Wie passt das denn zum NYPD?«

»Gar nicht! Meinem Schwiegervater gehört das Geschäft. Ich habe eingeheiratet. Sagt man das hier so?«

Ute nickte. »Klingt lustig, eingeheiratet, ein gezähmter Bulle.«

»Hey, ich suche wirklich eine neue Wohnung«, rief Gisela. »Da könnte ich ein paar Tipps gebrauchen.« Sie lachte. »Das sind ja manchmal Schweinehunde, diese Makler.« Sie räusperte sich. »Anwesende natürlich ausgenommen.«

Ute ließ sich nicht vom Thema abbringen. »Und dann konntest du deine Polizeimarke einfach so an den Nagel hängen?«

Ich schüttelte den Kopf. »So einfach war das tatsächlich nicht. Wären wir in New York geblieben, dann hätte ich es nicht gekonnt. Das mit Hamburg war schon entscheidend. Ich habe nur einen Fehler gemacht.«

»Und welchen?« Ute sah mich von der Seite an.

»Als wir damals nach Hamburg gezogen sind, konnte ich es nicht lassen und habe ein Internetformular des BKA ausgefüllt und meine Profilerkenntnisse großzügig angepriesen. Ja und da hat mich der Herr Kriminaloberkommissar ausgegraben.«

»Und da hat er dich bequatscht?«, sagt Ute spöttisch. »Und du hast natürlich einen riesen Vorsprung mit diesem ganzen Profilerkram, wenn du aus den Staaten kommst.«

»Ja, das hat Bruckner auch gehofft«, sagte ich lachend. Ich dachte an Quantico, hatte jetzt aber nicht das Bedürfnis, den beiden Damen auch noch davon zu erzählen. Bruckner würde es bestimmt irgendwann für mich übernehmen. Ich spürte, dass Ute mich gerne noch weiter befragt hätte, wir mussten aber etwas schneller gehen, um Bruckner und den Kollegen Klaus wieder einzuholen. Bruckner stand jetzt neben einem Mann in Schiffsuniform, der etwas in sein Walkie-Talkie sprach. Klaus winkte uns heran.

»Wir müssen wirklich Gas geben«, erklärte er. »Die machen diesmal vor der Abfahrt noch eine Übung mit den Passagieren und dann müssen wir wieder von Bord sein.«

Bruckner gab Zeichen und wir wurden mittschiffs über eine Fußgängerrampe hinauf aufs Deck geleitet. Dann ließ man uns ohne Führer gehen, weil Bruckner den Weg natürlich kannte. Ein schmaler Korridor erstreckte sich über die gesamte Schiffslänge Richtung Bug. Wir gingen jetzt hintereinander, Bruckner voraus. Ich machte den Schluss. Alle paar Meter wurde die geschlossene Schiffswand durch eine Öffnung unterbrochen und gab den Blick auf das Hafenbecken frei. An einigen Stellen roch es nach frischer Farbe. Wir erreichten das erste Schott. Eine Schiene verlief ebenerdig quer über den Korridor. Bruckner hatte die Tür bereits entriegelt und zur Seite geschoben. Er deutete mir an, dass ich den Zugang wieder verschließen solle. Das Schott ließ sich leicht bewegen und rastete mit einem sanften Klicken in die Arretierung des Türhebels ein. Wir befanden uns jetzt im Inneren der Fähre, am Rande des großen Autodecks. Es gab vier Spuren, die darauf warteten, wieder mit PKWs und LKWs gefüllt zu werden. Wir gingen weiter, kamen an zwei Aufgängen vorbei, über die die Passagiere zu den oberen Decks gelangen konnten. Fast am Ende des Parkdecks blieb Bruckner vor einer unscheinbaren Tür stehen, die in die Bordwand eingelassen war und die Aufschrift Zutritt verboten trug.

»Wir müssen noch einen Moment warten«, erklärte Bruckner, schlug seine rote Mappe auf und holte einen dünnen Stoß Papiere heraus. »Bevor ihr mit eigenen Augen seht, was sich hinter der Tür befindet, sollt ihr euch ein theoretisches Bild von der Situation machen, so als wenn ihr bereits von den Kollegen über die Gegebenheit informiert worden wäret.«

Ute meldete sich. »Aber es ist doch besser, wenn man unvoreingenommen an einen Tatort kommt.«

»Das stimmt zwar«, bestätigte Bruckner nickend, »aber wir haben hier natürlich ein Problem. Der Tatort ist längst abgeräumt. Wir werden die Situation so durchspielen müssen, als wenn der Fall neu aufgerollt wurde.«

Bruckner sah mich kurz an. Ich verzog jedoch keine Mine. Ich wusste, dass er auf unseren ersten gemeinsamen Fall anspielte. Bei einem Cold Case gab es natürlich keinen realen Tatort mehr, man musste sich auf die Sorgfalt der Kollegen verlassen, die den Fall ursprünglich bearbeitet hatten, aber letztendlich gescheitert waren. Ich war gespannt, was es diesmal sein würde. Bruckner hatte die Zettel verteilt und ließ jedem seiner Schüler etwas Zeit, die darauf abgedruckten Fotografien und den Text zu studieren. Ich schaute Gisela über die Schulter, bekam dann aber von Bruckner meine eigene Unterlage. Auf dem ersten Foto war eine schmale Metalltreppe zu sehen, die über mehrere Podeste hinunter ins Schiffsinnere führte. Zwischen Treppe und Schiffswand befand sich ein Schacht. Die zweite Fotografie war eine Aufnahme dieses Schachtes, der mit starken Scheinwerfern ausgeleuchtet war. Das Ende des Schachtes am unteren Teil der Treppe war zu den Seiten vollständig abgekapselt und musste noch ein Deck tiefer reichen, als das Ende der Metalltreppe. Der Boden des Schachtes war mit einem Pfeil und dem Wort Leichenfund gekennzeichnet.

Wir blickten alle auf, als sich Schritte näherten. Ein Besatzungsmitglied der Fähre war erschienen. Bruckner begrüßte den Mann kurz. Er schloss die Tür auf und ging ein paar Meter zur Seite. Der Matrose sollte offenbar solange warten, bis Bruckners Exkursion beendet war, um danach den Einstieg wieder zu verschließen.

Ich widmete mich noch einmal den Unterlagen. Meine Augen wanderten zwischen den beiden Fotografien hin und her, dann begann ich den Text zu lesen, wurde aber durch Giselas Frage unterbrochen.

»Sollen wir unsere Einschätzung der Situation auf der Rückseite des Blattes notieren?« Sie hatte bereits einen Kugelschreiber gezückt.

Bruckner schüttelte den Kopf. »Diesmal machen wir es anders. Wenn alle fertig sind, werden wir hineingehen und uns die Lokalität ansehen.«

Gisela klickte zweimal mit ihrem Kugelschreiber, nickte dann und nahm sich wieder den Zettel vor. Ich tat dasselbe und las den Text zu Ende. Es waren nur wenige Absätze. Bei dem Toten, der auf dem Schiff gefunden wurde, handelte es sich um einen männlichen Weißen, Mitte bis Ende vierzig. Die Kleidung wurde beschrieben: schwarze Halbschuhe, hellblaue Jeans, dunkelgraues Oberhemd, eine schwarze Übergangsjacke aus Nylon. Im Innenfutter der Jacke steckte ein nagelneuer Stockholmer Stadtplan der Marke Falk. Auf der zweiten Hälfte des Zettels gab es dann noch ein paar Fakten aus dem Obduktionsbericht, der mit der Tatsache schloss, dass keine Hinweise auf einen gewaltsamen Tod durch Einwirkung Dritter festgestellt werden konnten. Bruckner hatte mit Absicht diese bürokratisch sachliche Formulierung gewählt, weil sie im ersten Moment davon ablenkte, dass ein Mensch gestorben war.

Eine wichtige forensische Information bot der Obduktionsbericht dann aber doch noch. Der Tote hatte offensichtlich einen kardiologischen Befund, was allein durch die Tatsache unterstrichen wurde, dass Rückstände eines Herzglykosids in den Organen nachgewiesen werden konnten und dass das Mittel voraussichtlich nicht länger als einen Tag vor dem Tod eingenommen worden war. Auffällig war, dass das Herzglykosid den Laborwerten zufolge in einer sehr hohen Dosis eingenommen wurde.

Fast zeitgleich blickten alle auf. Bruckner nickte und öffnete die Tür. Er ließ uns vorangehen. Wir drängten uns auf dem schmalen Podest vor dem Treppenabgang. Wir wechselten mehrfach die Position, bis alle die Gelegenheit hatten, in den Schacht zu blicken, der jetzt natürlich nicht mehr ausgeleuchtet war. Das Ende des Schachtes lag dunkel in der Tiefe des Schiffsrumpfes. Ich ging auf der Metalltreppe zunächst ein Podest tiefer, konnte beim Blick in den Schacht den Boden aber immer noch nicht erkennen.

»Ihr könnt gerne ganz nach unten gehen«, sagte Bruckner über mir zum Rest der Gruppe. »Bitte immer zu zweit, es ist ja sehr eng, wie ihr seht.«

Ute war plötzlich hinter mir und wir unternahmen den Abstieg gemeinsam. Die Metalltreppe führte über sechs Podeste, die schätzungsweise durch drei ganze Decks gingen. Wir waren noch nicht ganz unten, als die Einsicht in den Schacht durch senkrecht stehende Metallbleche versperrt wurde. Der Boden des Schachtes war also nur zu erreichen, wenn man auf den letzten vier, fünf Metern direkt von oben in den Schacht einstieg. Auch am Ende der Metalltreppe kam man nicht mehr an den Schacht heran. Der Weg nach unten endete vor einer weiteren Tür. Ich probierte es, aber die Tür, wo immer sie hinführte, war verschlossen. Wir machten uns auf den Weg zurück nach oben und wurden durch Klaus und Gisela abgelöst. Bruckner blieb als Einziger oben und führte uns wieder hinaus auf das Parkdeck, nachdem auch Klaus und Gisela wieder aus der Tiefe des Schiffes zurückgekehrt waren. Der Matrose wartete noch, schloss direkt hinter uns die Tür ab und ging davon.

»So, nun habt Ihr den Leichenfundort gesehen«, begann Bruckner. »Ihr solltet jetzt ein paar Informationen zu diesem Fall erfragen, sodass wir auf ein Täter-Opfer-Profil hinarbeiten können, auch wenn sich hinterher herausstellt, dass es sich nicht um ein Tötungsdelikt gehandelt hat.« Bruckner sah in die Runde, bevor er fortfuhr. »Bezogen auf den Fundort ist noch zu bemerken, dass das Opfer laut Obduktion seit etwa einer Woche tot war.«

Gisela meldete sich und deutete auf die Unterlage, die wir alle noch in Händen hielten. »Dann ist aber der Obduktionsbericht nicht neutral.«

»Doch, weil es Fakten sind«, warf Bruckner ein. »Der Gerichtsmediziner hat keine Indizien einer Gewalteinwirkung durch Dritte feststellen können. Eine Bestätigung oder Beweise dagegen muss der Fallanalyst vorlegen. Das ist Eure Aufgabe als angehende Profiler.«

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Klaus.

»Jemand von der Besatzung«, antwortete Bruckner. »Zum Glück war das hier in Sassnitz, nachdem die Fähre sich gerade geleert hatte und die neuen Passagiere noch nicht an Bord waren. Natürlich wurde die Fähre nicht mehr aus dem Hafen gelassen. Man hat dann sofort die Polizei verständigt. Die Kollegen der Kriminalpolizei sind gekommen und ein Mordermittler aus Brandenburg, der auch gleich ein Team der Spurensicherung mitgebracht hat. Die Fähre wurde sogar für den Rest der Woche stillgelegt. Die Fachleute haben sich Zeit gelassen, die Leiche zu bergen.« Bruckner deutete auf die Tür hinter sich. »Es ist nicht so einfach einen Körper aus einem verschlossenen Schacht zu befreien, und dabei gleichzeitig mögliche Tathergangsspuren zu erhalten. Am Ende waren die Fakten allerdings ganz eindeutig. Das Opfer wurde nicht beraubt. Er hatte noch seine Brieftasche bei sich und man konnte ihn sofort identifizieren. Den Rest kennt ihr aus dem Fazit des Obduktionsberichtes, darum sollte unsere Aufmerksamkeit auch auf etwas Anderem liegen.«

Den letzten Satz hatte Bruckner wie eine Frage formuliert und er hatte die ganze Angelegenheit so dargestellt, als sei der Fall noch ganz frisch. Ich verstand, dass dies das Vorgehen bei der Schulung war. Die Teilnehmer sollten die nächsten Ermittlungsschritte vorgeben. Dann würden sie es diskutieren und Bruckner würde am Schluss darlegen, wie der Fall tatsächlich abgelaufen war. Dann benutzte Bruckner noch ein Hilfsmittel. Er zückte sein Mobile und wählte eine Diktier-App aus. Das hatte er von mir gelernt. Voicememos nenne ich das.

Ute meldete sich, Bruckner hielt ihr das Telefon hin. Sie kannte die Prozedur bereits. Sie beugte sich zu dem Gerät. »Wenn er schon eine Woche in dem Schacht lag, wird es schwierig sein, die Mitpassagiere zu ermitteln und zu befragen.«

»Warum?«, warf Klaus sofort ein und ging ebenfalls näher an Bruckners Mobile heran. »Es gibt doch bestimmt Passagierlisten.«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Bei so einer Fähre nicht. Niemand braucht beim Ticketkauf seinen Personalausweis vorzeigen. Die Reederei kennt nur in Ausnahmefällen die Namen der jeweiligen Passagiere.«

»Was ist mit dem Zoll?« Klaus blieb an dem Thema dran. »Die Leute mussten in Trelleborg doch zur Passkontrolle.«

»Hey, Klaus, weißt du nicht, dass du im Schengenerraum lebst. Da gibt es keine Grenzkontrollen mehr«, rief Ute lachend.

Klaus sah sie böse an.

»Die Idee mit dem Zoll ist gar nicht so abwegig«, beschwichtigte Bruckner. »Es gibt immer noch Kontrollen, wenn den Zollbeamten etwas merkwürdig vorkommt, aber diese Erhebung ist natürlich bei Weitem nicht vollständig.«

»Gibt es eine Videoüberwachung?«, fragte Gisela. »Ich kann mir gut vorstellen, dass dieser Bereich hier, wo die Fahrzeuge aufs Schiff kommen, videoüberwacht ist.« Sie sah sich um, suchte nach einem Hinweis auf Kameras.

»Das wäre ein Ansatz«, bestätigte Bruckner, »aber so gut sind die hier nicht ausgerüstet.«

»Also keine Videoaufzeichnungen, die den Tathergang zeigen oder vielleicht sogar, mit wem der Tote während der Überfahrt Kontakt hatte«, stellte Klaus nachdenklich fest und überlegte. »Bleibt also nur die Mannschaft. Wurde die Mannschaft verhört?«

Alle traten jetzt näher an Bruckner heran, damit die kommende Diskussion besser vom Mikrophon des Smartphones erfasst werden konnte.

»Stimmt, die Mannschaft ist der erste Ansatz«, bestätigte Bruckner. »Ein Matrose hat ihn gefunden, als er diesen Aufgang vom Bilgendeck zum Parkdeck genommen hat. Der Mann hat mit seiner Taschenlampe in den Schacht geleuchtet.«

»Benutzt denn sonst niemand diese Treppe?«, fragte Klaus. »Eine Woche ist doch schon eine sehr lange Zeit.«

»Es ist nicht klar, wie oft einzelne Besatzungsmitglieder den Aufgang benutzt haben, ohne etwas zu bemerken. Der besagte Matrose hat laut Aussage einen Geruch wahrgenommen, einen Verwesungsgeruch. Er hat zunächst an Ratten gedacht und daraufhin seine Taschenlampe in den Schacht gehalten.«

»Und ist wahrscheinlich vor Schreck umgefallen«, kommentierte Ute.

»Ganz im Gegenteil. Der Mann hat sich sehr professionell verhalten. Er hat nichts unternommen, sondern hat gleich seine Offiziere gerufen und die haben auch nichts unternommen, außer die Polizei zu informieren.«

»Wann wurde die Leiche eigentlich gefunden, ich meine, wann hat sich das Ganze ereignet?«, fragte Gisela.

»Richtig, diese Fakten fehlen noch«, antwortete Bruckner. »Es ist für unsere Schulung zwar nicht primär wichtig, aber vielleicht verstecken sich dahinter doch Informationen, die den Profiler interessieren sollten.« Bruckner überlegte, machte dann die Angaben aus seinem Gedächtnis. »Am 17. Dezember 2012, einem Montag, morgens um neun. Die Fähre sollte um 10:30 Uhr ablegen. Die Schutzpolizei war gegen halb zehn an Bord und hat den Tatort gesichert. Erst gegen Mittag waren der Mordermittler und die Spurensicherung in Sassnitz. Die Leiche wurde noch am selben Tag geborgen. Bei der ersten Leichenbeschau wurde auffällig, dass es nur geringe äußere Verletzungen aufgrund des Sturzes gab. Getötet wurde das Opfer durch einen beim Aufprall auf dem Schachtboden erlittenen Genickbruch.« Bruckner zögerte und sah in die Runde. »Und mit diesen Fakten seid ihr jetzt hier an Bord. Stellt euch vor, dass ihr bei der Leichenschau anwesend wart und mir auch eure Fragen an den Gerichtsmediziner stellen könnt.«

Gisela meldete sich. »Genickbruch. Könnte der auch von einem Schlag herrühren, den das Opfer vor dem Sturz erlitten hat?«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Es gab keine Verletzungen, die darauf hinweisen. Alle erlittenen Verletzungen stammen mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit vom Sturz.«

»Neunzig Prozent«, wiederholte Ute. »Die restlichen zehn Prozent lassen also Raum für Spekulationen?«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Du wirst nie eine Hundertprozentaussage von der Obduktion bekommen. Aber wir können das dennoch einmal durchspielen. Einer Person das Genick zu brechen, zum Beispiel mit einer Keule, würde eine große Kraftausübung erfordern, die wiederum eindeutig erkennbare äußere Verletzungen nach sich zieht. Die wurden aber nicht gefunden.«

Ute nickte. Gisela meldete sich erneut. »Es stellt sich die Frage, wie der Tote da hineingefallen sein kann? Erstens: Er ist gefallen, in Form eines Suizids. Zweitens: Er ist gefallen, in Form eines Unfalls. Drittens: Ein oder mehrere Personen haben nachgeholfen.«

»Genau so müsst ihr das aufbauen«, sagte Bruckner nickend. »Und in diesem Stadium noch keine Entscheidung treffen. Hütet euch vor einer Entscheidung. Gibt es eine vierte Möglichkeit?«

Gisela und Ute schienen zu überlegen. Klaus ging zur Tür, die zum Schacht führte. »Kann man da noch einmal rein?«

Bruckner sah sich um, der Matrose mit dem Schlüssel war nicht mehr zu sehen. »Ich fürchte nicht. Worum geht es dir denn?«

»Ich würde das Geländer der Treppe vermessen. Vielleicht war er nur zu schnell auf der Treppe unterwegs und ist gestolpert«, sagte Klaus.

»Das hatte Gisela schon, Punkt zwei, Unfall«, erklärte Bruckner. »Aber du hast recht, es ist natürlich wichtig, die Wahrscheinlichkeit eines Unfalls anhand dieser Indizien abzuwägen.«

Ich durchschaute Bruckners Methode, die tatsächlich noch besser in einem Zweierteam funktionierte. Man hätte die Fragen und Antworten natürlich auch aufschreiben können, zum Beispiel an einem Flipchart, um später auch Querverbindungen anlegen zu können. Ganz sicher würde das beim Abspielen der Tonaufnahme noch geschehen, sobald die Gruppe wieder in ihrem Unterrichtsraum war.

Gisela hob die Hand. »Die Unfall- und die Suizidthese lassen sich vorerst am wenigsten belegen. Wir sollten also nach dem Ausschlussverfahren vorgehen und weitere Hinweise sammeln, die ein Verschulden Dritter eindeutig ausschließt, um wieder auf die Thesen Unfall und Suizid zu kommen.«

»Das klingt kompliziert, so wie Gisela es gesagt hat, aber die Herleitung ist sauber«, bestätigte Bruckner. »Was gibt es also zu überlegen?«

»Die Passagiere sind im ersten Ansatz nicht zu greifen, wie wir gehört haben«, begann Klaus. »Die Mannschaft also. Was hat die Mannschaft gesehen. Welches Ergebnis haben die Befragungen ergeben?«

»Der Bericht enthält insgesamt siebenunddreißig Zeugenbefragungen.« Bruckner erzählte diese Details nicht das erste Mal. »Es gab tatsächlich neun Besatzungsmitglieder, die sich anhand der Fotografie des Toten, an den Mann erinnerten.«

»Moment«, unterbrach Ute. »Es wurde aber doch ein Lebendbild von dem Opfer verwendet, ansonsten wäre die Wiedererkennungsquote sicherlich niedriger.«

»Da wurde sauber gearbeitet«, bestätigte Bruckner. »Neun Zeugen konnten sich an den Mann erinnern, dass er als Passagier auf der Fähre war. Schwieriger war es allerdings mit dem Datum und der Häufigkeit. Einige Zeugen meinten, dass der Tote öfter auf der Fähre gewesen sei und nicht nur bei einer Überfahrt.«

Klaus hob die Hand. »Wer war er? Anonyme Mitpassagiere müssen wir zwar ausschließen, aber vielleicht ist er nicht allein gereist. Was haben die neun Zeugen aus der Mannschaft gesagt, haben sie den Toten eventuell in Begleitung gesehen?«

»Gutes Argument.« Bruckner hatte Klaus Worte aufgezeichnet. »Weiter.«

Ute sah sich um. »Das hier ist eine Autofähre«, stellte sie fest. »Wurde sein Auto auf der Fähre gefunden?«

»Sehr gut!« Bruckner nickte. »Info für euch, kein Auto. Wenn eines auf der Fähre gefunden worden wäre, hätte man vermutlich nach dem Fahrer gesucht. Welche Thesen zum fehlenden Auto?«

»Beziehungstat«, sagte Gisela. »Opfer und Täter gehen gemeinsam aufs Schiff, nur der Täter fährt allein wieder runter.«

»Warum Täter, warum keine Täterin?«, warf Klaus ein.

Ute nickte zustimmend. »Beziehungstaten schließen alles ein, Liebesbeziehung, Freundschaft und sogar geschäftlich. Wichtig, Täter und Opfer waren sich nicht unbekannt und davon wusste voraussichtlich auch die persönliche Umgebung des Opfers. Im Umfeld des Opfers muss daher geklärt werden, mit welcher der genannten Beziehungspersonen eine Reise auf der Fähre möglich war oder angekündigt oder sogar nachweislich vollzogen wurde.«

»Toll, jetzt kommt ja einiges zusammen«, sagte Bruckner euphorisch. »Bei diesem Fall können wir natürlich nicht mit den echten Beziehungspersonen oder dem persönlichen Umfeld des Toten arbeiten, aber ich habe für unsere Nachbesprechung einiges vorbereitet, das aus Datenschutzgründen natürlich fiktiv ist. Was noch?«

Klaus machte weiter. »Aus welcher Richtung kam er? Ist er auf dem Weg nach Trelleborg gestorben oder befand er sich auf dem Rückweg? Hat sich in Schweden etwas ereignet, das einen Suizid nach sich gezogen hat? Gibt es in Schweden Beziehungspersonen, die darüber Auskunft geben können?«

»Sehr gut. Diese Schlüsselfragen halten wir ebenfalls fest«, sagte Bruckner.

»Wir haben noch keine Antwort«, sagte Ute zu Bruckner.

»Entschuldigung, was war noch mal die Frage?«

»Das Auto des Toten war nicht auf der Fähre. Wie ist er nach Trelleborg gekommen oder nach Sassnitz oder stammte er sogar von hier?«

»Gut, verstehe. Ich habe euch noch nichts von seinen Papieren erzählt«, sagte Bruckner. »Seine Papiere waren alle noch vollständig da. Er hatte einen Führerschein und Wagenpapiere. Sein Wagen wurde später im Parkhaus nebenan gefunden. Nehmt das als Fakt um die Fragen zu stützen, die ihr schon gestellt habt.«

Ute überlegte. »Der Wagen wurde also gefunden. Hat sich die Spurensicherung den Wagen vorgenommen?«

»Das ist ein Aspekt, den ihr sicherlich aufnehmen solltet«, sagte Bruckner. »Auto, Parkhaus, Fähre mir fehlt noch etwas.«

»Das machen doch viele Touris so«, rief Klaus. »Die kommen mit dem Auto nach Rügen und steigen um in den Reisebus. Schwedenrundtour.«

»Oder einen Tag in Trelleborg.« Gisela reckte sich zu dem Gerät in Bruckners Hand. »Da wird die Beziehung zu den Mitreisenden nicht so stark gewesen sein, wenn man eben nur einen Tag zusammen ist.«

»Sehr gut, das Stichwort Städtetrip ist meiner Ansicht nach wichtig«, erklärte Bruckner.

»Ach, ich weiß.« Klaus fasste sich an die Stirn. »Wir quatschen die ganze Zeit hier und keiner erinnert sich mehr an den Stadtplan, der bei dem Toten gefunden wurde.«

»Stockholm, der Mann war auf einer Busreise nach Stockholm«, folgerte Ute. »Das grenzt die Busreisen ein, es lassen sich leichter Beziehungspersonen, zum Beispiel unter Busmitreisenden ermitteln. Wegen der Versicherung wird das Reisebusunternehmen Passagierlisten haben.«

»Ist aufgenommen!« Bruckner wedelte mit seinem Smartphone.

Ich bekam den Eindruck, dass sich in kurzer Zeit schon einiges angesammelt hatte. Ich sah auf die Uhr. So kurz war die Zeit gar nicht. Wir waren schon beinahe eine dreiviertel Stunde an Bord der Fähre. Bruckner war es jetzt auch bewusst. Er kündigte eine letzte Runde an.

»Ich möchte zum Abschluss von jedem eine Einschätzung zum Leichenfundort haben«, erklärte er. »Was sind eure Emotionen?«

»Ungewöhnlicher Ort zum Sterben.« Klaus räusperte sich.

»Es war Glück, dass er gefunden wurde. Eine Leiche an Bord schippert jahrelang über die Ostsee.« Gisela zitterte bei ihrer Einschätzung.

»Menschliches Versagen. Warum konnte der Passagier da überhaupt rein.« Ute schüttelte den Kopf. »Ich wette, seit der Sache sind die dreimal so gründlich.«

Gisela nickte. »Haben wir ja gesehen.«

Bruckner sah schließlich auch mich an. Ich zögerte kurz, aber mir fiel eben nur ein Wort ein. »Mord!«

Klaus wollte etwas erwidern, doch Bruckner drückte demonstrativ auf den Off-Knopf seiner Diktier-App. »Kein Kommentar, ihr kennt die Regeln.«

Wir verließen das Parkdeck, nahmen denselben Weg zurück über den Deckskorridor an Backbord und gingen über die Rampe vom Schiff. Wir steuerten auf einen VW-Bus zu. Ich brauchte Bruckner nicht zurück nach Sassnitz zu bringen, er würde bei seinen Kursteilnehmern mitfahren. Bruckner und ich blieben ein paar Meter hinter den anderen.

»Das wird gleich noch einmal interessant, wenn wir wieder im Seminarraum sind. Willst du noch mitkommen«, fragte er mich und schien das Du extra zu betonen.

Ich lächelte. »Das könnte es, aber ich muss nicht jedem Cold Case hinterherrennen, auch wenn alles zur Hälfte konstruiert ist. Ich werde mir den Unterricht ein anderes Mal ansehen. Vielleicht findet der Kurs ja irgendwann einmal in Hamburg statt, dann hätte ich bestimmt auch weniger Zeitdruck.«

Bruckner zuckte mit den Schultern. »Schade. Es ist aber schon ein echter Fall, nur weil die Lösung so unspektakulär ist, übergehe ich das Lösungsstadium und konzentriere mich darauf, alle möglichen Profilerwege mit den Kursteilnehmern durchzugehen.«

»Jedenfalls war das heute doch recht interessant für mich, lieber Kurt«, sagte ich, klopfte Bruckner auf die Schulter, wandte mich dann von ihm ab und gab den Damen die Hand.

Ute hielt mich eine Sekunde länger fest. »Ich würde gerne mal richtige amerikanische Fälle kennenlernen, aber nicht solche aus dem TV.«

»Kurt kennt einige meiner alten Fälle«, antwortete ich lächelnd. »Ihr müsst ihn mal danach fragen.«

Ich wandte mich weiter an Klaus, der grinste. »Wir wissen mehr über dich, als du denkst.«

Bruckner schüttelte den Kopf. »Niemand kennt Agent Tillman Halls so richtig, nicht einmal ich.«

Ich ließ es so stehen und ging zu meinem Wagen. Es lagen noch mindestens vier Stunden Autofahrt vor mir.

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