Читать книгу: «Imaginate», страница 4

Шрифт:

Nun war Raizel das erste Mal allein, seit diese Geschichte begonnen hatte, und ihre Gedanken spielten verrückt. Sie wunderte sich, warum die Bewohner dieser Welt so versessen waren nach einem Buch mit ihr als Hauptperson. Sie haderte mit dieser ihr zugewiesenen Rolle, denn als Protagonistin hatte man schließlich eine gehörige Verantwortung. Normalerweise stach der Held einer Geschichte aus der Menge heraus, hatte irgendwelche besonderen Fähigkeiten oder war wenigstens ganz ohne Eigenschaften. Ihr Leben war hingegen schändlich normal gewesen, ehe sie auf dem Platz vor dem Nachttannenturm gelandet war. Schule, Studium, ein paar Schwärmereien. Nicht gerade der Stoff, aus dem Bestseller sind, würde man denken. Doch vielleicht galt gerade das hier als exotisch. Merkwürdig, dass in der Baldenwelt Magie an der Tagesordnung war, ein stinknormaler Einkauf im Supermarkt hingegen ein spannendes Unterfangen.

Auch nach dem Gespräch mit Manjfee blieben noch so viele Fragen offen. Würde sie jemals wieder in ihre Welt zurückkehren? Sie dachte an ihre jüngeren Geschwister und ihre Eltern und fühlte ein Stechen in der Herzgegend. Sie konnte sich nicht vorstellen, sie niemals wiederzusehen. Das wäre einfach zu schrecklich, undenkbar. Also konzentrierte sie sich eher auf eine Frage, die eine seltsam angenehme Unruhe in ihr hervorrief: Welche Rolle spielte dieser Typ aus der Gasse? Denn eine Rolle schien hier wie im Roman jedem zugeteilt zu sein, nichts war zufällig. Vermutlich nicht einmal dieser Moderduft des Hauses, der seltsam anheimelnd bis in den fünften Stock hinaufwehte und sich mit dem Flieder vermischte, der vor Raizels Fenster hinaufwuchs. Daraus braute die Brantockfamilie ihren Flieder­wein, der laut Lille bis über die Stadtgrenzen bekannt war. Der Strauch kitzelte den Dachfirst, der sich direkt über ihr erstreckte. Direkt über ihr. Einer plötzlichen Eingebung folgend streckte sie ein Bein nach dem anderen durch das Fenster und krabbelte das Dach hinauf bis zum Giebel. Drüben ging es steiler bergab, Frips hatte ihr erzählt, dass er dort manchmal in einen Heuhaufen hinunterrutschte. Mit ihren bloßen Füßen ertastete Raizel die Kante und richtete sich Gleichgewicht suchend auf. Sie war die Königin der Nacht! Behutsam balancierte sie über das Dach, wurde wagemutiger, drehte sich im Kreis, setzte zu einem Sprung an …

»Nicht schlecht, was meinst du?«, flüsterte eine Stimme.

Raizel erschrak so sehr, dass sie beinahe vom Dach gefallen wäre. Aber sie war in letzter Zeit schon eindeutig zu oft gefallen, und so fing sie sich wieder, setzte sich zur Vorsicht breitbeinig auf den Dach­giebel. Wer hatte da gesprochen? Sie sah nur kleine Lichter, die vor ihrer Nase in der Nachtluft tanzten.

»Warum hört sie auf?«, erklang es enttäuscht und die Lichter wogten.

»Seid ihr das, die sprecht?« fragte Raizel. Jetzt redete sie schon mit dem Licht.

»Uuu, sie hat eine schööne Stimme, so tief«, wisperte es. Die Lichter stoben auseinander, als die Nachtruhe von einem Quietschen gestört wurde. Lille Brantock streckte ihren Kopf durch ein weiteres Dachfenster, das zum Schlafzimmer der Koboldeltern gehören musste.

»Lass dich bloß nicht von den Neonmücken bezirzen«, sagte sie. »Die umgarnen dich mit ihrem Geplapper und ihrem Licht, und dann stechen sie zu.« Neonmücken also waren das gewesen, die ihre nächtliche Akrobatik kommentiert hatten. Raizel hatte noch viel über diese Welt zu lernen. Die Koboldmutter setzte hinterher: »Du solltest ins Bett gehen. Morgen müssen wir früh aufstehen.«


Flups, ein dicker Klumpen Brei löste sich von Frips Löffel, der diesen falsch herum gehalten hatte. Sein Mund stand zwar offen, aber er war nicht wirklich zur Nahrungsaufnahme bereit. Das lag daran, dass er den Gast, der eben gähnend und noch im Nachthemd die eng gewundene Treppe heruntergekommen war, ohne Unterlass anstarrte. Nun wurde seine Aufmerksamkeit von dem orangefarbenen Breifleck auf seiner braunen Hose in Anspruch genommen. Die roten Ohren des Kobolds bogen sich missmutig nach vorne. Sein Vater, Grindu Brantock, war am Tag zuvor noch bei der Arbeit gewesen, als Raizel eingezogen war. Jetzt sagte er zum neuen Gast:

»Willkommen im Eckhaus, Mädchen. Fühl dich ganz wie daheim.«

Das fiel Raizel nicht weiter schwer. Nachdem sie drei Teller des Schokobreis gelöffelt hatte, der von einer unbekannten Frucht mit herber Note aromatisiert wurde, fühlte sich ihr Bauch wohlig warm gefüllt an. Dann blätterte sie neugierig in der Zeitung Nachrichten aus Nirgendwo, die bislang vom Koboldvater in Beschlag genommen worden war. Ob Zeitungen hier ähnlich funktionierten wie in ihrer Welt? Der Aufmacher lautete: Neues Handelsabkommen zwischen Berg­riesen und Talzwergen lässt den Goldwert in die Höhe schnellen. In der Rubrik Vermischtes wurde von einem Mädchen berichtet, das sich auf dem Weg zu seiner Großmutter im Wald verirrt hatte. Erkennungszeichen: rote Mütze. In der Kolumne Hexes Haushaltstipps wurde vor übermäßigem Lebkuchen­verzehr gewarnt und in den Kleinanzeigen suchten sieben Zwerge an einem entlegenen Ort eine Haushälterin bei freier Kost und Logis. Voraussetzung: Haare aus Ebenholz und Haut wie Schnee. Raizel hätte gern noch weitergelesen, aber Frips tippte aufgeregt auf eine Annonce, die beinahe die gesamte Seite einnahm: Releaseparty! Langersehnt und druckfrisch: Imaginate – Band 66, stand dort. Und in roten Lettern war schräg über das Blatt geschrieben: Überraschungsgast!!!

»Das ist heute!«, rief Frips aufgeregt. »Wer ist bloß dieser Überraschungsgast?« Der Kobold stoppte seinen Satz abrupt. »Oh Mann, vielleicht der Autor selbst. Das wäre ja total cool!« Grindu lächelte über den Enthusiasmus seines Sohnes, ehe er sich wieder in den Sportteil der Zeitung vertiefte. Die Klabautermänner hatten die Heinzelmännchen im Rudern besiegt. Heimvorteil.

Frips fuhr an Raizel gewandt fort.

»Gehst du mit mir hin?«

»Würde ich ja gern, aber mein einziger Pullover ist zerrissen.« Raizel trug noch das lindgrüne Nachthemd, das Lille Brantock ihr vorerst geliehen hatte. Es war ihr viel zu klein, weil Menschen nun einmal größer als Kobolde waren.

Als Lille Brantock das enttäuschte Gesicht ihres Sohnes sah, sprang sie ein. »Komm, wir schauen mal in meinem Schrank nach.«

Die Kleidung der Koboldmutter war komplett grün: Ihre Röcke, Pullover, Kleider und Hosen hatten die Farben von Avocado, Moos, Spinat, oder Smaragden – für festliche Anlässe. Die Kleidung harmonierte mit der von Natur aus leicht grünlichen Haut der Kobolde und diente draußen in der Natur zur Tarnung, auf die Kobolde aus Tradition viel Wert legten. Selbst wenn sie wie die Brantocks längst nicht mehr in einer Höhle im Wald lebten.

Kurze Zeit später betrachtete sich Raizel in einem mit goldenen Rosen umkränzten Spiegel. Sie trug ein pistazienfarbenes Kleid mit Trompetenärmeln, am Busen gerafft und mit einem braunen Gürtel um die Hüften zusammengehalten. Das Kleid, eigentlich bodenlang, reichte bei der neuen Trägerin nur bis knapp unter den Po. Lille lieh ihr für den Weg noch ein tiefgrünes Cape mit Kapuze, wie sie auf Mittelaltermärkten getragen wurden. Komisch, dass die Bewohner magischer Welten sich stets im selben Stil kleideten.

Als sie mit dem Kobold gerade das Haus verlassen wollte, wurde sie von dem Tulfo aufgehalten. »Bringst du mir ein Buch von Shakespeare mit?«, bat er. »Ich will meine dichterische Destruktivität tranchieren!«

Raizel starrte das merkwürdige Haustier verwirrt an.

»Er meint: dichterische Kreativität trainieren. Er verwechselt manchmal ein paar Wörter«, flüsterte ihr Frips zu.

»Und Shakespeare gibt es hier auch?«, fragte Raizel neugierig.

»Ja«, antwortete Frips. »Er ist Multimillionär, hat sich aufs Land zurückgezogen und lässt sich von mehreren Psychologen wegen seiner multiplen Persönlichkeit beraten.«

Kapitel 4


Erst bei dem Spaziergang zu Vermicellis Buchhandlung konnte Raizel das kleine Städtchen, in das es sie so unversehens verschlagen hatte, in Ruhe betrachten. Zusammen mit Frips kam sie vorbei an efeubewachsenen Steinhäuschen mit schmückenden Kreuzgittern vor den Fenstern und gemütlichen Holzbänken vor den Türen. In jeder der neun Straßen, die sich vom Platz des Nachttannenturms erstreckten, gab es eine Kneipe oder ein Café. In der Marktstraße hieß dieses Grüne Tomaten, in der Magie-Allee Zaubar. Neben dem grünen Eckhaus der Koboldfamilie Brantock in der Schabernackgasse befand sich das Trixter. Wer hier einkehrte, musste damit rechnen, mit einer neuen Haarfarbe oder überhaupt nur noch mit Mühe und Not nach Hause zu kommen. Im Zuckerguss-Gässchen gab es das Hotel Bakebeggars, das für seine exquisiten Torten und Kekse berüchtigt war und Aufzüge aus Zuckerwatte hatte. Es lieferte Gebäck und Kuchen an das benachbarte Teehaus Glückskeks. Die meisten Gebäude waren von einem anheimelnden Honigton.

Im Utopieweg blieb Raizel an dem Aushang der Zeitung Nachrichten aus Nirgendwo stehen. Dort hieß es: Morgen wird es schneien oder die Sonne scheinen. Sind Sie auf alles vorbereitet und mit Schlitten und Sonnenschirm gleichzeitig ausgestattet? Oder suchen Sie lieber Rat bei der Wahrsager-Eule? Eine exklusive Leserumfrage. Die Lokal­zeitungen waren hier anscheinend auch nicht besser als zu Hause, dachte Raizel. Eine Annonce für Sportangebote (Wassergymnastik im Morgengrauen mit Nixe, Heuballenweitwurf mit Esel Kleff, Wildpferd­reiten mit Sorraia) weckte einen Gedanken. So sagte Raizel zu ihrem jungen Begleiter: »Frips, meinst du, ich sollte mit dem Kampftraining beginnen? Ich meine, so als Heldin. Das wird doch irgendwie von mir erwartet, oder?«

Frips grinste schelmisch.

»Ach Quatsch, so etwas wird hier schon seit Ewigkeiten nicht mehr praktiziert. Ist einfach nicht nötig, seit die Balden mit ihrem Nachttannenturm für gute Stimmung sorgen. Sag so was Komisches bloß nicht vor Fremden, sonst weiß jeder gleich, dass du nicht von hier bist!«

Raizel war ein bisschen erleichtert. Frips drängelte, und so konnte sie nur noch einen kurzen Blick auf eine Anzeige für das Café am Ende der Welt werfen, das sich ganz in der Nähe befinden sollte. Das Ende der Welt und das Nirgendwo aus dem Zeitungsnamen – die zwei Unorte passten irgendwie zusammen.

Die Schnipselgasse, die Vermicellis Bücherladen beherbergte, entpuppte sich als Künstlertreffpunkt. Hier gab es mit dem Geistesblitz und dem Tropfenden Tintenfass gleich zwei Kneipen. Die Bewohner dieser Straße mussten einen besonders hohen Bedarf an jener Inspiration haben, die nur auf dem Grund eines Weinglases zu finden war. Die Buchhandlung konnten sie schon aus weiter Entfernung ausmachen. Das lag an einer langen Schlange, die sich bis zum Geistesblitz zog. Einem solchen folgend, hatten einige Wartende sich Erfrischungen aus der Kneipe besorgt und verkauften sie zu Wucherpreisen an ihre anstehenden Schicksalsgenossen. Raizel stellte sich mit Frips ganz ans Ende der Reihe. Ein Zentaur trippelte auf sie zu. Er balancierte ein Tablett auf seinem Pferderücken. »Pflaumensekt für nur sechs Taler, versetzt garantiert in die passende Feierstimmung für Imaginate. Na, wie wär’s?« Raizel seufzte. Wenn sie sich eine fantastische Welt ausdenken würde, dann eine ohne Warteschlangen.

Sie zupfte an ihrer ungewohnten Kleidung herum. Lille Brantocks pistazienfarbenes Kleid erinnerte aufgrund des Größenunterschieds zwischen den Trägerinnen an ihrem Körper eher an einen Minirock. Ihre einzige Kleidung aus der Menschenwelt lag zerrissen unter Raizels Bett im Haus der Brantocks. Die Koboldmode fand sie noch etwas gewöhnungsbedürftig. Das lag vor allem an den Trompeten­ärmeln, die ein bisschen nach Karnevalskostüm aussahen. Wenigstens konnte sie ihre gemütlichen Lederstiefel weiterhin tragen.

Einige der Wartenden hielten sich Schilder in Herzform vor die Brust, auf denen stand: Mr. Anonymous, heirate mich. Dieses Angebot war an den unbekannten Autor von Imaginate gerichtet. Ein Superstar ohne Namen. Oder war das nur ein geschickter Marketinggag und bei der neunhundertneunundneunzigsten Fortsetzung würde Vermicelli stolz das Gesicht von Imaginate präsentieren? Noch hatten die Belieber keine Ahnung, wen sie da eigentlich verehrten. Das machte es einfacher, Illusionen aufrechtzuerhalten. Einige Fans schienen sogar vor dem Buchladen kampiert und ihre Schlafsäcke auf dem Rasenstück neben dem Laden zurückgelassen zu haben, sobald die Party anfing. Verrückt, fand Raizel. Als Literaturstudentin konnte sie zwar die Begeisterung für Bücher und Autoren nachvollziehen, Star­rummel war ihr indes fremd. Deshalb wurde ihr auch mulmig zumute, als ein kleines Mädchen aus der Reihe vor ihnen sich umdrehte, rot anlief und dann um ein Autogramm bat.

»Du siehst wirklich genauso aus wie Raizel. Woher hast du die Maske?« Die leibhaftige Raizel zuckte peinlich berührt mit den Schultern und schrieb ihren Namen in das dargebotene Buch mit dem Titel Raizels Look: Ihre Kleidung, ihr Make-up, ihr gewisses Etwas. Das kleine Mädchen lief freudestrahlend zu seinen Freundinnen zurück.

Frips und Raizel stießen allerdings nicht nur auf Anhänger des Buches. Kurz bevor sie endlich an der Reihe waren, tauchte eine Horde auf, die Plakate mit der Aufschrift Dieses Buch verführt unsere Jugend schwenkte. Raizel konnte nicht mehr fragen, was es mit ihnen auf sich hatte, denn in diesem Moment öffnete der Security-Troll die Tür und Frips stürmte sofort in die Buchhandlung. Raizel folgte dem Koboldjungen.

Zunächst musste sie ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnen, das im Innern herrschte. Dann blickte sie sich erwartungsvoll im Geschäft um. Pfeile wiesen den Weg zu Abteilungen wie Romantische Literatur – Die erfolgreichsten Liebestränke und die melancholischsten Gedichte, Heilkräuter, Schelmenstreiche und Abenteuer. Es gab zudem einen Sonderbereich für Zwerge. Die Regale dort waren niedriger.

Raizels Blick fiel auf einen dicken Wälzer, auf dem Brüder Grimm stand. In einem Seminar über internationale Fantastik hatte Raizel auch die tiefere Bedeutung von Rotkäppchen und Aschenbrödel studiert. »Sind das hier bei euch auch Märchenerzähler?«, fragte sie neugierig. Frips stöhnte und entgegnete in gelangweiltem Tonfall:

»Ne, das sind Volkskundler. Die Brüder Grimm haben das Verhalten aller Bewohner dieser Welt genauestens studiert. Sie haben schrecklich dicke Bücher über die Fragen geschrieben, weshalb Hexen sich gern in Lebkuchenhäusern ansiedeln, Prinzen sich manchmal als Frösche tarnen und Spindelstiche sich als Schlafmittel eignen. In der Schule haben sie uns im Fach Sachunterricht gezwungen, das alles auswendig zu lernen, weil wir angeblich etwas über unsere eigene Natur lernen sollten. So was von dröge!« Raizel konnte sich ein Lachen nicht verkneifen und fuhr fort, die Buchhandlung zu erforschen.

An den Wänden stapelten sich vor allem alte Folianten, es roch gemütlich muffig. Der gesamte Innenraum hingegen war mit neuen Dingen gefüllt – Sachen, die in Raizels normalem Leben eine Bedeutung spielten: täuschend echt wirkende Duplikate ihres Tagebuchs mit weinrotem Ledereinband, ihr geliebtes T-Shirt mit Glückspilzaufdruck und selbst Megapackungen mit Lakritzhütchen, nach denen sie süchtig war.

»Na, was sagst du?« Frips wuselte herum und machte Raizel auf viele verschiedene Fanartikel aufmerksam. Jetzt wusste sie, wie Harry Potter sich fühlen würde, wenn er durch eine Buchhandlung ihrer Welt liefe …

»Es ist wirklich unglaublich! Hast du dir etwa auch schon was von diesem Zeug gekauft? Ich hoffe ja, du gibst nicht dein ganzes Taschengeld dafür aus«, sagte sie neckend.

»Also, na ja, ich will mir ja nicht so einen Mädchenkram kaufen, aber du hast mich echt auf den Lakritzgeschmack gebracht«, antwortete der Kobold peinlich berührt.

»Und weshalb ist ausgerechnet mein altes Schlabber-Shirt zum Fanartikel erklärt worden?«, fragte Raizel verwundert.

»Na, weil es so herrlich ungewöhnlich ist, wie du es dir fast jeden Abend auf dem Sofa bequem machst. Dafür haben wir hier neben all unseren abenteuerlichen Questen überhaupt keine Zeit. Echt fantastisch, dein Leben!«

Raizel schüttelte ungläubig den Kopf.

Da schnarrte plötzlich jemand in barschem Tonfall: »Ausweiskontrolle.«

Für einen Moment überlegte Raizel tatsächlich, ob sie ihren Personal­ausweis dabeihatte. Obwohl der ihr hier bestimmt nicht viel nutzen würde. Der Kontrolleur hatte allerdings gar nicht sie, sondern ihren jungen Begleiter gemeint. Misstrauisch fragte er nun: »Hast du schon deine magische Reife erlangt?«

»Aber natürlich, Sir«, sagte Frips schnell und hielt ein Pappstück mit einer Tuschezeichnung und einem Abdruck seiner Ohren hoch. »Soll ich es dir beweisen, indem ich dich nach alter Koboldart verhexe?« Als der Kontrolleur hastig den Kopf schüttelte und sich ein neues Opfer suchte, zog Frips Raizel in den Gang zwischen zwei Regalen hinein.

»Ja, okay, der Ausweis ist gefälscht«, gab er wenig später in sicherer Entfernung zu. »Um Imaginate lesen zu dürfen, muss man seine magische Reife erreicht haben, weil sonst angeblich akuter Wirklichkeitsverlust droht. Es soll schon vorgekommen sein, dass Kobolde sich nach dem Lesen plötzlich wie die Fabelwesen fühlten, als die sie in euren Märchenbüchern beschrieben werden, und nicht als die durch und durch realen Lebewesen, die sie nun einmal sind. Einige traf es sogar so hart, dass sie am Ende des Regenbogens Gold versteckten. Mir würde das natürlich nie passieren.«

Raizel erinnerte sich plötzlich an etwas.

»Haben diese Leute, die draußen Schilder geschwenkt haben, etwas damit zu tun?«

»Du meinst die Vereinten Realisten, kurz VR? Die wollen nicht einsehen, dass es fremde Welten gibt, in denen keine Magie existiert. Außerdem sagen sie, Imaginate verherrliche Gewalt und verderbe die Jugend. In allem wollen sie gleich mehrere Dimensionen sehen. Deshalb bestehen sie auch darauf, dass in Imaginate ein ›e‹ eingefügt wird: Damit die ›Magie‹ zurück in ›Imagienate‹ gelangt. Ganz schön militant, die VR-Anhänger.«

In diesem Augenblick stürmte eine Horde von Jugendlichen schubsend und drängelnd in den Laden und Raizel zog sich die Kapuze ihres Capes tiefer ins Gesicht. Zwei halbstarke Riesenmädchen waren trotz der Verkleidung auf sie aufmerksam geworden. Sie bauten sich vor ihr auf, zeigten auf ihre Schuhe und rümpften die Nase: »Pff, was für ein billiges Imitat. In Schuhe von so schlechter Qualität würde sie nie ihre Füße stecken.« Frips grinste schelmisch.

Raizel wurde durch eine Lautsprecherdurchsage von einer Antwort erlöst: »Meine sehr verehrten Riesen, Kobolde, Gnome, Balden und alle, die ich vergessen habe, ich freue mich außerordentlich, euch heute zur Releaseparty des sechsundsechzigsten Bandes von Imaginate zu begrüßen. Stöbert, erfrischt euch am kalten Büfett und vor allem: kauft! Um euch in die richtige Stimmung dafür zu versetzen, verwöhnen wir euch hier und jetzt mit einem Liveauftritt der – Froschcombo! Applaus bitte!« So sprach der Ladeninhaber, der Raizel bereits als waschechter Bücherwurm beschrieben worden war. Und wirklich: Sein faltiger Wurmschwanz erinnerte an einen Ledereinband und die Flecken auf seiner Krawatte sahen verdächtig nach Papierschnipseln aus. Vermutlich hatte Vermicelli noch schnell einen Happen zu sich genommen, um sich nicht vor Heißhunger auf seine eigene Ware zu stürzen.

Nur wenige Augenblicke nach seiner Ansage stürmten fünf überdimensional große Frösche auf die Bühne. Ein Drummer, ein Flötist, ein schneidiger Bassist mit Tuch um die Stirn und ein zartbesaiteter Harfenspieler, der zu seinem Spiel unablässig seufzte. Der Star war jedoch Körmit, der Bandleader und Sänger. In James-Dean-Manier lehnte er sich an seinen Notenständer, zog leicht arrogant eine Augenbraue hoch und begann, lässig ins Mikro zu hauchen.

Während die Band spielte, schlängelte Raizel sich durch die Reihen und suchte Imaginate, Band eins. Sie war sozusagen der Erschaffung ihres Universums auf der Spur. Wie lächerlich das klang, hier, in einem vollgestopften Laden, der auch in ihrer Stadt stehen könnte, wenn man mal von der Angewohnheit des Besitzers absah, die Seiten anzuknabbern. Raizel musste einfach mehr über diesen Roman herausfinden. Vielleicht würde sie dann auch erfahren, wie sie wieder in ihre Welt zurückkehren sollte. Sie klammerte sich an diese Aussicht, die ihr bei all den erschütternden Erlebnissen der vergangenen Stunden ein bisschen Halt gab.

Da lag es. Das Buch nahm einen Ehrenplatz ein, am Kopf eines Tisches mit Titeln wie Alles nur geklaut: Intertextuelle Bezüge in Imaginate oder Wie Imaginate die Vorstellungskraft schult. Hier standen nicht sehr viele Kauflustige herum, vermutlich, weil jeder Partygast den ersten Band schon längst gelesen hatte. In einer Ecke hörte sie zwei gelehrt aussehende Gnome diskutieren.

»Ich würde sagen, Raizel ist eindeutig eine romantische Heldin. Als Literaturliebhaberin träumt sie sich in fremde Welten hinein, sie huldigt dem Irrealen und den Nachtseiten des Lebens. Weshalb findet sie sich bloß nicht mit ihrem eigenen, so herrlich außergewöhnlichen Leben ab? Diese Geschichte muss meiner Ansicht nach zwangsläufig ein tragisches Ende finden.« Sein Gegenüber erwiderte:

»Du musst bedenken, dass Raizels Dasein ja nur aus unserer Sicht außergewöhnlich erscheint, weil hierzulande selbst jeder Baumgeist über Zauberkräfte verfügt. So ist es für uns geradezu fabelhaft, wie sie den Alltag ohne eine Spur von Magie meistert. Der anonyme Autor spielt auf eine ganz exzellente Weise mit den Perspektiven und der Vorstellung davon, was normal ist. Einem Menschen aus ihrer Welt müssten wir Gnome ja wie fantastische Traumwesen erscheinen …«

Die Gelehrten sahen sich an und prusteten angesichts dieser irrwitzigen Vorstellung los. Dann schlug einer der Gnome einen ernsten Ton an. »Was mir Sorge bereitet, ist diese exorbitante Vermarktung des Buches. So wird das Augenmerk fort von der eigentlichen Geschichte gelenkt und zwischen all den Fanartikeln geht der tiefere Sinn verloren. Angeblich soll es sogar bald ein Extrahörspiel nur über eins der Werke geben, das Raizel irgendwann einmal für eine Haus­arbeit gelesen hat. Aber das ist bestimmt nur ein Gerücht. Wäre ja auch ein ziemlich offensichtlicher Versuch, den Erfolgsroman bis ins Letzte auszupressen.«

Die Gnome entfernten sich in Richtung des Büfetts. Für einen Moment lauschte Raizel gedankenverloren Körmits rauchiger Stimme. Ihr Körper war angespannt, Wellen der Aufregung durchströmten sie. Zugleich zögerte sie: Nun also sollte sie das Buch sehen, das die Menschen­welt hervorgebracht hatte. Das war wirklich ziemlich verrückt! Am Anfang war das Wort, dieser Satz aus der Bibel erschien ihr plötzlich in neuem Licht.

In diesem Moment ging auf Vermicellis Bühne ein gleißender Scheinwerfer an. Raizel war dankbar für die Ablenkung. Sie spielte mit einer ihrer widerspenstigen roten Locken, während ihr Blick übers Publikum schweifte. Beim Anblick all der Fans, ihrer Fans sozusagen, legte sich in ihr ein Schalter um. Bislang hatte Raizel mit ihrer Protagonistenrolle gehadert. Nun aber fühlte sie sich verpflichtet, den Erwartungen der Anhänger an die Figur Raizel gerecht zu werden. Mutig und tapfer also sollte sie sein. Kategorien, die in ihrem behüteten Alltag in der westlichen Zivilisation der Menschenwelt nicht unbedingt eine Rolle spielten. Außer bei der Textinterpretation von Heldenepen vielleicht.

Den jungen Kobold Frips konnte sie im Trubel nicht entdecken. Dafür aber einen anderen ihr wohlbekannten Jemand. Der Typ von der Mauer in der Nähe des Nachttannenturmes. Der erste Mensch, dem sie in diesem Land der Fabelwesen begegnet war und dem sie sich deshalb instinktiv verbunden gefühlt hatte. Ehe er sie einfach hatte stehen lassen. So was von unhöflich!

Sie kannte nicht einmal seinen Namen, fiel ihr auf, als sie den Mann mit den halblangen braunen Haaren betrachtete, der sich hinter einem Regal mit melancholischer Literatur zu verstecken schien. Als er ihren Blick auffing, griff er schnell nach einem Buch aus einem Regal mit regionaler Literatur. Es trug den Titel Paradise Found – ein episches Gedicht über Baldorg. Der Mann hatte Nerven. Erst erzählte er ihr, dass sie ihm irgendwie bekannt vorkam, dann verschwand er, ohne auch nur seinen Namen zu nennen. Und jetzt beobachtete er sie und hielt sie davon ab, endlich das Buch ihrer Herkunft zu lesen. Wäre sie jetzt eine echte Hauptfigur, könnte sie seinen Ärmel mit einem Pfeil an eines der Regale tackern wie Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem. Oder ihn zum Donnerdrummel wünschen wie Ronja Räubertochter und ihn beim Sprung­duell über eine Schlucht besiegen. Die einzigen Abgründe, die sich in Vermicellis Buchhandlung auftaten, waren indes die der Seele in der Abteilung für psychologische Dramen. Um die Erwartungen der Leser nicht zu enttäuschen, gab es dort auch ein Regal für Tragödien mit garantiertem Happy End.

Raizel beschloss, den Mann mit dem unbekannten Namen direkt zur Rede zu stellen. Für ihre magielose, geradlinige Art der Problem­lösung wurde die Romanfigur Raizel schließlich in dieser Welt verehrt. Als sie mit Funkeln in den Augen bei dem Unbekannten anlangte, kam ein Angestellter von Vermicelli mit einem Berg von Erstausgaben des neuen Imaginate-Bandes vorbei. Er wurde belagert von Fans, die sich eins der ersten Exemplare sichern wollten. Eine Blumenfee, deren zartes Erscheinungsbild täuschte, hielt Raizel für eine Konkurrentin. Die Fee boxte ihr unerwarteterweise so hart in den Bauch, dass Raizel überrascht zur Seite schwankte und ausgerechnet von jenem Mann aufgefangen wurde, dem sie eigentlich die Meinung sagen wollte. Ein leichter Geruch nach schwelender Glut ging von ihm aus. Sie ließ sich nicht den Wind aus den Segeln nehmen, rappelte sich schnell auf und strich sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht.

»Weshalb beobachtest du mich heimlich?«, herrschte sie ihn an. Er hatte grüne Augen, registrierte sie nebenbei.

»Wie kommst du darauf, dass ich dich beobachte? Hier gibt es genug spannende Unterhaltung.« Er deutete auf ein Bücherregal. Raizel fuhr sich mit den Händen unwillkürlich an ihren Hals, doch an dem von Lille geborgten Oberteil gab es keine Kordel, an der sie nervös hätte nesteln können. Sie kam sich plötzlich ziemlich albern vor und reagierte deshalb heftiger als beabsichtigt.

»Was hast du sonst noch so in deinem Repertoire? Erst fragst du mich aus, dann haust du einfach ab, ohne mir auch nur deinen Namen zu nennen, und jetzt …«

»Tarik«, sagte er. Raizel hielt in ihrem Entrüstungsschwall inne.

»Was?«

»Mein Name ist Tarik. Du kannst also eine Sache von deiner imposanten Liste meiner Verfehlungen streichen«, sagte er spöttisch.

Tarik – welch sonderbarer Name. Er klang nach Jahrmarkt­gaukler oder orientalischem Krieger. In einer Fabelwelt wie dieser musste man wohl solch einen Namen haben. So leicht würde sie ihn nicht davonkommen lassen.

»Na also, geht doch. Und weshalb versteckst du dich hier wie ein Dieb, der seine Beute inspiziert?« Tarik schaute so, als würde ihn dieser Vergleich erheitern. Das ließ Raizels Blut erst recht hoch­kochen. In diesem Augenblick lief Frips an ihnen vorbei, blickte sie kurz an, runzelte die Stirn und verschwand wieder im Getümmel. Raizel wandte sich wieder dem Mann von der Mauer zu.

»Super, dass wenigstens einer sich amüsiert. Du bist ja wirklich ein schöner Held.« Und einem plötzlichen Gedanken folgend, setzte sie trotzig hinzu: »In Imaginate würde jemand wie du keinerlei Rolle spielen.« Sie war davon ausgegangen, dass diese Aussage für alle Besucher der Buchparty die ultimative Kränkung darstellen würde. Die Reaktion ihres Gegenübers fiel allerdings nicht so aus wie erwartet.

Tarik blickte für einen kurzen Moment überrascht, dann prustete er los, als hätte er gerade etwas sehr Absurdes gehört. Er fing sich wieder.

»Damit hast du zweifelsohne recht.« Er nahm sie in Augenschein. Hatte er gerade dorthin geschaut, wo ihre Beine unter dem allzu kurzen Kleid hervorragten? Dann wechselte er abrupt das Thema. »Amüsierst du dich, Raizel?«

Mehr noch als alle Sticheleien brachte sie diese Frage auf.

»Jetzt willst du plötzlich Small Talk machen? Tut mir leid, dafür ist mir meine Zeit zu schade.«

Sie drehte sich um, ihre langen Locken flogen durch die Luft, als sie den Kopf divenhaft herumriss. Stolz rauschte sie davon. Das war mal ein Abgang, wie er sich für eine Hauptfigur gehörte. Die Hochstimmung dauerte an, bis eine Sackgasse aus Bücherregalen sie stoppte. Raizel schaute sich nach Tarik um, zum Glück war nichts von ihm zu sehen. Er konnte ihr von jetzt an gestohlen bleiben, sie hatte Wichtigeres zu tun. Den Sinn der gesamten menschlichen Existenz zu ergründen zum Beispiel, und andere Nebensächlichkeiten.

So beugte sie sich wenige Augenblicke später über den ersten Band ihrer Geschichte. Endlich war es so weit, und dennoch zögerte sie. Sie spürte diese Mischung aus Neugier und schlechtem Gewissen, vergleichbar mit der Situation, wenn man das Ende eines Buches schon zu Beginn las. Nur dass es diesmal um ihr eigenes Leben ging.

Was, wenn da jetzt stehen würde: Insgeheim wünschte Raizel sich, XY umzubringen. Würde es dann stimmen, nur weil es geschrieben stand? Oder würde sie es sich nur einreden, wobei ja das Resultat dasselbe blieb? So, als ob Eva die Bibel lesen und deshalb den Apfel nehmen würde, wissend, dass es so diktiert wurde. Und was, wenn Raizel im Buch etwas erfahren würde, was noch nicht eingetreten war? Wäre ihre Zukunft vorgeschrieben wie die einer Romanfigur?

Zögernd strich sie mit der Hand über den Einband, und da war er wieder: dieser Stromschlag aus dem Nachttannenturm, gepaart mit dem beißenden Geruch, der sie damals vor den Balden hatte fliehen lassen.

Ein Gehilfe des Bücherwurmes blieb neben ihr stehen und musterte sie mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier. »Ah, da ist jemand noch nicht an Vermicellis aggressive Marketingstrategie gewöhnt. Ein kleiner Stromschlag, um die Sinne anzuregen, eine Wolke aus Patschuli, die beim Reiben des Einbandes freigesetzt wird. Der Geruch soll den potenziellen Leser in eine andere Welt entführen.«

399
477,97 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
432 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783959913584
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают