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Nino Rauch: Leben ohne Ende

Vorwort

Als dieses Buch schon fast fertig war, habe ich mich hingesetzt, um noch einmal die Motivation zu überprüfen, mit der ich es geschrieben habe. Während der Arbeit daran musste einfach alles raus. Da war nicht die Zeit dafür, sich solche grundlegenden Fragen zu stellen.

Aber als dann ein großer Stapel bedruckten Papiers vor mir lag, der meinen Krankheitsverlauf mit allem Drumherum quasi im Zeitraffer beschreibt, ist mir ein bisschen schwindlig geworden. Ich war plötzlich unsicher, ob ich das alles nicht eigentlich nur für mich selbst festgehalten hatte. Ob es Außenstehenden zumutbar ist. Ob es nicht zu persönlich, zu echt und zu konkret ist, um es zu veröffentlichen.

Also habe ich das Manuskript eingepackt, mich damit in ein Kaffeehaus gesetzt und alles von vorne bis hinten noch einmal durchgelesen. Ganz so, als ob ich nicht der Autor, sondern der erste Leser meines Buches wäre. Während dieser Lektüre ist mir eines klar geworden:

Dies ist kein Buch über die Krankheit Krebs. Nicht in erster Linie.

Es ist ein Buch über die Fähigkeit von Menschen, mit Schicksalsschlägen umzugehen, zu kämpfen und noch einmal zu kämpfen. Gerade dort, wo der Kampf schon fast aussichtslos zu sein scheint. Und es ist ein Buch darüber, dass kaum jemand all das sofort und ganz alleine schafft. Als ich erfahren habe, dass ich an Lymphdrüsenkrebs litt, wollte ich nämlich gar nicht kämpfen. Es ging mir einfach nur schlecht, und ich wollte vor allem in Ruhe gelassen werden. Irgendwann gab es auch eine Zeit, in der ich sogar sterben wollte.

Aber da war mein engstes Umfeld, allen voran meine Mutter, und da waren die Ärzte aus dem St. Anna Kinderspital, und die alle wollten das nicht zulassen. Die kämpften um mich und für mich mit, solange ich dazu nicht in der Lage war.

Das war mir anfangs gar nicht recht. Viele der Menschen, die mir während meiner Krankheit begegnet sind, habe ich verflucht, weil ich mich von ihnen einfach nur bedrängt, bloßgestellt und beleidigt gefühlt habe. Auch davon handelt dieses Buch. Wie schwer es ist, jemandem zu helfen, dem es wirklich schlecht geht. Und wie schwer es sein kann, sich helfen zu lassen, wenn man am Boden liegt.

Als ich schließlich im Kaffeehaus die letzte Seite meines Manuskripts gelesen hatte, hatte ich plötzlich das Gefühl, dass jedenfalls noch etwas fehlt. So sehr das meine, und nur meine Geschichte ist, die ich da beschreibe, so sehr ist es doch zugleich auch die Geschichte vieler anderer Kinder und Jugendlicher, die gegen den Krebs gekämpft haben oder es jetzt gerade tun.

Deshalb habe ich mich noch einmal aufgerafft und eine Idee verwirklicht, die ich eigentlich schon von Anfang an hatte. Ich habe mir von einigen Menschen, die wie ich als Kind an Krebs litten, von ihrer Krankheit und von ihrem Umgang damit erzählen lassen.

Und ich habe Prof. Dr. Helmut Gadner besucht, den ehemaligen Leiter des St. Anna-Kinderspitals, um mir von ihm die Geschichte seines jahrzehntelangen Kampfes gegen Kinderkrebs berichten zu lassen.

Alle diese wahren Geschichten sind zu meiner ergänzend hinzugetreten und bilden jetzt gemeinsam mit ihr dieses Buch. Seither habe ich mir die Frage, wofür ich es geschrieben habe, nicht mehr von Neuem stellen müssen. Es war mir ein für allemal klar.

Dies ist kein Buch über Krebs. Es ist ein Buch über sehr junge Menschen, die sich gegen ein Schicksal wehren, das keiner von ihnen verdient hat. Es ist ein Buch für diejenigen, die diesen Weg erst noch gehen müssen und diejenigen, die ihn bereits gegangen sind.

Einer davon bin ich.

Nino Rauch, Wien, Februar 2014

1

Ich schrecke aus dem Schlaf auf. Mein Unterarm fühlt sich feucht an. Es ist dunkel. Ich drücke mich aus meiner Bauchlage hoch. Weit genug, um das Leintuch abtasten zu können. Unter meinen Fingern ist es nass, warm und klebrig.

Vor Schreck ziehe ich meine Hand mit einem Ruck zurück. Ich beuge mich aus dem Bett und drücke den Lichtschalter. Ein, zwei Sekunden brauchen meine Augen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen, dann sehe ich es ganz klar: Mein Leintuch, meine Decke und mein Kissen sind knallrot.

In Panik springe ich auf und betrachte die Lache, die sich langsam ausbreitet, sich in den Stoff frisst und in die Matratze sickert. Der Fleck hat einen Durchmesser von der Größe eines Fußballtrikots. Das Blut tropft von der Bettkante. Dünne Rinnsale. Der Boden rund um die Lache ist rot gesprenkelt, und die Flecken auf dem Teppich laufen schon ineinander. Ich widerstehe dem Impuls, laut zu schreien, weil ich meine Eltern nicht wecken will. Zum Glück teile ich mir mein Zimmer nicht mit meinen beiden kleineren Brüdern Rico und Raffael. So bekommt vorerst niemand mit, was hier geschehen ist.

Entsetzt schaue ich an mir herunter. An meinen Armen klebt Blut, an meinen Fingern, am Körper. Ich begreife nicht, was passiert ist. Ich sehe keine Wunde, fühle keinen Schmerz. »Scheiße, was ist nur los?«, denke ich.

Ich befühle hektisch meinen Bauch, die Arme, den Hals, um doch etwas zu finden, spüre aber keine Verletzung. Zitternd berühre ich meine Nase, und obwohl sie mir nicht weh tut, bin ich sicher, dass das Blut nur von dort stammen kann. Da ich schon seit Wochen unter einem chronisch verstopften Nasenloch und anderen Beschwerden leide, ist das der einzig logische Schluss. Ich atme tief durch und fühle, wie mein Puls wieder sinkt, als mir die Erzählung eines Schulkollegen einfällt, der unter häufigem Nasenbluten leidet und nachts schon öfter in solchen Schlachtfeldern aufgewacht ist. Zumindest hat er das behauptet. »Jetzt hab ich auch was zu erzählen«, denke ich.

Da ich pinkeln muss, gehe ich aufs Klo, und bin froh, dass ich einen Grund habe, das Zimmer zu verlassen, das aussieht, als wäre darin ein brutaler Mord verübt worden. Während ich mich erleichtere, amüsiere ich mich sogar einen Moment lang über die absurde Vorstellung, jemand könnte mein Zimmer so vorfinden und glauben, ich sei erstochen worden. Da bemerke ich, dass mein Urinstrahl nicht gelb, sondern blutrot ist.

Mir wird schwindlig. Ein heftiges Druckgefühl baut sich in meinem Ohr auf und breitet sich im Kopf aus. Als ich noch einmal in die blutige Kloschüssel schaue, kriege ich kaum Luft. Die Bedenken, meine Eltern zu wecken, sind plötzlich weg. Ich laufe in ihr Schlafzimmer und rüttle meine Mutter unsanft wach. Sie schreckt auf, will wissen, was los ist. Ich schalte die Lampe auf ihrem Nachttisch ein und halte ihr meine blutigen Hände entgegen. Erst jetzt sehe ich im Spiegel neben ihrem Bett, dass auch mein ganzes Gesicht wie mit roter Farbe bemalt aussieht.

Meine Mutter starrt mich an wie ein Gespenst. »Was hast du da gemacht!«, fährt sie mich an. Ich stammle herum, als müsste ich etwas verbergen und fühle mich dabei wie ein kleiner, hilfloser Junge. In meinen Augen spüre ich Tränen, die hinauswollen. Da sie jetzt schon so entsetzt ist, traue ich mich nicht, meiner Mutter auch noch von dem blutigen Urinstrahl zu erzählen, obwohl ich sie doch deshalb geweckt habe. Stattdessen entschuldige ich mich sinnlos und murmle etwas von Nasenbluten. Kaum habe ich das Wort ausgesprochen, scheint meine Mutter sich ein bisschen zu entspannen. Das macht auch mich wieder ruhiger.

Sie atmet tief durch, schaut hinüber zu meinem Stiefvater, der immer noch schläft, dann wieder zu mir. »Morgen«, sagt sie, »fahren wir ins Spital«. Sie sagt es in einem Ton, der mir signalisieren soll, dass Widerspruch zwecklos ist.

2

Ich bin vierzehn Jahre alt und habe nur ein Ziel: Profifußballer zu werden. Deshalb geht es mir extrem auf die Nerven, dass ich seit über vier Wochen Probleme mit dem Atmen habe. Das verstopfte Nasenloch. Bemerkt habe ich das in der Schule, dem Sportgymnasium, das ich besuche. Während des Unterrichts kann ich mich dort kaum mehr konzentrieren. Vor allem seit durch den hartnäckigen Schnupfen auch das rechte Ohr belegt ist. Ich höre schlechter, muss nachfragen, wenn mich jemand anspricht, mein Gegenüber darum bitten, seine Worte zu wiederholen. Das macht auf die Dauer schlechte Stimmung, sowohl bei mir, als auch bei den anderen. Umgekehrt verstehen meine Mitschüler und die Betreuer auch mich nicht mehr gut, weil meine Stimme nasal klingt. Den Ausführungen der Lehrer kann ich kaum folgen.

Immer wieder versuche ich, den Druck, der von meinem Ohr in meinen Kopf ausstrahlt, auszugleichen. Mit Daumen und Zeigefinger halte ich beide Nasenflügel zu, presse sie an die Scheidewand, atme gegen ihn an. Aber er verschwindet einfach nicht.

Während einer Französisch-Schulstunde soll ich vor der Klasse in einem gespielten Dialog die Frage nach meiner Herkunft beantworten.

»Vous venez d’où?«, will die Lehrerin wissen. Ich forme die Lippen, um die Vokale und Konsonanten deutlicher aussprechen zu können, aber die Silben scheinen meinen Mund unkontrolliert zu verlassen, klingen wirr und genuschelt. Meine Mitschüler lachen und ich fühle, wie mir am ganzen Körper heiß wird. Die Lehrerin runzelt die Stirn und betrachtet mich mit zusammengekniffenen Augen. »Macht der sich über mich lustig?«, scheint sie zu denken.

Die Situation ist mir peinlich. Zuhause in Stockerau, in der Nähe von Wien, bin ich immer ein guter Schüler gewesen, habe, schon um Ruhe vor den Lehrern zu haben, immer die von mir geforderte Leistung erbracht. Auch deshalb, weil meiner Mutter, die eine ziemliche Perfektionistin ist, meine Noten so wichtig gewesen sind. Ich schiele in Richtung meiner Mitschüler. Der Blick einiger von ihnen ist mitleidig, die anderen grinsen, und ich spüre, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Rasch verdränge ich den Gedanken.

Am nächsten Tag findet ein Fußball-Trainingsmatch statt. Während der Spielpause stehe ich in der Umkleidekabine mit dem Rücken zum Trainer. Er kommt zu mir und packt mich überraschend hart an der Schulter. Sein Griff ist fest und seine Finger bohren sich zwischen meine Knochen. Erschrocken fahre ich herum.

»Was ist mit dir? Willst du mich ärgern?«, fährt er mich an. Seine Stimme klingt unfreundlich und gereizt und ich begreife, dass ich eine Aufforderung überhört haben muss.

»Es tut mir leid, ich habe sie vorher nicht verstanden«, entschuldige ich mich. Der Trainer runzelt die Stirn. Eine steile Falte hat sich zwischen seinen Augenbrauen gebildet und es sieht nicht aus, als würde er meiner Behauptung Glauben schenken.

»Was soll das heißen, du hast mich nicht verstanden?«, schnaubt er. »Ich bin keine fünf Meter von dir entfernt gewesen und habe den Satz dreimal laut und deutlich wiederholt!«

Wieder spüre ich, dass etwas nicht stimmt, versuche den Gedanken aber neuerlich zu verdrängen, indem ich mich auf die Taktik für die zweite Hälfte konzentriere. Während des Matches sprinte ich wie ein Gejagter über das Spielfeld. Auf diese Art beweise ich mir selbst, dass es mir gut geht und entgehe meinen Grübeleien für eine Dreiviertelstunde. Nur beim Sport fühle ich mich noch frei. Wenn ich laufe, den Ball spiele, den Körper an seine Grenzen treibe, die Kraft meiner Muskeln und die Lust an der Bewegung spüre, wenn der Schweiß über meine Haut rinnt und meine innere Hitze kühlt, nehme ich keinen Druck wahr. Dann ist alles im Fluss. Der Atem strömt ungehindert. Ich kann meine Lungenflügel bis in die Spitzen mit Luft füllen und meinen Brustkorb erweitern. Mein Kopf ist leicht.

Nach ein paar Tagen spricht mich mein Zimmerkollege Stefan auf meine verstopfte Nase an. Mein Schnarchen hält ihn in der Nacht vom Schlafen ab. Er drängt darauf, dass ich mich untersuchen lasse. Wir hätten schließlich unseren Sportarzt hier, meint er. Ich winke ab.

»Ist nur ein Schnupfen. Das wird schon«, sage ich und klinge zuversichtlicher, als ich bin. Er zuckt mit den Schultern.

In der Nacht schrecke ich aus dem Schlaf auf, als ein stumpfer Gegenstand gegen meinen Kopf prallt. Verwirrt reibe ich die schmerzende Stelle, blinzle in die Dunkelheit und erkenne meinen Zimmerkollegen, der sich ebenfalls aufgerichtet hat. Er hebt seine Hand, zielt mit einem Fußballschuh nach mir, wirft. Ich ducke mich, und der Schuh knallt hinter mir gegen die Wand. Wahllos greift Stefan nach dem Munitionsvorrat neben seinem Bett. Fußballschuhe, Hallenschuhe, Laufschuhe, Sneakers und Badeschlapfen fliegen wie Geschosse in meine Richtung. Ich schreie, dass er aufhören soll. Aber es ist mehr ein Krächzen.

»Wenn du dich nicht gegen das verdammte Schnarchen behandeln lässt!«, ruft er, und ich verspreche es.

Aber natürlich halte ich dieses Versprechen nicht. Von meinem Stiefvater sind Rico, Raffael und ich als »Indianer« aufgezogen worden. Indianer kennen bekanntlich keinen Schmerz. Eine einfache Erkältung ist kein Grund, zum Arzt zu gehen, es sei denn, man ist verweichlicht. So habe ich es gelernt.

Im Internat wird das nicht anders gesehen. Wir alle sind richtige Männer. Solange wir uns beim Fußballspielen nicht beeinträchtigt fühlen, sollen wir uns nicht beklagen. Nur wenn die sportliche Leistung abnimmt, werden die Trainer unruhig und versuchen uns die Schmerzen auszureden. So schlimm kann es doch nicht sein. Wir sollen die Zähne zusammenbeißen. Wir sind schließlich junge, fitte Spieler und keine lahmen Fußballopas, die wegen jeder angeknacksten Zehe beim Physiotherapeuten sitzen, um Schmerzmittel zu erbetteln.

Auch unter den Mitschülern will keiner als schwach angesehen werden. Weichlinge werden rasch als Außenseiter abgestempelt, und der Weg zurück in die Gemeinschaft ist hart. Wir sind jung, stark und unbesiegbar. Jeder ist hier der Beste oder wird es einmal werden.

3

Ich kenne es nicht, mich krank zu fühlen. Vielleicht auch, weil mein Umfeld von mir immer erwartet hat, gesund zu sein. Ich bin Leistungssportler. Mit sechs Jahren meldet mich mein Stiefvater bei der Juniorfußballmannschaft meines Heimatorts Stockerau an. Er selbst wie auch sein Schwiegervater, mein Großvater, haben ihr Leben lang in ihrer Freizeit auf dem grünen Rasen gespielt. Um mir die Anerkennung der beiden zu verdienen, trainiere ich so viel und hart ich kann. Bald wird klar, dass ich Talent habe. Die Trainer sehen, wie geschickt ich den Ball berühre, wie ich seine Flugbahn erahne, was für einen Riesenspaß mir das Spiel macht. Für das Training verzichte ich gerne auf meine liebste Fernsehsendung, auf einen Nachmittag im Freibad oder einen Kinobesuch mit meinen Eltern. In das Stammbuch meines besten Freundes schreibe ich unter die Frage nach meinem schönsten Tag, Pizza zum Mittagessen und Fußballtraining am Nachmittag.

Von jetzt an fahre ich in allen Schulferien ins Trainingslager, wo ich von österreichischen Fußballgrößen wie Didi Constantini und Hermann Stessl trainiert werde. Meine Eltern fördern mich gerne und sind daher bereit, die nicht gerade billigen Camp-Aufenthalte zu bezahlen.

Mit dreizehn Jahren wechsle ich von der Stockerauer Fußballmannschaft in die von Spillern, eine höhere Liga. Dort werde ich rasch zum wichtigsten Stürmer, schieße die meisten Tore der Saison und verhelfe der Mannschaft zum Sieg in der Meisterschaft. Im Ort bin ich ein kleiner Star. Die hübschesten Mädchen des Dorfs versäumen keines meiner Spiele, winken mir von der Tribüne aus zu, springen bei jedem Tor auf und rufen meinen Namen. Wenn ich sie nach dem Match anspreche, laden sie mich zu Grillfesten und Poolpartys in die Häuser ihrer Eltern ein. Die Burschen nicken anerkennend, klopfen mir auf die Schulter, wollen bei mir einschlagen. Im Ort gibt es keinen Gleichaltrigen, der mich nicht grüßt, wenn er mir auf der Straße begegnet. Alle wollen zu unserer Fußballclique gehören.

Als ich, von meinen Fans und der Familie umjubelt, den Meisterschaftspokal in Händen halte, bin ich der glücklichste Junge der Welt. Ich spüre sein Gewicht in meinen Händen, sehe den Sonnenglanz des Metalls und fühle mich durch ihn erhoben. Mein Trainer dreht den Lautstärkeregler der Musikanlage bis zum Anschlag.

»We are the Champions« dröhnt über den Platz. Ich höre die Rufe nicht mehr, kein Klatschen und keine Gratulationen, sehe nur noch mein Lebensziel. Ich will Fußballprofi werden.

Mein Traum scheint in Erfüllung zu gehen, denn schon kurz darauf werden meine Eltern von den verschiedensten Leistungssportzentren Österreichs angerufen. Meine Mutter spricht mit den sportlichen Leitern und erkundigt sich nach den Kosten, ob ich weiterhin zu Hause wohnen kann oder welchen Abschluss mir die Schule ermöglicht. Sie versprechen mir, mich zu einem Star zu machen, malen mir eine glänzende Karriere aus, reden von einer Einberufung in das Nationalteam und von einer Menge Geld, die es zu verdienen gäbe. Als ich meinen beiden kleinen Brüdern davon erzähle, sind sie natürlich neidisch, zugleich aber wirken sie auch stolz, einen so erfolgreichen großen Bruder zu haben.

Es schmeichelt mir, so umworben zu werden, etwas Besonderes zu sein. Rasch entscheiden meine Eltern und ich, dass ich mit dem kommenden Schuljahr in das Sportgymnasium St. Pölten wechseln werde. Unter der Woche werde ich im zugehörigen Internat wohnen. Meine Eltern haben sich vor allem für diese Schule ausgesprochen, weil sie mit Matura abschließt. Noch sehen sie nicht den Fußballstar in mir, sondern ihren vierzehnjährigen Sohn Nino, der eine gute Ausbildung bekommen soll.

Voller Vorfreude zähle ich die letzten Ferientage. Ich kann es nicht erwarten, meinem Ziel die nächsten Schritte entgegenzugehen und bereite mich auf den Eintritt in die neue Schule vor. Jeden Tag laufe ich zwei Stunden, mache fünfzig Liegestütz und Sit-ups. Das Freibad, in dem ich im Vorjahr Stammgast gewesen bin, besuche ich kaum noch, weil ich lieber trainiere. Ich verzichte auf das Eis, das sich meine Freunde nach der Schule gönnen, weil ich gelesen habe, dass Zucker schlecht für die Gesundheit ist. Fette und vitaminarme Lebensmittel versuche ich ebenfalls zu meiden, ich esse keine Pommes frites mehr und nur noch selten einen Hamburger.

Ich freue mich darauf, von zu Hause wegzugehen, selbstständiger zu werden, neue Menschen kennenzulernen und bin nicht traurig, meine alte Schulklasse zu verlassen, weil dort der Zusammenhalt unter den Schülern nicht besonders stark war.

Ich träume von meiner Karriere, halte dabei glänzende Pokale in Händen und trage Medaillen um meinen Hals. Mit an die Brust gedrückter Hand singe ich die Nationalhymne. Ich sehe mich mein verschwitztes Trikot mit Spielerlegenden tauschen. Nicht nur die Bewohner eines kleinen niederösterreichischen Ortes jubeln mir zu, wenn ich ein Tor erziele. Es sind begeisterte Fans aus dem ganzen Land, vielleicht sogar aus ganz Europa, der Welt, die sich von ihren Stühlen erheben und die Arme der Reihe nach in die Höhe reißen, um gemeinsam die Welle für mich zu formen.

Endlich ist der Sommer zu Ende, und ich darf mein neues Leben beginnen. Als ich an einem Wochenende zwei Monate nach Schulbeginn nach Stockerau heimkomme, mustert mich meine Mutter besorgt. Sie hat mich in den vergangenen Wochen selten gesehen, da an Samstagen und Sonntagen die österreichweiten Meisterschaftsspiele ausgetragen werden und ich kaum noch zu Hause bin. Sie betrachtet mich mit gerunzelter Stirn und will wissen, ob alles in Ordnung ist. Ich wehre mich gegen ihre mütterliche Fürsorge, indem ich erkläre, kein Kind mehr zu sein.

Aber meine Mutter, von der ich immer mit Strenge erzogen worden bin, duldet meine Widerrede nicht. Sie tritt näher an mich heran, legt ihre Hand an meinen Hals und möchte wissen, warum meine Stimme so nasal klingt. Erst jetzt begreife ich, worauf sie hinaus will. Ich löse mich aus ihrer Berührung, habe das Gefühl, dass sie mich noch immer unter Kontrolle halten will, möchte selbstständig sein wie im Internat. Nur zögernd erzähle ich ihr von dem nun schon länger anhaltenden Schnupfen und dem belegten Ohr, spiele die Beschwerden herunter, weil ich weder vor ihr noch vor mir selbst verweichlicht erscheinen will.

Aufmerksam lauscht meine Mutter meinen Beschreibungen der Symptome, verschränkt die Arme vor ihrer Brust, wiegt ihren Kopf. Als ich fertig bin, entscheidet sie, dass ich am Montag zu Hause bleiben werde und wir einen Hals-Nasen-Ohrenarzt im Ort aufsuchen werden. Sie besteht darauf, obwohl ich beharrlich versuche, ihr diesen Plan auszureden.

Am darauffolgenden Tag fahren wir gemeinsam zum Arzt. Drei ältere Frauen sitzen im Wartezimmer, als wir es betreten. Nur eine von ihnen grüßt uns, die anderen scheinen mit ihren Leiden beschäftigt. Sie stöhnen, jede Bewegung scheint sie zu schmerzen. Ich habe das Gefühl, nicht hierherzugehören. Ich kenne keine Orte, an denen es nach Krankheit riecht. Ich bin immer gesund und fit gewesen.

Nach einer halben Stunde bittet uns die Ordinationsassistentin in den Behandlungsraum. Als wir ihn betreten, wächst das ungute Gefühl in meinem Magen. Der Arzt untersucht mich. Er fragt nach dem Beginn meiner Beschwerden, will wissen, ob ich auch Fieber gemessen habe. Ich verneine. Er fordert mich auf, meinen Oberkörper frei zu machen und greift nach dem Stethoskop. Als die runde, kalte Metallscheibe meine Haut berührt, richten sich die Härchen in meinem Nacken auf.

Ich atme kräftig, schlinge die Luft tief in meine Lunge. Auf keinen Fall soll der Doktor an ihrer Kapazität zweifeln. Er leuchtet in meine Ohren, drückt meine Zunge mit einem flachen Holzstäbchen hinunter, um meinen Rachen zu begutachten. Schließlich nickt er, bewegt seinen Drehstuhl in Richtung meiner Mutter und erklärt ihr, dass es sich bei meiner Erkrankung um eine gewöhnliche Verkühlung handle und man einfach abwarten müsse.

Das Gesicht meiner Mutter hat einen skeptischen Ausdruck und ich fürchte, dass sie ihm gleich widersprechen wird. Sie schweigt. Als ich mich schon erleichtert zum Gehen wende, fragt sie doch noch nach, ob ich nicht wenigstens Antibiotika einnehmen sollte. Aber der Arzt winkt ab und erklärt, dass Antibiotika bei einer Viruserkrankung nichts ausrichten können. Ich bin froh darüber. Ohne verordnetes Medikament habe ich die offizielle Erlaubnis, weiterhin am Fußballtraining teilzunehmen.

Die Ordinationsassistentin reicht uns eine Untersuchungsbestätigung und fragt, ob wir einen Kontrolltermin vereinbaren wollen. Meine Mutter zögert. Schließlich nickt sie, und die Assistentin notiert das Datum in ihrem Kalender, sowie auf einem Erinnerungskärtchen, das sie meiner Mutter reicht. Sie lächelt uns zu, als wir die Ordination verlassen. An der Art, wie meine Mutter ihre Lippen aufeinanderpresst, erkenne ich, dass sie nicht zufrieden ist und der Diagnose des Arztes nicht traut. Ich vermute, dass sie nicht wirklich vorhat, wiederzukommen.

Zurück im Internat versuche ich, mich wieder voll auf mein Ziel zu konzentrieren. Aber nach einer weiteren Woche haben sich meine Symptome immer noch nicht verbessert. Meine Stimme klingt nasaler denn je, der Druck in meinem Ohr scheint dauernd zu wachsen, und das Atmen fällt mir schwer. Ich kämpfe mit Sport dagegen an, versuche, beim Laufen und Krafttraining die ungewohnte Beeinträchtigung zu vergessen. Es gelingt mir ganz gut, nicht aber meiner Mutter.

Wieder nimmt sie mich nach dem Wochenende aus der Schule und fährt mit mir zum praktischen Arzt, der uns nach einer kurzen Untersuchung eine Überweisung für ein Stirnhöhlenröntgen schreibt. Ich habe Angst vor dem Termin. Ich habe gehört, dass man bei einer Stirnhöhlenentzündung drei Tage lang nicht trainieren darf, aber meine Mutter beruhigt mich und rät, zuerst die Ergebnisse abzuwarten, bevor ich mir solche Gedanken mache.

Das Röntgeninstitut liegt in Stockerau. Seine Einrichtung sieht unmodern und schon mindestens fünfzig Jahre alt aus. Wieder sitzen im Wartebereich nur alte Menschen. Ich habe keine Lust, mich hier untersuchen zu lassen, verliere langsam die Geduld. Ich will wieder ungestört trainieren können, statt von einem Arzttermin zum nächsten gefahren zu werden. Ich muss doch regelmäßig laufen, meine Gewichte stemmen, den Ball spielen und kämpfen, um in Form zu bleiben. Wie soll ich mit meinen Konkurrenten mithalten können, meine Gegner besiegen, meinem Ziel entgegenarbeiten, wenn ich hier zwischen kranken Omis und Opis herumsitze? Meine Mutter bittet mich, noch ein bisschen durchzuhalten. Es klingt, als ginge es um ihre eigene Gesundheit und obwohl ich weiß, dass sie mein Bestes will, fühle ich mich von ihrer Fürsorge genervt.

Während der Untersuchung spreche ich so wenig wie möglich, antworte den Fragen der Assistentinnen und des Arztes knapp und lasse meine vor der Brust verschränkten Arme nur sinken, wenn es unbedingt nötig ist. Gott sei Dank geht der Termin schnell vorüber. Mit dem Röntgenbefund fahren wir zum praktischen Arzt. Der betrachtet das Bild, schüttelt den Kopf und sagt, dass die Stirnhöhlen frei seien. Er verschreibt mir Nasentropfen und rät uns, wie schon zuvor sein Kollege, abzuwarten. Wieder bin ich erleichtert, meine Mutter hingegen wirkt nach wie vor angespannt. Ich kehre zurück ins Internat und bin ein weiteres Mal überzeugt, meine Beschwerden bald der Vergangenheit zuordnen zu können.

Erst als ich am nächsten Wochenende daheim in einer Blutlache erwache und meinen roten Urin in der Kloschüssel sehe, weiß auch ich, dass mit meinem Körper etwas ernsthaft nicht stimmt.

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