Читать книгу: «Imaginate», страница 5

Шрифт:

Raizel widerstand der Versuchung, ihm zu sagen, dass ihr das bereits widerfahren war – ohne dass sie dabei fast erstickt war. Das also war die Erklärung für ihre erste dramatische Begegnung mit dem Buch im Nachttannenturm!

Noch ehe Raizel etwas erwidern konnte, wurde der Gehilfe von Vermicelli herbeizitiert, um die Regale mit Fanartikeln aufzufüllen, und er eilte davon. Raizel wandte sich wieder dem Buch zu, darauf bedacht, den Einband nicht zu berühren. Sie hielt die Luft an und beugte sich über die Seiten. Gierig verschlang sie den ersten Satz: »Alles begann mit einem Blitz …«

In diesem Moment zog sie ein wohlbekannter Koboldjunge am Ärmel ihres pistazienfarbenen Kleides.

»Frips, was willst du?«, fragte sie ungehalten.

»Was hältst du dich da bei den uralten Büchern auf? Den ersten Teil kennt doch schon jeder«, sagte der Koboldjunge.

Das mit dem Blitz kam Raizel bekannt vor, und sie fragte Frips danach. »Der erste Satz ist derselbe in jedem Band«, erklärte er. »So ein Wiedererkennungsding. Und der Blitz – hallo, der ist natürlich total symbolisch, steht für Kraft und Unberechenbarkeit, das verstehe ja sogar ich.« Dann verfiel der Kobold wieder in den Fanmodus und fuhr hastig fort:

»Los, der Ehrengast tritt gleich auf. Komm, wir sichern uns einen guten Platz!«

Raizel folgte ihm seufzend.


Kalfa trieb Wribo und Selp zur Eile an. »Jetzt macht mal hinne, ihr wisst, welche Verhängnisse es abzuwenden gilt!« Das Trio hatte den Nachttannenturm für eine neue Mission verlassen. Und wieder ging es um Raizel, um jenes Mädchen, das dem Begriff weltfremd eine ganz neue Bedeutung verlieh.

»Warum müssen wir auch zu Fuß gehen«, beschwerte sich Selp. »Das ist so menschlich hilflos.«

»Um die Vereinten Realisten zu ärgern, weißt du doch. Die VR-ler ticken aus, wenn sie uns magiebegabte Wesen schnöde laufend erblicken, sie sehen die Welt einfach viel zu eindimensional.« Damit hatte Kalfa recht. Als sie sich dem Bücherladen näherten, fauchten die Plakatträger sie an: »Ihr missachtet eure Natur! Ihr seid zum Fliegen bestimmt! Seht, was Imaginate mit uns macht!« Einige besonders Eifrige versperrten den Balden sogar den Weg in Vermicellis Laden. Das ging zu weit, fanden die Balden. Also machten sich Selp, Wribo und Kalfa kurzerhand unsichtbar und gelangten so ungehindert ins Innere.


In einem Hinterzimmer von Vermicellis Bücherladen, in dem normalerweise die Lakritzhütchen hergestellt wurden, war es finster. Nur eine tropfende Kerze ließ die Maschinen wie stählerne Drachen erscheinen. Irgendwo war etwas undicht, denn man hörte Öl tropfen. Dieses man waren drei Schatten, die unbeschreiblich, da wesenlos waren. Sie schienen gar nicht da zu sein, und lediglich die Kraft des allwissenden Erzählers machte es überhaupt möglich, über sie zu schreiben. Eins war klar: Sie waren nicht gekommen, um ein Buch zu kaufen oder der Froschcombo zu lauschen.


Gilbo kam wieder zu sich, der Einfluss der dunklen Mächte über ihn ebbte ab wie ein Krötenpilzrausch. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er in der Zwischenzeit getan hatte, und hoffte nur, dass es nichts Schlimmes war. Der Zwerg horchte in sich hinein, und als er den Eindringling nicht spürte, schlug er schnell die erste Seite des Romans auf. »Alleeeeees begann … miiit eiiiinem Bbblitzzz.« Er konnte sich nur selbst auf die Schulter klopfen für seine Lesefortschritte. Schon nach wenigen Seiten hatte er begriffen, dass die Romanfigur mit dem Mädchen in dem Phönix identisch war.

Bei der Lektüre erfuhr Gilbo, dass Raizel sich häufig nach Partys mit Freunden ein Beförderungsmittel namens Cab teilte. Dort lief dann etwas, was Radio genannt wurde. Noch befremdlicher als diese Technik erschienen dem Zwerg die Nachrichten, die darüber verbreitet wurden. Dort war von Flüchtlingen die Rede, von ertrinkenden Kindern und Hassdemos. Was war da bloß los in Raizels Welt? All das kannte er aus Baldorg nicht, das würden die Balden nie zulassen. Ihm wurde übel.

Vielleicht würde er in Zukunft seine Belesenheit demonstrieren, indem er eine gewisse Abneigung gegenüber den Balden zur Schau stellte. Bei dieser flächendeckenden Verbreitung von Imaginate würde jeder sein Verhalten sofort als ironische Anspielung auf ein Klischee der Raizel-Welt verstehen, in der ein gewisser Schriftsteller namens J. R. R. Tolkien festgeschrieben hatte, dass sich Zwerge und Elben nicht mochten. In Baldorg kannte er niemanden, der dem harmonischen Baldenvolk, den Brüdern und Schwestern der Elben, tatsächlich mit einer anderen Haltung als Ehrfurcht und Sympathie begegnen könnte. Obwohl allein dieser Umstand schon ein bisschen nervte … Der Zwerg zuckte zusammen. Das war doch nicht sein Gedanke!

Neben Gilbo lag ein Wörterbuch, denn bei der Lektüre stieß er auf viele Begriffe, die ihm selbst in der Zwergensprache nichts sagten. Klima­wandel zum Beispiel. Das Wörterbuch hatte ihn in seine neueste Auflage aufgenommen mit der Erklärung: Bedrohliche Erwärmung der Erde, die durch Fehlverhalten der Menschen und Ausbeutung der Natur verursacht wird, Wort zum ersten Mal registriert in Imaginate, Band 1, S. 48. Oder Willkür: Veralteter Begriff für das Ausnutzen einer Machtposition; den eigenen Willen ungeachtet von nachvollziehbaren Regeln durchsetzen; aus der Zeit der Baldenkriege. Und dann der Nachtrag: Wieder in den modernen Sprachschatz über­gegangen durch Imaginate, Band 1, S. 178. Es waren Wörter, die nicht direkt Raizels Leben, sondern eher ihr Umfeld beschrieben. Und sie bezeichneten allesamt ziemlich schreckliche Dinge.

Gilbo hätte gern noch weitergelesen und mehr über Raizels Geheimnis erfahren, aber das Lesen in fremder Sprache strengte ihn zu sehr an, die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. So machte er es sich mit einer Pfeife gemütlich und ließ sich auf einem der überdimensionalen Fliegenpilze nieder, die ihm als Stühle dienten. Bei dem Stichwort fliegen musste Gilbo wieder daran denken, wie er Hand an Cendros Phönix gelegt hatte. Der Körper des Zwergs erschauerte vor Entsetzen über sich selbst.


Raizel kaufte sich ein Fanexemplar ihres Tagebuchs, da ihr eigenes noch in einer anderen Welt auf ihrem Nachttisch auf sie wartete. Wie Frips ihr erzählt hatte, wurde im Roman oft beschrieben, wie Raizel vor dem Einschlafen die wichtigsten Gedanken des Tages in dem weinroten Büchlein festhielt.

Die Stimmung im Buchladen hatte sich gewandelt. Im Publikum breitete sich eine Unruhe aus, die Menge schien auf etwas zu warten. Zwei menschliche Mädchen klammerten sich aneinander, was Raizel entfernt an Konzerte von Boygroups erinnerte. Frips war im Gedränge verschwunden. Dafür hatte sich Cendro zu ihr gesellt. Ganz Baldorg schien verrückt nach diesen Romanen zu sein.

»Na, wie gefällt es dir bei den Brantocks?«, fragte der Schornsteinreiter sie.

»Die Kobolde sind wirklich sehr hilfsbereit«, antwortete Raizel. »Und Frips erinnert mich an meinen kleinen Bruder.« Sie lächelte, denn das hatte sie erst in diesem Moment richtig realisiert.

Nach der zweiten Zugabe der Froschcombo schlängelte sich der Gastgeber Vermicelli auf die Bühne.

»Und nun, meine Damen und Herren, ja gerade euch, verehrte Damen, möchte ich den Ehrengast des heutigen Abends nicht weiter vorenthalten. Begrüßt mit mir: Laurinel – Literaturgott aus dem Nebelreich, denn er spricht nicht über seine Herkunft. Der einzige Vertraute unseres Meisterautors!« Ein Murmeln brodelte in der Masse und rollte in einem Begeisterungssturm über die Köpfe hinweg der Bühne entgegen. Dort strömte dicker Rauch aus einem verborgenen Rohr. Im Qualm zeichnete sich langsam eine Kontur ab, dann war der Rauch verschwunden. Raizel wurde zuerst geblendet von dem furchtbar glitzernden Kostüm, das von dem selbstverliebten Gesichtsausdruck, der sorgsam gerichteten Frisur und dem Siegelring am Finger ablenkte. Neben ihr schnaufte Cendro missbilligend, anscheinend gefiel ihm die überzogene Aufmachung des Überraschungsgastes nicht.

Doch dann … Das konnte nicht möglich sein! Mehr als alle Fabelwesen, die ihr in diesem Abenteuer begegnet waren, schockierte sie dieser Anblick. Der Mann, der sich nun mit einem breiten Grinsen, das gönnerhaft und einstudiert wirkte, dem Publikum zeigte, war – ihr Literaturprofessor Dr. Laurens.


Die Balden suchten mit Augen und Intuition nach dem Mädchen aus der Menschenwelt. »Sie hängt vor der Bühne rum«, gab Kalfa, die erfahrenste von ihnen, per Baldenruf durch, und die Gefährten begaben sich nach vorne. Das war nicht so einfach, denn sie verzichteten auf den Luftweg, um nicht allzu sehr aufzufallen. So wurden sie von all den Fans angerempelt, die ihren Platz nicht aufgeben wollten.

»Hee, Vordrängeln gibtsch nisch«, nuschelte eine Sirene mit Sprachfehler.

»Sorry, edle Dame, bitte untertänigst, ganz cool zu bleiben«, entschuldigte sich Wribo. In diesem Moment waren die Balden trotz aller Harmonie ziemlich aufgeregt.

»Sie will sich zu dem Macker auf der Bühne begeben«, meldete Selp.

»Verhindert es!« rief Kalfa.


Raizel musste herausfinden, was es mit Laurinel auf sich hatte. Vielleicht konnte er ihr sagen, wie die Welten der Balden und der Menschen zusammenhingen. Deshalb wollte Raizel keinen Augenblick verlieren und war bereit, auf die Bühne zu springen, Laurinel zwischen die Bücherregale zu ziehen und zur Rede zu stellen. Hastig verabschiedete sie sich von Cendro. Die aufgebrachten Imaginate-Fans waren ihr in diesem Moment herzlich egal. Es ging hier um eine existenzielle Angelegenheit, und das war in diesem Fall mehr als nur eine Floskel. So schlängelte sich Raizel durch das Publikum, schob Nymphen mit von Herzen übersäten Fanplakaten beiseite und legte sich mit ein paar störrischen Wichteln an. Sie war bereits bis zur zweiten Reihe vorgedrungen, sah die zwei Trolle, die Vermicelli als Ordner engagiert hatte, um die Fans auf Abstand zu halten. Überlegte schon, wie sie zwischen den X-Beinen der massigen Kreaturen durchtauchen könnte. Als sie sich in die erste Reihe zwängte, fand sie sich unversehens neben Tarik wieder. Er sagte nichts, blickte sie nur mit hochgezogenen Brauen an. Plötzlich war sich Raizel sehr bewusst, dass sich ihre Schultern im Gedränge aneinanderpressten. Für einen kurzen Moment war sie aus dem Konzept gebracht. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, dass es ihr vielleicht nicht so leichtfallen würde, Abstand zu Tarik zu halten. Dann drängte sich Dr. Laurens wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins. Als Raizel ihren Blick zur Bühne wandte, schaute Laurinel beziehungsweise Dr. Laurens sie direkt an. Dieser durchdringende, inquisitorische Blick, den sie von ihrem Professor so gut kannte, ließ sie erstarren. Dann war die Magie gebrochen. Hatte sie sich nur getäuscht?

Wie ein Rockstar stellte Laurinel einen Fuß auf die Rampe am Bühnenrand und ließ sich von den Zuschauern feiern. Fehlt nur noch, dass er ein Souvenir ins Publikum wirft, dachte Raizel.

In dem Moment holte Laurinel etwas aus seiner Jackentasche hervor. »Ich habe hier ein kleines Souvenir für meine treuen Fans«, sagte er und holte zum Wurf aus.

Raizel konnte nicht erkennen, um was es sich handelte. Was auch daran lag, dass die Anhänger sich darauf stürzten, als handelte es sich um den Heiligen Gral. Aber sie hatten nicht mit Raizel gerechnet. Laut rief sie: »Dort, da ist er! Der Autor von Imaginate! Er ist es leibhaftig!« Und plötzlich war Laurinel nur mehr ein D-Promi und jedes Interesse richtete sich auf die Eingangstür, auf die Raizel gezeigt hatte. Der dort stehende Ausweiskontrolleur grinste angesichts der plötzlichen Aufmerksamkeit verschämt. Ehe jemand sie als Lügnerin denunzieren konnte, duckte sich Raizel schnell an der Stelle, wo Laurinels Mitbringsel zwischen den Fans verschwunden war. Blind tastete sie auf dem Boden herum. Da, sie hatte es gefunden. Neu­gierig zog Raizel ihren Arm aus dem Pulk an Beinen hervor und starrte ungläubig auf ihre Trophäe. Es handelte sich um ein simples Streichholzmäppchen. Darauf stand Café am Ende der Welt – Hier geraten Sie in geselliger Runde an Ihre Grenzen.

Raizel konnte nicht mehr sehen, wie Laurinel auf ihr Intermezzo reagierte, denn in diesem Moment wurde sie von drei Balden angerempelt, die sich lautlos angepirscht hatten. Kalfas Augen funkelten besorgt. »Was …«, konnte Raizel noch sagen, da legte sich Wribos kleine Hand um ihre und er zog sie mit einer beachtlichen Kraft Richtung Ausgang, vorbei an einem amüsiert blickenden Tarik.

»Ich wollte doch …«, japste Raizel, und bevor sie durch die Tür gezogen wurde, drehte sie sich noch einmal um: Der Mann, der aussah wie ihr Literaturprofessor, hatte gerade seinen Umhang abgelegt und wirkte wie ein Zauberer, kurz bevor er das Kaninchen aus dem Hut holte. Im Hintergrund wartete Vermicelli ebenso gespannt wie seine Besucher, die sich nach Raizels Flunkerei schnell wieder der Bühne zugewandt hatten.

Laurinel hob an zu sprechen. »Meine Fans, ich bin höchst erfreut …« Worüber, das hörte Raizel nicht mehr, denn sie war schon draußen.


Frips hatte in den Bücherstapeln gewühlt, um den Wunsch des Tulfos zu erfüllen und ein Werk von Shakespeare zu suchen. Der junge Kobold hatte indes so viele Bücher gefunden, dass er sich nicht entscheiden konnte: Viel Lärm um den Wicht oder Ein Wintermorgen­erwachen oder Mac Exzess, was würde Polpo besonders gut gefallen? Am besten fragte er Raizel, sie wurde in Imaginate als Verehrerin des Schriftstellers beschrieben. Eben hatte sie noch vor der Bühne gestanden und der Froschcombo gelauscht. Sein Blick blieb an Laurinel hängen. Und dieser Mann im Glitzerkostüm wollte ein Kenner sein, wie lächerlich! Kein wahrer Freund des Meisterautors würde sich so aufspielen. In der Ferne konnte er eine Rauchwolke erkennen. Das musste Cendro sein! Frips bahnte sich einen Weg durch die Menge.


»Was sollte das denn?«, fragte Raizel ein bisschen wütend. Lediglich ein bisschen, denn den Balden richtig böse zu sein war beinahe unmöglich. Wribo, der noch immer ihre Hand hielt, machte irgendetwas mit ihr. Es fühlte sich ganz weich und sanft an. Raizel fragte sich unvermittelt, weshalb sie eigentlich Kleidung trug …

»Wribo, du genuiner Vollidiot! Unterstehe dich, den Spruch ›Selig sei, mach dich frei‹ an ihr auszutesten! Oh weh mir, vermaleflixst!«, rief Kalfa, und Raizel wachte aus ihrer Trance auf. Alles um sie herum war dunkel. Sie konnte nichts sehen, die Luft war stickig. Das lag daran, dass sie sich ihr Kleid schon halb über den Kopf gezogen hatte. Sie ließ es schnell wieder herunterfallen und schaute in vier grinsende Gesichter und ein ärgerliches: das von Kalfa.

»Ach, welch beknackte Trübsal! Was hast du dir dabei gedacht, Alter?«, herrschte sie den jungen Balden an. »Deinethalben hat sich die Lady mordsmäßig erschrecket!«

Der Angesprochene versuchte einen schuldbewussten Ausdruck aufzusetzen.

»Ihr Gemüt war so uncool drauf und da dachte ich, ein so gearteter Zauber vermöge sie wieder locker zu kriegen. Hat ja auch gewirkt, oder?« Das musste selbst Kalfa zugeben, denn Raizel war zu überrascht, um verärgert zu sein. Die merkwürdige Baldensprechweise trug noch zu ihrer Verwirrung bei.

Kalfa klärte sie schnell auf. Der Spruch Selig sei, mach dich frei war ein seit Generationen überlieferter Liebes- und Glückszauber und stand ganz oben auf dem Lehrplan der Balden-Elementarschule. Die Schüler durften ihn bisher eigentlich nur an Tausendfüßlern ausprobieren, die sich daraufhin bereitwillig alle tausend Schuhe auszogen, wenn der Zauber nicht vorher gestoppt wurde. Was die jungen Balden natürlich nicht daran hinderte, ihn auch untereinander auszutesten.

Die Tür von Vermicellis Laden ging auf und herausgestolpert kam Frips unter einem Stapel von Büchern, ganz oben lagen Viel Lärm um den Wicht und King Fear.

»Nun, ihr Checker, hinfort, wir trödeln hier schon viel zu lange herum!«, mahnte Kalfa.

Kapitel 5


Vermicelli saß über seinen Tageseinnahmen und ringelte sich behaglich. Einen oder zwei Geldscheine hatte er bereits vor Aufregung angeknabbert, auch wenn sie ihm eigentlich nicht besonders schmeckten. Der neue Romanband hatte sich dank seines Geschäftssinns mal wieder in Gold verwandelt. Er sollte versuchen, Imaginate als Marke sichern zu lassen.

Wenn er ehrlich war, wirkte dieser Laurinel ja ziemlich aufgeblasen. Wen störte das, solange er die Masse begeisterte? Merkwürdig, dass der angebliche Freund des Bestsellerautors keinerlei Bezahlung für seinen Auftritt verlangt hatte. Nur abfällig gelacht hatte er über Vermicellis halbherziges Angebot über neunzehn Taler neunzig. Aber Vermicelli hatte keine Lust, seine geschmeidige Wurmhaut ohne große Not zu runzeln.

Noch einmal rechnete er die Einnahmen des Nachmittags durch. Was machte er jetzt mit dem Geld? Auf der Zwergenbank anlegen? Er könnte sich natürlich auch einmal etwas gönnen und das exquisite Restaurant Vier Jahresseiten für Büchergourmets besuchen. Nein, das war alles viel zu kurzfristig gedacht. Dabei hatte man ihm in dem Abendkurs BWL für Bücherwürmer beigebracht, Gewinne gleich wieder in das Unternehmen zu investieren. Ob aus Imaginate noch mehr herauszuholen war? Er brauchte einen Plan. Schnell riss er drei Seiten aus dem Lehrbuch Kreatives Denken für Fortgeschrittene heraus, vertilgte sie und wartete auf eine Eingebung. Und sie kam.

Ja, das war es! Er würde ein Raizel-Theaterstück inszenieren! Auf solch eine geniale Idee konnte wirklich nur er kommen. Er würde jetzt sofort Werbeflyer kreieren und sie noch am selben Abend aufhängen. Wozu hatte man seine eigene Druckerei.


»Hättet ihr die Grade, mir mitzufeilen, wo ihr euch so lange herumgerieben habt? Ich bin beinahe gestorben vor Kurzweile!«, beschwerte sich der Tulfo, als Raizel und Frips das Haus betraten.

»Polpo, beruhige dich! Schau, was ich dir mitgebracht habe!«, sagte Frips und hielt dabei das Bücherpaket anpreisend in die Höhe wie das Herrchen ein Leckerli für den Hund. Doch ein Tulfo war kein Hund, und Polpo riss nur das Päckchen an sich, grunzte etwas Unverständliches, was sowohl »Danke dir« als auch »Verbeiß dich« heißen konnte, und verschwand die Treppe hinauf.

»Typisch«, sagte Frips.

Raizel puffte ihm leicht in die Seite. »Ach, mach dir nichts draus.« Dann blickte sie ihn verschwörerisch an. »Woher wusstet ihr eigentlich, dass ich in eure Welt gekommen bin?«

In seinen Augen blitzte es spitzbübisch auf. »Komm mit«, sagte er und lief bereits die enge, steile Holztreppe zu seinem Zimmer hinauf. Vorbei an Kleinkoboldzeichnungen von Frips, Girlanden aus getrockneten Herbstblättern und Hagebutten. Bis sich die Wand kojenartig öffnete und Raizel durch den niedrigen Eingang in Frips Zimmer trat, dessen Decke sich trichterförmig nach außen hin öffnete. Sie schaute sich neugierig um. So sehr unterschied sich das Zimmer gar nicht von dem eines menschlichen Jungen.

Frips ließ schnell etwas unter seiner Bettdecke verschwinden, das verdächtig nach einer Raizel-Fan-Tasse aus Vermicellis Buchhandlung aussah. Wie um abzulenken, präsentierte er ihr ein bogenförmiges Gerät, das er als Ohrenball bezeichnete, die koboldsche Art von Fußball, bei der jener Ball mit den Ohren angestupst und ins gegnerische Tor befördert werden musste. Die eine Wand seines Zimmers hatte Frips in der Koboldfarbe Grün gestrichen und mit Postern beklebt. Da gab es mehrere Bilder einer Ohrenballmannschaft, die sich Dynamo Schmalzius nannte, eins von einer Baldin mit langen Haaren und einem gitarreähnlichen Instrument und noch diverse, die Raizel sich nicht mehr anschaute, da sie nun endlich erfahren wollte, weshalb sie hierhergekommen war.

»Also, schieß los«, forderte sie Frips auf.

»Du musst aber echt versprechen, es nicht weiterzusagen, okay?« Der Kobold blickte sie fragend an, runzelte angestrengt die Stirn, während er in ihrem Gesicht nach einer Antwort suchte. Raizel fand das ziemlich niedlich. Sie hatte den kleinen Kobold in der kurzen Zeit bereits ins Herz geschlossen.

»Klar, du kannst dich drauf verlassen.«

Seine Miene entspannte sich. Er huschte noch einmal schnell zur Tür, um zu überprüfen, dass auch niemand mithörte, lümmelte sich gemütlich in ein Kissen und begann zu erzählen.

»Also, es begann alles damit, dass Mama auf dem Weg nach Hause zwei junge Balden fand, deren Flügel verletzt waren. Sie hat sie mit nach Hause genommen und gesund gepflegt. Jeden Tag musste ich neue Amerillablüten suchen für die Umschläge und Wildhonig für den Tee. Das war aber okay, denn dafür haben mir Selp und Wribo, die du ja kennst, echt irre Geschichten erzählt. Von ihrer Königin und so. Die muss echt super sein. Na ja, und die waren so dankbar, dass sie sogar Polpos Genöle aushielten.« Frips richtete sich auf und fuhr in gestelztem Tonfall fort: »Und seitdem ist meine Mutter Vertraute für baldische Angelegenheiten in der nicht baldischen Welt. Cool, ne? Deshalb wusste sie auch, dass du kommst.« Die Ohren des jungen Kobolds streckten sich vor Begeisterung Richtung Decke. Raizel hatte schon wieder eine neue Frage.

»Hast du zufällig irgendeine Idee, wie ich in diese Welt geraten bin?«

»Habe ich auch schon überlegt. Weil alle das Buch gelesen haben? Vielleicht haben sie dich durch ihre Gedanken angezogen.«

Raizel dachte darüber nach. Das wäre ein bisschen so wie in Michael Endes Buch Die unendliche Geschichte, kam ihr aber unwahrscheinlich vor. Noch eine weitere Frage brannte ihr auf der Zunge.

»Kennst du zufällig diesen Typen aus dem Buchladen, du weißt schon, mit dem ich mich vor dem Auftritt der Froschcombo kurz unterhalten habe?«

»Ach, der.« Frips dachte nach, seine roten Koboldohren legten sich dabei an wie bei einem Hund, der lauscht. »Der kam mir irgendwie bekannt vor. Habe jetzt aber auch nicht weiter drauf geachtet. Ich war viel zu aufgeregt!« Raizel hätte gern noch mehr gehört, aber in diesem Moment leuchtete ein roter Kreis neben dem Schreibtisch des Koboldjungen auf. Frips las etwas ab, die Buchstaben sahen wie kleine tanzende Irrlichter aus. »Es gibt Abendessen. Selbst gemachtes Kartoffelpüree mit Blauem Kohl! Komm schnell!«

Alle metaphysischen Fragen waren vorerst aus Raizels Kopf verbannt, als sie das Knurren ihres Magens bemerkte. Sie stürmte an Frips vorbei durch die Tür und in den Tulfo hinein, der wohl gelauscht hatte und jetzt wie ein Unschuldslamm pfeifend zur Treppe schritt. »Das Mahl wird euch gleich verziert.«


Die Balden befanden sich auf dem Heimflug zum Nachttannenturm, nachdem sie einer Gruppe der Vereinten Realisten und deren Sermon entkommen waren. Diese hatte vor dem Buchladen auf Gäste der Feier gelauert und die Gutmütigkeit der Balden ausgenutzt, nicht ahnend, dass ihre ideologische Predigt hier auf taube, wenn auch ziemlich spitze Ohren stieß.

Jetzt verständigte Kalfa sich über Telepathie mit ihrer Königin Manjfee. »Wir haben sie davon abhalten können, auf die Bühne zu schlurfen. Indes, wenn sie ihn das nächste Mal erspäht, könnte sie krassen Mist verzapfen.« Manjfee antwortete: »Wie ihr mir verkündet habt, erblicktet ihr Raizels ollen Pauker vor ein paar Tagen, als er in einem Romanexemplar von Imaginate herumkritzelte.« Das hatten sie bereits im Nachttannenturm besprochen, nachdem Raizel sich verabschiedet hatte. Wie die Balden dank ihrer scharfen Augen erkennen konnten, hatte Laurinel genau die Stellen unterstrichen, an denen sein Pendant aus Raizels Welt erwähnt wurde. Sie handelten von dem großen Respekt, den Dr. Laurens trotz seiner schnöseligen Art bei seinen Studenten genoss. Denn sein beeindruckendes Wissen über die Literatur machte ihn zu einer Autorität des Geistes – auch wenn das bei seiner übertriebenen Aufmachung mit Siegelring und Seidenschal auf den ersten Blick niemand glauben mochte. Auf diese Weise waren die Balden erst auf die Ähnlichkeit dieser zwei Figuren aufmerksam gemacht worden. Sie wussten noch nicht, was sie davon halten sollten.

Waren Laurinel und Dr. Laurens identisch, war Raizel also nicht die erste Reisende zwischen den Welten? Oder hatte der reale Laurinel aus der Baldenwelt dem anonymen Autor als Vorbild für die Romanfigur Dr. Laurens gedient? Wie auch immer: Es war besorgniserregend, dass Laurinel sich offensichtlich seines Alter Egos in Raizels Welt bewusst war und dieses Doppelleben bei ihm nicht die zu erwartende Verwirrung auslöste. Er schien also seine eigene Agenda zu verfolgen. Solange die Balden nicht wussten, welches Spiel Laurinel spielte, mussten sie verhindern, dass er als respektierter Dozent auch in dieser Welt seinen Einfluss auf Raizel geltend machte.

Das Zwiegespräch zwischen Kalfa und Manjfee wurde jäh unterbrochen, als Selp und Wribo wild flatternd überholten und Kalfa den Weg versperrten. Die jungen Balden waren vor Vermicellis Buchhandlung zurückgeblieben, um Laurinel auszuspionieren. Nun waren sie ihren Gefährten offenbar blitzschnell hinterhergejagt. Selp wedelte mit einem Zettel. »Das haben wir von dem ehrenwerten Baum hernieder abgezockt«, platzte es aus ihm heraus.

»Sie wollen ein Theaterstück kreieren«, unterbrach Selp. »Über das Buch«, schnaufte er, denn selbst ein Balde war nach einem solchen Sprintflug ein bisschen außer Atem. Auf dem Zettel stand:

Imaginate – Die Inszenierung: Es werden Schauspieler, Maskenbildner, Spezial­effektler, Korfukocher und Stuntmen/-women gesucht. Interessenten melden sich übermorgen nach dem Frühstück in Vermicellis Buchladen.

Gez. Vermicelli, Bücherwurm mit Diplom im Schnellbuchvertilgen und dreifacher Preisträger im Wettkampf der Bücherwürmer gegen die Leseratten.

»Vermicelli hat den Zettel gerade erst aufgehängt. Und er hatte noch ganz viele bei sich, teils angeknabbert«, sagte Wribo aufgeregt.

Kalfa wusste ausnahmsweise mal nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Kopf hörte sie Manjfee: »Typisch Vermicelli, dieser Schlawiner. Aber das können wir für uns nutzen.«


Seit dem Abendessen waren schon einige Stunden vergangen, doch an Schlaf war nicht zu denken. Raizel saß an ihrem Zimmerfenster und schaute gedankenversunken auf die Schabernackgasse, die sich unterhalb des Eckhauses entlangschlängelte. Welch passender Straßen­name für eine Koboldbehausung! Am dunklen Himmel flirrten zwei Leuchtpunkte, die sich schnell auf sie zubewegten. Schon wieder Neon­mücken? Als die unbekannten Flugobjekte heranschwirrten, bekamen sie starke Ähnlichkeit mit Selp und Wribo. Die jungen Balden landeten auf dem Fensterbrett und streckten gemütlich die Beine aus. »Hi, du Durchlaucht«, sagte Selp, oder war es Wribo?

Raizel war sich nicht sicher, ob das altertümliche Wort Durchlaucht Teil der merkwürdigen Baldensprache oder ironisch gemeint war. »Hallo«, sagte sie deshalb neutral.

Selp und Wribo betrachteten sie mit diesem irritierenden Balden­blick, der zugleich frech und weise war. Einer von ihnen streckte Raizel schweigend einen arg zerknitterten Zettel entgegen. Sie faltete das Papier auseinander: Imaginate – das Theaterstück. Einladung zum Casting an alle Belieber stand darauf.

»Hey, glotz nicht so konsterniert«, sagte Selp liebenswürdig und knuffte sie in den Arm.

»Soll ich da etwa mitmachen?«

»Na ja, unsere Königin hatte die fürwahr abgefahrene Idee, dass du …« Wie die zwei Jungbalden ihr erzählten, sollte Raizel für das Theaterstück vorsprechen, um sich auf diese Weise besser in ihre Doppelrolle als echte sowie als fiktionale Raizel einfinden zu können. Einige der Balden würden inkognito über sie wachen und eingreifen, falls jemand sie bedrohen sollte. Als Raizel an dieser Stelle nachhaken wollte, wedelten die beiden nur abwehrend mit der Hand, als hätten sie sich dabei ertappt, etwas Geheimes ausgeplappert zu haben. Wer sollte sie bedrohen? Raizel lief es kalt den Rücken hinunter.

Plötzlich flog Wribo zu der Topfpflanze neben der Zimmertür hinüber und sagte zu den Blättern: »Heda, das Grünzeug harmoniert zwar volle Kanne mit deinen Zotteln, aber du brauchst dich nicht vor uns zu maskieren. Zeige dich!«

Der Tulfo kam aus seinem Versteck hervor und blickte kleinlaut drein.

»Hast du etwa gelauscht?«, fragte Raizel.

Entrüstet antwortete das Haustier der Brantocks: »Natürlich nicht, das ist unter meiner Würde!« Dann fügte es hinzu: »Und welche Tolle werde ich in dem Stück mienen?«


Nach der Lektüre von zwei Imaginate-Bänden hatte sich in Gilbos Kopf langsam ein Puzzle zusammengesetzt. Da waren die harmlosen Geschichten, in denen Raizel als Kind Nicht-den-Boden-Berühren gespielt und später einem Jungen heimlich Haare abgeschnitten hatte, um sie einer verliebten Freundin zum Geburtstag zu schenken. Vordergründig hätte all dies auch in seiner Welt spielen können – einmal abgesehen davon, dass die Beatles merkwürdigerweise Menschen statt Käfer zu sein schienen, Heino ein beliebter Volkssänger statt eines gealterten Vampirs mit Sonnenallergie war, und vor allem, dass es Zwerge nur in Vorgärten und Märchenwäldern gab.

Daneben schlichen sich Berichte von schrecklichen Dingen in das Buch, wenn Raizel in der Zeitung etwa von Selbstmordattentaten oder Folterungen in Gefangenenlagern eines angeblichen Rechtsstaates las. Diese Themen waren so versteckt am Rande des Romans aufgetaucht, dass es kein Wunder war, dass Gilbo sie erst nach tausendeinhundertneunzehn Seiten richtig wahrgenommen hatte. Irgendwie passten sie nicht in die Geschichte. Sie schienen merkwürdig unverbunden mit der Haupthandlung und dienten keinem ersichtlichen Zweck. Aber wie Gilbo einmal in einem Literaturseminar gelernt hatte, bei dem er einen Vortrag über Die großen und kleinen Unterschiede zwischen Zwergen- und Riesenliteratur gehalten hatte, gab es in den schönen Künsten keine Zufälligkeiten.

Jede noch so kleine Winzigkeit, jeder Kiesel und vor allem die Farbe des Kiesels und ob der Abdruck in der Erde als herzförmig (in der Romantik) oder vielmehr als kieselförmig (im Realismus) beschrieben wurde, war höchst bedeutsam.

399
477,97 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
432 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783959913584
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают