Читать книгу: «Die Angst der Schweigenden», страница 4

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Marga rannte am Haus vorbei in die Scheune und holte Giselas Trense.

»Gisela!«, rief sie außer Atem. »Gisela, jetzt!«

»Marga, was machst du denn da?«

Marga schaute erschrocken auf.

Mama stand im Nachthemd am Schlafzimmerfenster und blickte zu ihr in den Hof. »Es gibt Frühstück!«, rief sie.

»Ich kann jetzt nicht«, antwortete Marga schnell. »Ich habe zu tun. Leider.«

»Und was genau hast du vor?«

»Es hat geschneit, siehst du das denn nicht?«

»Willst du Gisela retten?«

»Nein!«, rief Marga zurück. »Nicht Gisela.« Marga zeigte auf den See, zog ihre Hand erschrocken wieder zurück. Sie durfte nichts verraten.

»Keine Experimente, hörst du?«

»Meinst du, Gisela könnte einen Schlitten ziehen?«

»Marga!«

»Das Weihnachtsfest fällt aus, und ich bin schuld. Ist dir das etwa egal?«, fragte Marga empört. »Gisela ist die Einzige, die noch helfen kann.«

»Wir fahren gleich in die Stadt, den Großeinkauf erledigen. Anschließend zünden wir für Oma Gitte eine Kerze an.«

»Ich bleibe hier!«, rief Marga entschlossen.

»Zum Friedhof, Marga. Oma wird sich freuen.«

»Oma ist tot. Wie soll sie sich da freuen?«

»Hör auf, so etwas zu sagen«, schimpfte Mama.

Marga antwortete nicht. Stattdessen reparierte sie die Trense, während Gisela unbeteiligt im Schnee wühlte.

»Rein mit dir!«, rief Mama.

Marga stapfte ins Haus, setzte sich mürrisch an den Frühstückstisch.

»Dann bleibst du eben mit Opa hier«, schlug Mama vor.

»Ich muss Zeitung lesen«, brummelte er.

»Aber doch nicht den ganzen Tag?«

»Egal«, winkte Marga ab. »Ich habe sowieso zu tun.«

»Und wer passt jetzt auf wen auf?« Mama wischte Roberts Mund sauber. »Sag doch auch mal etwas dazu!«

Papa schlürfte seinen Kaffee. »Was denn?«

»Marga möchte hierbleiben.«

»Und?«

Mama seufzte, räumte den Tisch ab, wickelte Robert auf der Couch, stopfte Windeln und Lätzchen in eine Tasche, holte ein Gläschen Obst und einen Löffel aus der Küche, zwängte einen wütenden Robert in seinen Schneeanzug und erteilte Befehle. Marga saß ungeduldig auf der Treppenstufe und wartete. Dann endlich öffnete Mama die Haustür, schleppte Robert und das Gepäck zum Auto, setzte ihn in den Sitz, während Marga summte und mit einer Rassel über seinem Kopf herumzappelte.

»Was bin ich froh, dass du schon so groß bist, Marga«, betonte Mama. »Sechs Jahre schon. Das ist so, so groß«, quietschte sie. »Opa ist im Haus. Er hat den Kamin angefeuert und sich auf das Sofa gelegt. Du könntest zu ihm gehen, er liest dir bestimmt etwas vor.« Sie küsste Marga auf den Kopf. »In der Küche steht noch ein Teller mit Plätzchen und in der Tiefkühltruhe ist Pizza. Vielleicht könnt ihr eure Figuren weiter schnitzen oder aus Mandarinen neue Anhänger …«

»Anni, bitte!«, unterbrach Papa genervt.

»Und nicht raus auf den See«, befahl Mama.

Marga nickte ernst und winkte brav, als ihre Eltern vom Hof fuhren, dann lockte sie Gisela in den Unterstand. Sie verlor fast das Gleichgewicht, so gierig suchte das Schwein nach den Eicheln in ihrer Tasche. Sie packte Giselas Ohren und zog sie durch die schmale Tür in den Schuppen. »Du bist viel zu dick. Ist ja wie durch eine Katzenklappe«, motzte sie. Entschlossen stemmte sie sich gegen Giselas Hintern, dabei berührte sie mit ihrer Wange versehentlich die verkrusteten Borsten. Sie verzog das Gesicht. »Du stinkst«, beschwerte sie sich. Ihr fiel das verweste Katzenbaby ein, das sie im Sommer hinter der Scheune gefunden hatte. Sie würgte.

Gemeinsam stapften sie durch den tiefen Schnee zum Weihnachtsmann, und während Gisela genüsslich die letzten Eicheln kaute, erzählte Marga ausführlich, warum sie so lange gebraucht hatten. »Ich habe mal ein totes Katzenbaby hinter der Scheune gefunden. Das war ganz kalt und labbrig und es hat genauso gestunken.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Weißt du eigentlich, was ich mir wünsche? Zu Weihnachten?«

Der Weihnachtsmann schaute Marga grimmig an.

Eigentlich wäre Marga viel lieber mit einkaufen gefahren. »Ist es wegen Anton? Weil ich ihn mit Kreide angemalt habe?«, fragte sie vorsichtig. »Kriege ich deswegen keine Geschenke? Anton fand’s nicht schlimm, und ich habe ihn mit in die Badewanne genommen. Er sieht wieder aus wie neu«, versicherte sie.

»Wir müssen uns beeilen, das hast du doch verstanden?«

Marga dachte angestrengt nach, schrubbte Giselas Ohr. Sie nickte skeptisch. »Warum bist du nicht unsichtbar?«, fragte sie.

Der Weihnachtsmann seufzte genervt. »Weil ich vom Schlitten gefallen bin.«

»Vielleicht müssen wir dich gar nicht verstecken. Vielleicht kann nur ich dich sehen. Weil ich ein reines Herz habe.« Marga wackelte unsicher mit dem Kopf. Da war der Sonnenbrand auf Antons Ohren und sie hatte Mama im Stich gelassen und Robert wäre fast gestorben, und dann war da noch Queen Enina, die nun doch keine Schneckenkönigin mehr war, weil Marga sich vertan hatte. Sie hatte die Weinbergschnecke gefunden und zu den anderen in ihre Nachttischschublade gesetzt, hatte regelmäßige Gewichtskontrollen durchgeführt, die Ergebnisse in eine Tabelle eingetragen. Margas neue Schnecke hatte 26,4 Gramm gewogen, das Gehäuse war 4,2 Zentimeter groß gewesen, dickwandig und stabil, mit quer verlaufenden Riefen. Von Opa hatte sie gelernt, dass man eine Schnecke mit linksgängigem Gehäuse eine echte Schneckenkönigin nannte. Also hatte sich Marga eine Heißklebepistole besorgt und das Gehäuse verziert. Mit einem pinken Glasstein, flach und deswegen besonders gut geeignet, einem Stein aus Perlmutt, den Marga bis dahin wie einen Schatz gehütet hatte, und grünem Glitzerstaub. Marga hatte ihr Salat und Blätter und auch ein paar Eierschalen für den Kalkhaushalt gegeben, und Queen Enina hätte bis an ihr Ende glücklich werden können, wenn Marga nicht zufällig herausgefunden hätte, dass sie sich vertan hatte. Mit Schrecken hatte sie auf das Häuschen gestarrt, es immer wieder mit den anderen verglichen. Erst hatte sie gehofft, dass alle ihre Schnecken Königinnen waren, aber dann hatte sie entschieden, dass Queen Enina genauso wenig eine Schneckenkönigin war wie alle anderen und dass sie Enina zu Unrecht so wunderschön verziert hatte. Sie hatte geweint und der Gerechtigkeit wegen entschieden, dass sie Enina zurück in den Wald bringen musste.

Marga holte tief Luft. »Gut, dann verstecken wir dich eben«, sagte sie unglücklich. »Du musst trocknen. Ist dir kalt?«

Der Weihnachtsmann zupfte an seiner roten Jacke. »Ganz nass«, bemerkte er.

Marga rückte die Trense zurecht. »Ich darf Gisela kein Einhorn mehr aufsetzen, hat Mama gesagt. Schade, aber da kann man nichts machen.« Marga band das Ende des Stricks an den Schlitten. »Los!«, befahl sie. Gisela lief in kleinen Schritten durch den Schnee, ihre Ohren wippten auf und ab. Marga fand, dass Gisela gar nicht wie ein Schwein wirkte, das vom Aussterben bedroht war. Und dann konnte Marga nicht so recht einordnen, was sie sah: Aus den Taschen des Weihnachtsmanns flatterten lauter bedruckte Papiere. Sie wirbelten durch die Luft, und je schneller der Schlitten fuhr, desto wilder flatterten die schmalen Blätter aus seinen Taschen und fielen in den Schnee. Marga blinzelte. Vor ihren Füßen landete ein Fünfeuroschein, der allmählich von dicken Schneeflocken betupft wurde.

Sie schaute sich um. Mit aufgerissenen Augen starrte sie auf den Schnee. Auf den Schnee, der sich rot gefärbt hatte. Genau da, wo zuvor der Weihnachtsmann gelegen hatte.

Marga schluckte ängstlich.

12

Polizeimeldung:

Zwei 6-jährige Kinder gesucht

Besorgte Passanten informierten die Polizei am Sonnabend darüber, dass ein 5 bis 6 Jahre altes Mädchen und ein 5 bis 6 Jahre alter Junge allein entlang der Schienen Richtung Felsenmeer gerannt seien. Man habe sie angesprochen, aber sie hätten nicht reagiert und seien den Männern entwischt. Das Mädchen sei verletzt gewesen und habe stark geblutet. Nach Einschätzung der Situation benötigen beide Kinder dringend medizinische und psychologische Betreuung.

Wer hat die beiden Kinder gesehen?

Sachdienliche Hinweise bitte an die Polizeidienststelle.

13

Es knackte trocken. Igor zuckte zusammen, starrte auf die Teller in seiner Hand. Ein großer Riss hatte sich gebildet. Er ließ los, die Teller zerfielen in einzelne Teile und landeten laut scheppernd auf dem Boden.

»Dass ich Ihnen davon erzählt habe, war ein Fehler.« Inna erhob sich. »Vergessen Sie meine Kindheit. Vergessen Sie die Höhle. Es ist der Sturm. Er zerrt an meinem Verstand.« Sie bückte sich und begann, die Scherben aufzusammeln.

»Setzen Sie sich!«, befahl Igor streng.

»Wie bitte?«

»Hinsetzen!« Er zeigte auf das Sofa. »Wir sind noch nicht fertig.«

Inna ließ den zerbrochenen Teller auf den Boden gleiten, setzte sich steif.

»Sie sind durch den Eingang gekrochen. Bäuchlings mit den Füßen voran.« Er verengte seine Augen. »Und dann?«

»Und dann?«

Igor ließ seine flache Hand auf den Tisch sausen. »Herrgott noch mal!«, brüllte er. »Hören Sie auf damit! Hören Sie auf, so dämliche Rückfragen zu stellen!« Sein Haaransatz zitterte. »Erzählen Sie, was passiert ist«, keuchte er heiser.

Sie nickte langsam. »Ich hatte keine Kraft mehr. Zu kalt. Meine Hände waren zu kalt.«

Igor rieb seine Augen. »Weiter?«, hauchte er. Er vergrub sein Gesicht. »Erzählen Sie weiter.«

*

Ihre Finger krallten sich in die kalte Erde, aber sie fand keinen Halt. Sie rauschte in die Tiefe, immer tiefer mit dem Bauch an spitz hervorstehenden Steinen entlang, es schnürte ihr die Luft ab. Sie wollte schreien, aber ihr fehlte die Kraft in den Lungen, dann endlich empfing sie harter Boden. Sie war mit den Füßen gelandet, drei oder vier Körperlängen unter dem Einstieg. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten, fiel rückwärts und stieß sich ihren Hinterkopf an der Felswand. Sie kauerte sich vornüber, hielt ihren Kopf, unfähig zu weinen oder etwas zu sehen, alles um sie herum war schwarz, die Luft nass und modrig, sie hörte feines Geröll herunterfallen.

»Inna?«, rief Jenke von oben.

Inna wollte antworten, aber es kam kein Laut heraus. Ihre wunden Handflächen brannten, ihre Zunge klebte am Gaumen, ihr Brustkorb verengte sich unter der Atmung und schnürte ihr die Luft ab. Sie hörte Jenke, wie er sich rückwärts durch den Eingang schob und herabglitt.

Inna schloss ihre Augen und kauerte sich in die Ecke. Die Kälte fraß sich durch ihre Knochen. Sie saßen auf dem harten Boden, mit eng angezogenen Beinen. Mit der Zeit hatte sie sich an die Dunkelheit gewöhnt. »Was sollen wir jetzt machen?«, fragte sie irgendwann.

Jenke presste seine Handballen auf die Augen. »Nicht«, er schlotterte. »Nicht fragen.«

Inna stand auf, legte ihren Kopf in den Nacken. Hoch über ihr ein diffuser Lichtstrahl, der sich feige in der gegenüberliegenden Felswand verkroch. »Wir müssen es versuchen.« Sie stupste Jenke an. »Wir müssen!«

Jenke schaukelte vor und zurück.

»Jenke!« Sie packte und schüttelte ihn. »Steh auf!«

»Warum denn?«, schrie er und sprang auf. Er stieß sie gegen die Felswand. »Warum sollen wir denn überhaupt wieder hier rauswollen?«

Inna blickte auf.

Igor war bis zur vorderen Sitzkante gerutscht, die Augen weit aufgerissen. Tränen hatten sich gesammelt. »Würden Sie den Weg zur Höhle heute noch kennen? Ihn wiederfinden?«

Inna blinzelte. »Vielleicht, aber ein Erwachsener passt nicht durch die enge Felsspalte.«

»Nein? Wie sind die Männer dann dorthin gelangt?«

»Welche Männer?«

»Die Männer, die ihre Zigaretten auf dem Felsvorsprung ausgedrückt hatten. Wie sind die Männer dorthin gelangt, wenn nicht durch die Felsspalte?«, fragte Igor.

»Von oben, also von der anderen Seite.«

»Und kennen Sie den Weg über die andere Seite?«

Inna dachte nach. »Mit einem Pick-up. Die Männer waren mit einem Pick-up dort«, fiel ihr ein. »Sie haben den Pick-up am westlichen Eingang zum Felsenmeer geparkt.«

»Würden Sie ihn wiederfinden?«

»Den Pick-up?«

Igor stöhnte. »Herrgott, den Zugang von der anderen Seite und damit den Weg zur Höhle.« Er fächerte sich Luft zu.

»Was ist mit Ihnen? Ist Ihnen heiß?«, fragte Inna.

Igor wehrte ab. »Und Jenke?«

»Was ist mit Jenke?«

»Würde er die Höhle wiederfinden? Sich dorthin zurückziehen? Sich dort verstecken, wenn er müsste?« Er stand auf, verschränkte seine Arme.

»Warum sollte er?«

Igor nickte knapp. »Zum Beispiel, weil er seinen Vater ermordet hat.«

Inna schüttelte den Kopf.

»Wo ist die Höhle?«, fragte Igor ernst.

»Warum wollen Sie das alles wissen?«

»Wo, Inna?«

Sie lächelte schief. Wie groß Igor war, dachte Inna. Sie erhaschte einen Blick auf seinen behaarten Bauch. »Jenke hat Sie gar nicht geschickt.«

»Wie bitte?«

»Nicht er hat Sie geschickt.« Sie räusperte sich. »Sie sind auf der Suche nach ihm«, verkündete sie triumphierend. »Und ich soll Ihnen sagen, wo er ist.«

14

Der Schnee sah verlockend aus, weich wie Watte oder eine Wolke, aber Marga wusste, dass der Schnee in Wirklichkeit kalt war und nass. Sie ließ die Scheine liegen, rannte über den zugeschneiten See zum Weihnachtsmann, der sich inzwischen aufgesetzt hatte und nach ihr schaute.

»Mädchen«, setzte der Weihnachtsmann an, aber Marga winkte ab.

»Ich kann jetzt nicht mehr«, erklärte sie. »Und Gisela auch nicht.« Marga schrubbte Giselas Ohren und vergewisserte sich, dass der Weihnachtsmann ihr erschöpftes Gesicht sehen konnte. »Gisela ist vom Aussterben bedroht. Sie muss jetzt zurück in ihr Gehege.«

Er zeigte zum Hof. »Noch ein winziges Stückchen. Du willst doch, dass es dieses Jahr Geschenke gibt?«

Marga überlegte. »Aber nur bis zur Scheune«, entschied sie. Sie nahm die Trense und zog Gisela mit beiden Händen hinter sich her.

Vor der Scheune machten sie Halt.

»Du darfst niemandem erzählen, dass ich hier bin.«

»Hab ich ja längst verstanden.« Marga zupfte an seinem nassen Ärmel. »Kannst du krank werden?«

Sie würde sich kümmern, so, wie Mama sich um Marga kümmerte, wenn sie krank war, dann nämlich lag sie auf dem Sofa, zugedeckt mit der blauen Decke, die sich in der Truhe neben dem Kamin befand. Das Beste am Kranksein war, dass man umsorgt wurde, ohne Unterlass, und dass man Kartoffeln mit Möhren und Butter zu essen bekam, sogar mit Petersilie.

Einmal war Marga ohnmächtig geworden. Anton hatte kalte Pfoten gehabt, und weil er nach Kaffeebohnen gerochen hatte, war ihr übel geworden. Aufgewacht war sie in Mamas Bett, ohne sich zu erinnern, wie sie dort hingelangt war, aber geweint hatte sie, weil Anton die Nacht in seinem Käfig verbringen musste. Am nächsten Morgen hatte sie ihn mit auf das Sofa nehmen dürfen. Sie hatte frische Trauben und Multivitaminsaft bekommen. Mama hatte aufgeräumt und in regelmäßigen Abständen Margas Stirn gefühlt, und dann war Opa zu ihr gekommen und hatte ihr eine Schachfigur gezeigt. »Siehst du, Marga? Das ist einer der beiden Türme«, hatte er erklärt und die Figur in seinen Fingern hin- und hergedreht. »Ich habe ihn geschnitzt. Gefällt er dir? Die Figuren stellen ein Sinnbild von Hofstaat und Heer traditioneller Königreiche dar.«

»Warum sehen deine Figuren immer gleich aus?«

»So sind sie eben«, hatte Opa erklärt. »Ich schnitze sie nach der allgemein üblichen Figurenform. Nathaniel Cooke hat sie kreiert. Ist schon fast 170 Jahre her.« Er hatte überlegt. »Man nennt sie Staunton-Figuren. Nach dem großen Schachspieler Howard Staunton.«

»Und hat Howard Staunton auch Einhörner entworfen?«

Opa hatte gelacht, dann war er ernst geworden. »Wenn du Einhörner haben möchtest, dann musst du lernen, wie man schnitzt.«

So hatte Marga ein Schnitzmesser und eine eigene Werkbank bekommen. In der Scheune hatte sie eifrig Skizzen angefertigt, die Gisela eines Tages sabbernd und schmatzend verschlungen hatte. Nicht eine einzige Zeichnung war verschont geblieben. Marga hatte Gisela ins rechte Ohr gekniffen, aber Gisela hatte unbeirrt weitergekaut.

»Weißt du, Marga«, hatte Opa begonnen, als sie weinend auf seinem Schoß gesessen hatte. »Erinnerst du dich an den Namen Nathaniel Cooke?«

Marga hatte enttäuscht genickt.

»Nathaniel Cooke hatte die Originalzeichnungen für seine berühmten Schachfiguren im Werk Jaques of London hinterlegt. Diese Manufaktur stellte damals die Schachfiguren her, mit denen die ganze Welt spielte.« Opa hatte eine seiner bedeutungsvollen Pausen eingelegt. »Und weißt du, was eines Tages mit diesen Zeichnungen passierte?«

Marga hatte schluchzend den Kopf geschüttelt.

»Das Werk Jaques of London wurde im Krieg von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Nicht nur die Originalzeichnungen wurden zerstört, sondern auch die Muster der Staunton-Figuren.« Opa hatte geheimnisvoll mit der Zunge geschnalzt. »Nichts mehr da«, hatte er geflüstert. »Alles weg! Verbrannt, für alle Zeiten, für immer und ewig!«

»Und niemand hatte Kopien?«, hatte sie erschrocken gefragt.

»Niemand«, hatte Opa bestätigt. »Niemand!«

»Und dann?«

»Nichts. Man hat die Figuren einfach weiter hergestellt, sich nicht davon beirren lassen. Die Staunton-Figuren werden bis heute produziert, auch ohne die Originalzeichnungen.«

Marga scheuchte Gisela über den Hof zurück in ihre Hütte, hätte sich gern feierlich bedankt, aber Gisela würde sowieso nicht zuhören, so ersparte sie sich die aufwendige Zeremonie.

Als Marga zurück zur Scheune kam, war der Weihnachtsmann bereits vom Schlitten auf den Boden gerutscht und hatte sich auf allen vieren in den Schnee gehockt.

»Jetzt nur noch aufstehen«, sagte sie. Vielleicht konnte sie dann gehen und ihn allein lassen. Vielleicht.

Der Weihnachtsmann stemmte sich hoch, suchte Halt an der Scheunentür. Er humpelte los, stolperte über den Sack mit Opas leeren Dosen zum Büchsenwerfen und stieß mit seinem Kinn an die Deichsel eines Anhängers. Der Weihnachtsmann fluchte laut.

»Schscht«, befahl Marga. Der Samtanzug war mit Spänen und Staub übersät. Marga klopfte ihn ab. »Letzten Sommer hatte ich einen Unfall. Ich wollte im Wald picknicken und nach Enina suchen. Ich bin mit meinem Fahrrad über eine Wurzel gefahren und gefallen, dabei ist Anton aus seinem Körbchen geschleudert worden und ganz weit geflogen.« Sie schaute zu, wie sich der Weihnachtsmann in den Stand hievte. »Hast du schon mal geweint?« Weil er nicht reagierte, erzählte sie weiter von ihrem Unfall. »In meinen Beinen steckten lauter Dornen, und Anton habe ich aus den Brennnesseln geholt. Das war schlimm.« Sie schob den Weihnachtsmann durch die Scheune. »Das ist ein Dreiseitenkipper. Typ 120 DK, Baujahr 1975 von Krone. Und das hier«, sie zeigte auf den nächsten Anhänger, »ist ein Einachs-Dreiseitenkipper, vier Jahre jünger. Opa hat mal Halteösen an alle Bordwände geschweißt.« Sie zeigte ihm die Ösen für den Holzaufbau. »Ich habe geholfen«, erklärte sie. »Und das hier ist mein allerliebstes Fahrzeug auf dem ganzen Hof.« Marga machte einen Umweg und steuerte auf einen Unimog zu. »Leiterrahmen ohne Kröpfung, ein Ur-Unimog, der Letzte, der gebaut wurde. Damit fährt mein Onkel immer Schnee weg, wenn er dran ist. Papa hat ihn im Frühling zu meinem sechsten Geburtstag gefahren und schwarze Luftballons drangehängt. Die waren noch übrig von der Beerdigung.« Sie zuckte mit den Schultern. »Letzten Winter ist Otto gestorben. Otto war unser Kater. Papa hat ein Loch gegraben, und wir haben ihn in ein Handtuch gewickelt und hineingelegt. Otto ist auch der Vater von dem toten Katzenbaby, das ich mal gefunden habe.« Marga zupfte an ihrem Ohrläppchen. »Beide tot. Auf jeden Fall hatten wir schwarze Luftballons.« Marga zog den Weihnachtsmann in die hinterste Ecke der Scheune. »Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie schnell.

Der Weihnachtsmann verengte seine Augen. »Du hast doch verstanden, was ich dir gesagt habe?«

Marga nickte vorsichtig.

»Niemand darf wissen, dass ich hier bin.« Er berührte ihren Arm. »Wenn du deinen Eltern oder deinem Opa von mir erzählst …« Er bohrte seine Finger in ihre Haut. »Weißt du, was dann passiert?«, fragte er prüfend.

»Dann fällt Weihnachten aus«, hauchte sie.

»Dann fällt Weihnachten aus«, wiederholte er. »Nicht nur das. Wenn du jemandem erzählst, dass ich hier bin, dann kann ich nicht mehr zurück. Wenn ich von Erwachsenen gesehen werde, zerfällt der Zauber und alle Engel und Wichtel werden sterben. Alle.« Er räusperte sich. »Und dann, Mädchen, wirst du ganz schlimm bestraft.«

Marga schluckte.

»Du kommst in ein Kindergefängnis. Ganz allein. Damit würdest du Mama und Papa großen Kummer bereiten. Und in einem Kindergefängnis ist es …«

Marga befreite sich aus seinem Griff. »Mach ich ja nicht«, unterbrach sie ihn.

»Gut«, nickte der Mann. »Darauf muss ich mich verlassen.« Er faltete seine Hände. »Und jetzt besorgst du mir trockene Anziehsachen von deinem Papa. Das kannst du doch? Wie alt bist du? Sechs?«

Marga schüttelte den Kopf. »Fast sieben«, hauchte sie.

»Sieben!« Er klatschte in die Hände. »Dann muss ich mir ja gar keine Sorgen machen. Mit sieben ist man fast schon erwachsen.«

Marga lächelte schief.

»Und wenn du das geschafft hast, habe ich eine Überraschung für dich.« Der Mann knuffte ihr in die Wange. »Magst du Überraschungen?«

Marga zuckte mit den Schultern. Sie wollte ihm nicht sagen, dass sie ihn längst durchschaut hatte. Es gab keinen Weihnachtsmann. Genauso wenig, wie es den Osterhasen gab. Es gab ja nicht einmal Gott.

»Du darfst mitkommen«, verkündete er.

»Mitkommen? Wohin?«

»Möchtest du sehen, wo ich wohne?«

Marga öffnete ihren Mund. Sie durfte weder Hundewelpen noch Süßigkeiten annehmen. Sie durfte in kein fremdes Auto steigen. Auch nicht bei Regen oder Gewitter.

»Du musst schwindelfrei sein«, sagte der Mann. »Du bist doch nicht ängstlich?«

Marga schüttelte den Kopf.

Er zählte auf. »Schwindelfrei, nicht ängstlich. Und du musst Geheimnisse für dich behalten können. Wirklich wichtige Geheimnisse.«

Keine Hundewelpen. Marga atmete erleichtert auf.

»Soll ich dir die Überraschung verraten?«, fragte der Mann.

Sie nickte skeptisch.

»Wir fliegen hoch über den Wolken. Ganz nah bei den Sternen. Du wirst staunen!«

»Mit deinem Schlitten?«

»Und den Rentieren.«

Marga knabberte an ihrer Unterlippe. Schlitten war wie Auto. Sie würde richtig Ärger von Mama bekommen. »Geht ja nicht«, erklärte sie. »Der Schlitten und die Rentiere sind doch weg.«

»Die werden wir morgen suchen.« Er zögerte. »Du kannst doch sicher gut mit Tieren umgehen?«

Marga wippte auf und ab. »Ich habe eigentlich keine Zeit«, log sie.

»Keine Zeit?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider.«

»Keine Zeit«, sagte der Mann nachdenklich. »Also gut. Dann bleibst du eben hier. Dann werde ich den Schlitten allein suchen.« Er räusperte sich. »Und wenn ich ihn nicht finde …« Er hob seine Augenbrauen. »Ja, dann …«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass du der Weihnachtsmann bist.« Marga strich mit der Hand über eine Plane. »Es gibt keinen Weihnachtsmann.«

»Macht nichts!«

»Macht nichts?«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Mir egal, was du glaubst und was nicht.«

Marga schluckte. »Und das Weihnachtsfest?«

»Und das Weihnachtsfest?«, äffte er Marga nach. »Was ist mit dem Weihnachtsfest?«

»Habe ich es dann trotzdem gerettet?«

»Nein«, sagte er scharf.

Marga holte tief Luft. »Kann ich jetzt gehen?«

»Eine Sache noch.« Der Weihnachtsmann stützte sich an der Wand ab. »Bevor es morgen losgeht, brauche ich eine Zeitung.«

»Eine Zeitung? So eine Zeitung, wie Opa sie hat?«

Er nickte. »Eine Tageszeitung. In der Zeitung …« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Da stehen geheime Botschaften für mich drin.«

»Der Schnee war rot«, stieß Marga hervor. »Hast du geblutet?«

Der Mann schüttelte traurig den Kopf. Er zeigte auf Marga. »Du glaubst nicht an mich, deswegen! Deswegen färbt mein Anzug ab.« Der Mann zupfte an seiner Jacke. »Ich verliere nach und nach an Zauber, nur, weil du so misstrauisch bist. Wenn du nicht an mich glaubst, verliere ich meine Kraft. Genau so ist es nämlich.«

»Eine Zeitung«, sagte sie schnell.

»Eine Zeitung. Und trockene Kleidung.«

Marga beeilte sich und rannte über den Hof ins Haus. Im Flur begegnete sie Opa.

»Was machst du da draußen, Marga?«, fragte er prüfend. »Ist dir auch warm genug?«

»Hast du trockene Kleidung für mich? Erwachsenenkleidung? Ich brauche eine Unterhose und einen Schlafanzug.« Margas Herz klopfte schnell. »Für jemanden, der trocknen muss. Ich bringe die Sachen auch wieder zurück.«

»Du spinnst.« Opa schlurfte zurück zum Sofa und legte sich wieder unter seine Decke.

Marga fand, dass Opa blass aussah, gar nicht wie sonst.

»Was ist mit dir?«, fragte sie und legte sich zu ihm. »Wirst du heute sterben?«

Opas Bauch wackelte, so laut lachte er. »Bestimmt nicht.« Er streichelte ihren Rücken. »Ich sterbe nicht.«

»Weißt du, ob der Weihnachtsmann sterben kann? Wie alt ist er überhaupt?«

Opa überlegte angestrengt. Er forderte Marga auf, von seinem Bauch zu klettern, und schlurfte zum Bücherregal. Er brauchte lange, bis er fand, wonach er suchte. Er holte ein dickes schwarzes Buch aus dem Regal und blätterte sorgfältig darin herum. Dann nickte er abwesend. »Manche behaupten, der Weihnachtsmann sei eine blöde Erfindung, eine Symbolfigur weihnachtlichen Schenkens von der Coca-Cola Company. Stimmt aber nicht. Es gibt einen Holzschnitt von 1881. ›Merry Old Santa Claus‹ von Thomas Nast.« Er blätterte weiter. »Und es gibt Beschreibungen aus dem Jahr 1821, in denen der Weihnachtsmann als freundlicher alter Mann mit langem Rauschebart, rotem und mit weißem Pelz verbrämtem Gewand dargestellt wird.« Opa schaute auf. »Also könnte der Weihnachtsmann fast 200 Jahre alt sein.« Mit dieser Feststellung knallte er das schwere Buch zu und stellte es zurück an seinen Platz. »200 Jahre«, wiederholte er und schlurfte zum Sofa.

»200 Jahre?«, fragte Marga ungläubig. »Und gibt es den Weihnachtsmann auch ohne Bart und nicht ganz so alt?«

Opa zuckte mit den Schultern. »Vielleicht.«

Marga sprang auf. Sie lief die Treppe hinauf. Dem Weihnachtsmann würde schon irgendetwas aus Papas Schrank passen. Sie suchte sorgfältig und fand eine Trainingshose, einen Rollkragenpullover und Socken. Sie fischte eine Unterhose und ein T-Shirt aus Papas Schmutzwäsche. Sie stopfte die Kleidung in ihren Rucksack, holte Anton aus seinem Stall. Sie nahm ihn hoch und küsste ihn. »Dann gibt es ihn also doch«, flüsterte sie. »Und wir beide können das Weihnachtsfest retten.«

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18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
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274 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783839265642
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