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Am nächsten Tag muss ich zu einer Magnetresonanz-Untersuchung in die Landeshauptstadt St. Pölten. Wie genau meine Mutter es geschafft hat, so schnell den nächsten Untersuchungstermin zu bekommen, ist mir schleierhaft. In jedem Fall ist sie dafür den ganzen Abend am Telefon gehangen. Ich überstehe die Prozedur mit meiner schon im Goldenen Kreuz erprobten Methode des passiven Widerstandes. Meine Mutter scheint das nicht zu stören, solange ich alles mit mir machen lasse, was sie und die Ärzte von mir verlangen.

Danach ist erst einmal Ruhe. Das Nikolaus-Fest steht vor der Tür. Traditionell feiern wir es bei meinen Großeltern, und diese Feier scheint mir der ideale Ort zu sein, um in die Normalität zurückzukehren und den Spitals-Albtraum hinter mir zu lassen.

Es ist früher Nachmittag und noch hell draußen. Als wir Kinder jünger waren, hat sich mein Stiefvater an diesem Tag manches Mal als Nikolaus verkleidet und uns die Jutesäckchen, die mit Mandarinen, Äpfeln, Nüssen, Schokoladekrampussen und Vanillekeksen von Oma gefüllt waren, gegen Vortrag eines kurzen Gedichts überreicht. Schon als ich vier Jahre alt war, habe ich ihn beim Betreten des Hauses an seinen Schuhen erkannt.

Wir sitzen um den großen Esstisch, meine Brüder reden und lachen. Mein Opa spricht über die Fußballsaison, über die Leistungen seiner Lieblingsmannschaft Rapid, beklagt Spritpreise, das immer teurer werdende Service seines Autos und amüsiert sich über meine Geschichten aus dem Internat. Über meine Gesundheit spricht hier niemand, und darüber bin ich heilfroh.

Da mein Opa mich oft zur Schule fährt und ebenso oft zu den Matches begleitet, kennt er die meisten meiner Klassenkollegen und fragt mich gerne über ihre neuesten Streiche und Späße aus. Wenn ich ihm davon erzähle, verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er wird weicher und milder und sein spitzbübisches Lachen erinnert mich dann an das eines kleinen Jungen. Die Großmutter will wissen, ob es schon einen Termin für die Weihnachtsfeier im Fußballverein gibt, fragt, ab wann ich und meine Brüder trainingsfrei haben, was die Schule macht und ob im Heim ordentlich gekocht wird. Ich sage, dass das Essen in unserer Kantine nicht annähernd so gut schmeckt wie das ihre, und sie lächelt zufrieden. Mein Stiefvater setzt sich neben meinen Opa, spricht mit ihm über den österreichischen Fußball. Sie diskutieren, ob Rapid es schaffen wird, dieses Jahr den Meistertitel zu holen, sind sich einig, dass das Nationalteam nicht mehr so gut ist und seine Spieler nicht mehr so ehrgeizig sind wie früher.

»Die Burschen sind alle zu verwöhnt. Es spielt ja keiner mehr in seiner Freizeit im Park«, sagt mein Opa und schüttelt den Kopf. Mein Stiefvater nickt und holt Naschereien aus der Küche. Wie immer hat meine Mutter sie schon zwei Wochen zuvor für uns besorgt. Aber sie ist diesmal nicht wie sonst bei unserer Feier dabei. Sie trifft sich in Wien mit einem gewissen Professor Helmut Gadner. Natürlich weiß ich, dass es dabei um mich geht.

In den vergangenen zwei Tagen hat meine Mutter ihre manische Telefonaktivität noch gesteigert. Sie hat pausenlos mit Medizinern telefoniert, Meinungen eingeholt und das weitere Vorgehen geplant. Ich selbst war damit beschäftigt, die Erinnerungen an die Operation und die Untersuchungen im Krankenhaus zu verdrängen. Ich habe mich entschieden, über die möglichen Konsequenzen einfach nicht nachzudenken. Ich möchte Profisportler sein, und Profisportler sind nicht ernstlich krank.

Meine Brüder streiten gerade darüber, ob Ronaldo oder Figo der bessere Fußballer ist, als meine Mutter auf einmal im Zimmer steht. Niemand von uns hat sie das Haus betreten gehört, keiner damit gerechnet, dass sie so schnell wieder aus Wien zurück sein würde.

Sie sieht mich an. Ihr Blick ist so konzentriert, dass ich das Gefühl bekomme, es seien nur wir beide im Raum.

»Pack deine Tasche, Nino!«, sagt sie, »wir müssen ins Spital.«

Ihre Stimme klingt einen Halbton tiefer als gewöhnlich.

»Jetzt!? Sofort!?«, stottere ich. Ich kann nicht glauben, dass sie mich aus der gemütlichen Atmosphäre reißen will. Sie nickt, und ihr Gesicht hat die Farbe von kalkigem Stein.

Ich achte nicht darauf, wie meine Großeltern, meine Brüder und mein Stiefvater reagieren. Ich spüre bloß, wie ein Wall der Abwehr in mir wächst. Ich steige bloß wegen der Blässe meiner Mutter in den Wagen, wegen ihrer versteinerten Körperhaltung und ihrer veränderten Stimmlage. All das gibt mir ein Gefühl, als hätten mich zwei schrankbreite Türsteher untergehakt, um mich wer weiß wohin zu befördern. Widerstand zwecklos.

Die gesamte Fahrt über sprechen wir kein Wort miteinander. Es ist diese Ruhe vor dem Sturm, die mir mehr Angst macht als alles andere. Denn während der Autofahrten der vergangenen Tage habe zwar ich meine Mutter angeschwiegen, um meinen Widerwillen zum Ausdruck zu bringen. Aber sie hat sich, wie sie es immer tut, trotzdem bemüht, wenigstens ein bisschen Konversation zu betreiben, auch wenn sie dabei in mir ein denkbar ungeeignetes Gegenüber hatte.

Diesmal geht das Schweigen von ihr aus, und es ist so drückend, dass ich es nicht wage, es zu brechen. Dabei ist mir die Stille plötzlich so unangenehm, dass ich meiner Mutter dankbar wäre, wenn wir irgendein belangloses Gespräch führen würden. Aber es geht nicht, und das macht mir den Ernst der Lage auf die schrecklichste Weise bewusst.

Das St. Anna Kinderspital liegt ganz in der Nähe vom Goldenen Kreuz, wo vor drei Tagen der Eingriff vorgenommen wurde. Als ich aus dem Wagen steige, will ich deshalb in die andere Richtung gehen. Meine Mutter hält mich zurück. Sie deutet stumm auf den richtigen Eingang. Ich lese den Namen des Spitals dreimal. Werbebilder von Spendenkampangen poppen in meinem Kopf auf. Ich sehe Kinder mit durchscheinender Haut. Bläulich schimmernde Adergeflechte. Die Kinder haben keine Haare. Nicht einmal einen Flaum, weder Brauen noch Wimpern. Durch die fehlende Begrenzung wirken ihre Augen riesig. Mein Magen dreht sich um, sodass ich fast die paar Weihnachtskekse wieder loswerde, die ich bei meinen Großeltern essen konnte, bevor meine Mutter mich gekidnappt hat.

»Was machen wir hier?«, schreie ich. Meine Mutter greift nach meiner Hand, hält sie fest, als wollte sie einen möglichen Fluchtversuch unterbinden.

»Du musst ein paar Tage mit Cortison behandelt werden. Währenddessen werden weitere Untersuchungen durchgeführt, damit sie mit Sicherheit sagen können, woran du leidest.«

»… leidest.« Ich will das Wort nicht hören. Seine Buchstaben hämmern in meinen Kopf.

Wir treten durch ein Glastor. Unsere Schritte hallen. Meine Mutter scheint mit jedem Meter zu schrumpfen. Mir fällt ein, dass sie schon einmal hier war. Es liegt Jahre zurück, aber sie hat mir einmal davon erzählt, als wir beide noch nicht ahnen konnten, dass wir dieses Gebäude jemals gemeinsam betreten würden.

Die Cousine meiner Mutter ist in diesem Haus gegen Leukämie behandelt worden. Mit sechzehn Jahren ist sie in einem der Zimmer an der Krankheit gestorben. Als mir das einfällt, und ich zu wissen glaube, dass auch meine Mutter daran denkt, explodiert Hitze in mir wie eine Bombe. Ich habe das Gefühl niederzubrechen, aber meine Beine machen einfach weiter, als würden sie nicht zu mir gehören. Meine Mutter hält meine Hand, als würde sie sie nie mehr loslassen wollen.

Ich erinnere mich, wie meine Mutter mir von dem viel zu kleinen Gesicht ihrer Cousine erzählt hat, das mit dem Fortschreiten der Krankheit immer weiter zu schrumpfen schien, von ihren Oberschenkeln, die so dünn wie die Oberarme gesunder Kinder waren. Damals musste man das St. Anna Kinderspital durch eine Schleuse betreten. Darin wurde man von Kopf bis Fuß mit Desinfektionsmittel besprüht und musste danach Schutzkleidung überziehen, um keine Keime in das Innere des Krankenhauses zu tragen.

Zwar gibt es die Schleuse nicht mehr, aber der Weg durch das Glastor und die Eingangshalle kommt mir trotzdem vor wie ein Gang zum Schafott, und ich weiß, dass es meiner Mutter genauso gehen muss.

Wir stehen in der Eingangshalle. Ich blicke mich um, sehe kleine bunte Sessel. Gelb und rot. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen. Es riecht nach Desinfektionsmittel und seltsam bitter. Ich betrachte meine Umgebung, als sähe ich sie durch eine Trennscheibe. Hinter den vordergründig fröhlichen Farben und den lustigen Bildern spüre ich entsetzliche Dunkelheit. Ich frage mich, wie viele Kinder in diesem Haus schon gestorben sind. Meine eigene Welt schrumpft auf dieses Krankenhaus zusammen.

»Muss ich jetzt sterben?«

Der Satz bricht aus mir heraus. In diesem Moment bin ich kein selbstbewusster Jugendlicher mehr, und schon gar kein Profisportler. Sondern ein kleiner Bub. Ein Kind, das Schutz bei seiner Mutter sucht, von der es weiß, dass sie doch immer alles heilen kann. Doch meine Mutter schweigt. Ich sehe, dass sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Es gelingt ihr nicht. Wir weinen beide. Weinen hemmungslos in der Eingangshalle stehend, bis eine Schwester kommt und uns zur Seite nimmt.

Günther
Diagnose Nierenkrebs 1976 im Alter von 3 Jahren

Auch Günther hat früher viel geweint. Die Bilder aus seiner frühesten Kindheit sind wie in Tränen gebadet. Er war zu klein, um zu verstehen, was mit ihm geschieht, aber Schmerz und Angst empfand er deshalb nicht weniger.

Heute wünscht sich Günther ein Auffangnetz. Einen Anker für die Zeit nach der Entlassung aus dem Spital. Menschen, die an Krebs erkrankten Kindern und ihren Eltern, den Geschwistern und anderen Betreuungspersonen für die Beantwortung offener Fragen zur Verfügung stehen, die raten und unterstützen können, vielleicht, um auch nur verständnisvoll zuzuhören oder zu trösten.

Inzwischen gibt es in Österreich eine solche Gruppe von Menschen – die Survivors – die als Kinder selbst von der Krankheit betroffen waren, nun gesund sind und sich für die Anliegen und Rechte der kleinen Krebspatienten einsetzen, sie im Spital besuchen, um ihnen Mut zuzusprechen und regelmäßige Treffen veranstalten, an denen diese nach ihrer Entlassung teilnehmen können. Günther gehört schon lange dazu.

Heute gibt es auch die Kinderkrebshilfe, in der ehemalige Patienteneltern die Väter und Mütter akut erkrankter Kinder unterstützen. Damals, als Günther mit drei Jahren an Nierenkrebs im Endstadium gelitten hat, ihm eine Niere entfernt werden musste, er monatelang Chemotherapie erhielt und bestrahlt wurde, schließlich mit einer offenen Operationswunde, die nicht verheilen wollte, aus dem Spital entlassen wird, gab es solche Organisationen noch nicht. Günthers Eltern sind ratlos, wie sie sich weiter verhalten sollen, wie ihr Kind, das schon im Sterben gelegen hat und für das mancher Arzt keine Chance mehr gesehen hat, nun auf die gesündeste Weise zu behandeln ist.

Sie entscheiden sich, ihren Sohn zu schonen, soweit es nur geht. Bis zum Schuleintritt kennt Günther weder Regeln noch Verbote. Er wird unter einen imaginären Glassturz gestellt, behütet und verwöhnt – wer kann es seinen Eltern verdenken? Auch sein Umfeld, die Kindergärtnerinnen und andere Betreuungspersonen, reagieren ähnlich, gibt es doch damals weder im Krankenhaus noch an anderer Stelle gut ausgebildete Mitarbeiter, an die man sich nach der Entlassung mit seinen Fragen, Ängsten und Befürchtungen wenden kann.

Statt ihnen Verständnis entgegenzubringen, rät ein Kassenarzt Günthers Eltern gar dazu, die Situation locker zu nehmen. Schließlich könnten die beiden es ja jederzeit mit einem neuen und gesunden Geschwisterchen für Günthers großen Bruder probieren.

Günther kann sich an die Zeit seiner Erkrankung nur noch schemenhaft erinnern. Einige Ereignisse sind ihm im Gedächtnis geblieben, vor allem aber die unermesslichen Schmerzen. Wie er diese damals hat überleben können, fragt er sich heute, wenn er zur Aufarbeitung seiner Krankheit versucht, sich noch einmal in die damalige Zeit hineinzuversetzen.

Die Erfahrungen, die Günther durch die fehlende Nachsorge gemacht hat, prägen sein Leben. Durch das regellose Aufwachsen und die Überbehütung ist es ihm schwergefallen, sich einzufügen, wo Anpassung gefordert war. So ist er schon in der Volksschule ein Schüler, der sich gegen unliebsame Aufträge sträubt, nicht verstehen will, warum er zurechtgewiesen wird, wenn er doch nur tut, was ihm Spaß bereitet. Später fliegt er wegen seines aufmüpfigen Verhaltens von der Schule.

Er ist ein Querdenker, einer, der den Mund nicht hält, wenn er findet, dass es etwas zu sagen gibt. So arbeitet Günther unermüdlich daran, die Nachsorge von Krebspatienten und deren Angehörigen in Österreich zu verbessern, prangert Missstände an, ist in Kontakt mit Organisationen im Ausland und immer auf der Suche nach Ideen. Er hatte die Idee, das Angebot der Survivors zu erweitern. Ehemalige an Krebs erkrankte Kinder sollen Eltern akut erkrankter im Spital für Gespräche zur Verfügung stehen, denn Günther weiß aufgrund seiner jahrelangen Krankenhausbesuche, dass sich diese solchen Kontakt dringend wünschen.

Obwohl es in Günthers Leben seit seiner Erkrankung im Kleinkindalter viele schwere Zeiten gegeben hat und es beinahe zwanzig Jahre dauern sollte, bis er mit ihrer Aufarbeitung beginnen hat können, möchte er mit niemandem tauschen. Schließlich haben all die schmerzhaften Erfahrungen ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist, so sagt er.

Krankenhaus bedeutet Schmerz. Wenn Günther sich auch aus der Zeit seiner Krebserkrankung nicht mehr an vieles erinnern kann, so ist dieser Eindruck doch präsent. Unzählige Fingerstiche muss der kleine Bub während des Aufenthalts im Spital und bei Kontrollen über sich ergehen lassen. Wenn diese auch nicht so weh tun wie eine offene Operationswunde, so ist es doch ihre Regelmäßigkeit und die Gewissheit ihrer baldigen Wiederholung, die ihm Angst machen. Wie gestern kommt es Günther vor, wenn er sich daran erinnert, wie die Ärztin ihn darum bittet, ihr seine Hand zu reichen. Sie packt ein Instrument aus, das aussieht wie eine Rasierklinge mit einer Spitze an der Längsseite. Er sieht das Glänzen der Klinge, weiß, was nun gleich folgen wird. Er fühlt den festen Griff der Ärztin an seinem Handgelenk, aus dem er sich nicht mehr entwinden kann, und dann den tiefen Stich in seine Fingerkuppe. Der Schmerz rast seinen Arm hinauf, über die Schulter bis in den Kopf. Blut quillt und die Ärztin lächelt ihn an.

Wenigstens ist es immer dieselbe Frau Doktor, die ihn behandelt. Nach seiner Entlassung muss Günther regelmäßig Spritzen bekommen. Erinnern kann er sich nur, dass sie unangenehm, aber zu überstehen gewesen sind. Einmal jedoch sitzt er auf dem Krankenhausbett, die Tür öffnet sich und eine Fremde betritt den Raum. Wie »seine« Frau Doktor trägt sie einen weißen Arztkittel, ist aber viel jünger und sieht nicht so vertrauensvoll großmütterlich aus. Günther beginnt zu schreien. Als sich die junge Ärztin nähern will, schlägt er um sich und ist vor Angst nicht mehr zu beruhigen. Die Fremde versucht ihm zu erklären, dass »seine« Frau Doktor sich in einer wichtigen Operation befinde, daher jetzt leider nicht bei ihm sein könne, aber Günther schreit weiter. Weder Eltern noch Krankenhauspersonal gelingt es, den Dreijährigen zu beruhigen, und so wartet die Familie schließlich mehrere Stunden im Spital, bis Günthers Ärztin Zeit für ihren kleinen Patienten hat.

Günther erzählt die Geschichte nicht ohne Stolz. Schon damals zeigt sich, dass er ein Kämpfer ist und die Behandlungen nicht einfach über sich ergehen lässt. Für ihn ein wichtiges Verhaltensmuster auf dem Weg zur Genesung.

8

Wir werden zum ärztlichen Direktor des Krankenhauses geführt. Professor Gadner begrüßt uns freundlich. Seine Stimme klingt warm, aber bestimmt. Ich höre ihn reden und nehme die Laute wie durch einen Filter gedämpft wahr. Ich erkenne den sachlichen Tonfall, verstehe die Worte nicht und fühle mich trotzdem sicherer als zuvor. Auch meine Mutter sieht beruhigter aus. Prof. Gadner erklärt lange, bespricht ausführlich, erkundigt sich erneut nach dem bisherigen Krankheitsverlauf. Meine Mutter hat sich die Augen getrocknet, sich in ihrem Sessel aufgerichtet, als könne sie so jeden einzelnen Satz, jedes Wort und jede Silbe besser in sich aufnehmen. Sie sammelt die Informationen wie Teile eines Schutzpanzers für mich, und ich beginne mich langsam besser zu fühlen. Meine Gedanken wandern aus dem Zimmer.

Ich stelle mir den Sportplatz vor, sehe meine Mitschüler dem Ball hinterherjagen und Tore schießen. Ich war glücklich im Internat. Ich habe junge Leute kennengelernt, die wie ich für den Sport leben, fühlte mich selbstständig und frei. Niemand wollte von mir wissen, ob ich schon für die nächste Mathematikschularbeit gelernt habe, oder wie ich plane, mich für den kommenden Geographietest vorzubereiten. Dort gab es auch keine Kranken, keinen Krebs, kein Sterben.

Ich schweife noch etwas weiter ab und fange an, mich an die Mädchen im Internat zu erinnern. Als besondere Mutprobe für die Burschen gilt es dort, vorbei am Erzieher in eines der beiden Mädchenstockwerke zu schleichen und einen Gegenstand aus einem der Zimmer zu entwenden. Mir fällt ein, wie ich einmal dabei erwischt worden bin und am nächsten Tag bei der Direktorin des Internats erscheinen musste. Damals hatte ich fürchterliche Angst. Nicht, weil ich so großen Respekt vor der Direktorin hatte, sondern weil sie mein Fehlverhalten bei nächster Gelegenheit dem sportlichen Leiter melden würde, der es wiederum den Trainern berichten konnte, woraufhin es dann mit Sanktionen belegt wurde.

Ich erinnere mich daran, wie ich im Büro der Direktorin an das blonde Mädchen dachte, in dessen Zimmer ich geschlichen war. Wie kokett und einladend mich das Mädchen angegrinst hatte, als ich ihr Haarband vom Nachttisch genommen und mich wieder hinausgeschlichen hatte, und wie ich im Angesicht der schimpfenden Direktorin das Gefühl hatte, dass dieses Grinsen die Strafe, die ich bekommen würde, durchaus wert gewesen ist.

In diesem Moment, in Professor Gadners Zimmer, neben meiner aufmerksam auf seine Worte lauschenden Mutter, wird mir klar, dass ich aus meiner Welt gekippt bin. Vielleicht werde ich dieses Mädchen, die Direktorin, das ganze Internat, nie mehr wiedersehen. Vielleicht werde ich nie mehr gegen einen Fußball treten. Vielleicht werde ich hier sterben, schon bald.

Wieder drückt es mir Tränen in die Augen, diesmal Tränen des ohnmächtigen Zorns über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ich von all den vielen Schülern im Internat nicht das Recht haben soll, weiterzuleben. Warum, zum Teufel? Ich würde es am liebsten herausschreien!

In diesem Moment will Professor Gadner von mir wissen, ob ich noch Fragen an ihn habe, und ich schrecke auf.

»Wie lange werden die Untersuchungen dauern? Kann ich morgen wieder in St. Pölten sein?«, frage ich, ohne daran zu glauben.

Dr. Gadner schüttelt den Kopf mit einer Vehemenz, als wolle er mir verdeutlichen, dass ich den Ernst der Lage verkenne. »Ich fürchte, das ist unmöglich, Nino«, sagt er mit ruhiger Stimme.

Nach dem Gespräch schickt uns Professor Gadner zur Aufnahme auf unsere Station. Wir gehen durch die Gänge des Spitals, die mir mit jedem Schritt enger und dunkler erscheinen, benützen den Aufzug, dessen sich schließende Türen mir das Gefühl geben, gefangen zu sein.

Die Schwester auf der Station begrüßt uns freundlich, fragt, ob ich Schmerzen habe, und ich verneine. Sie bietet uns ein Glas Wasser an, das ich dankbar annehme und in einem Zug leere. Meine Mutter trinkt schluckweise und mechanisch, so als sei sie in Gedanken an einem ganz anderen Ort. Die Schwester verschwindet im Personalzimmer, kehrt mit einem Stapel Blätter und einem Kugelschreiber zurück.

Sie fragt meine Mutter, ob sie mit aufgenommen werden möchte. Meine Mutter nickt. Sie nennt der Schwester unsere Namen, die Adresse, Telefonnummer, Versicherungs- und Geburtsdaten. Nach der Reihe muss sie Fragen über meine Kinderkrankheiten, vorangegangene Operationen und getätigte Impfungen beantworten, noch einmal meinen Gesundheitszustand schildern, wird nach bei mir vorhandenen Allergien und Unverträglichkeiten, regelmäßigen Medikamentengaben, meinen Ess- und Trinkgewohnheiten befragt. Sie soll den Verlauf ihrer Schwangerschaft mit mir und meine Geburt schildern und ich stutze, ärgere mich, frage mich, wozu das nach all den Jahren noch nützlich sein soll.

Ich habe das beklemmende Gefühl, dass nicht nur meine Gegenwart, sondern auch meine ganze Vergangenheit von diesem Spital aufgesogen wird. Bald wird mein Leben, ein Fußballer auf dem Weg zum Profi, nicht mehr wahr sein, denke ich. Bald werden sie mich zu einem Krebskind degradiert haben, das wie alle anderen nur noch das Recht auf Sterben und Mitleid hat. Aber obwohl ich die Fragerei als peinlich und indiskret empfinde, schweige ich, weil ich mich ausgelaugt und erschöpft fühle. Zum Schluss will die Schwester wissen, ob meine Mutter bereit ist, ihre Zustimmung zur Teilnahme an den laufenden Studien zu geben. Sie erklärt, dass die Ergebnisse der Studien Grundlage neuer Forschung seien und somit der Entwicklung von verbesserten Heilmethoden dienen würden. Sie versichert, meine Patientendaten würden dabei vertraulich behandelt werden, und meine Mutter gibt ohne langes Zögern ihr Einverständnis, nickt und unterschreibt wie ein Roboter. Gerne würde ich ihr den Stift aus der Hand nehmen. Was kümmern mich »verbesserte Heilmethoden« für andere, wenn ich hier krepieren muss, denke ich.

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9783990010891
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