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6

Groß. Eine große, dunkle Gestalt.

Inna hastete zurück auf ihren Sitz, verriegelte die Türen. Sie keuchte angespannt. Da war niemand. Niemand, der sich hierher verirrt hatte. Die Gestalt existierte nur in ihrer Fantasie, emporgestiegen aus der Essenz ihrer Ängste, ihrer feinen Sinne.

Ihr Auto wackelte. Der Sturm hatte an Stärke zugenommen, hob ihren Wagen an, ließ ihn fallen, klopfte an ihre Seitenscheibe. »Machen Sie auf!«, schrie er.

Inna traute sich nicht, blieb erstarrt in ihrem eingeschneiten Auto sitzen, die Verbindung zur Außenwelt nahm mit jeder weiteren Schneeflocke ab.

Es klopfte erneut an die Scheibe. Energischer. Lauter. Eher ein Hämmern. »Machen Sie auf!«, schrie der Sturm. »Bitte, machen Sie die Tür auf!«

Inna hatte sich auf die Zunge gebissen. Sie schmeckte Blut.

»Nicht wegfahren! Bitte, reden Sie mit mir!«

Reden Sie mit mir.

Reden.

Sie dachte an Grunewald.

»Kannst du dich überhaupt unterhalten, Inna? Kannst du? Mal hier und da ein wenig plaudern? Eine verdammte Konversation führen? Ist gut für die Geschäfte«, hatte er vor vielen Jahren lamentiert.

»Ich arbeite. Das ist gut für die Geschäfte.«

Grunewald hatte den Kopf geschüttelt. »Menschen können sehr nett sein. Man kann mit ihnen reden. Der gemeine Mensch …«

»Ich bin …«

»Du bist kein Mensch. Du bist Statikerin«, hatte Grunewald sie unterbrochen.

»Ich …«

»Versuch’s doch mal.«

»Was denn versuchen?«, hatte Inna hilflos gefragt.

»Unterhalten. Versuch, dich mit anderen Menschen zu unterhalten.«

»Und worüber?«

»Über dich. Über dein Leben. Über andere. Über das Leben anderer.«

»Über das Leben? Über das Leben anderer?«

»Über Hobbys, Lieblingsfarben, Musikgeschmack. Man fragt sich, wie es geht oder was man am Wochenende vorhat. Man erzählt sich Geschichten aus der Kindheit. So macht man das!«

»Aus der Kindheit?« Inna hatte verständnislos die Augenbrauen hochgezogen.

»Zum Beispiel.«

»Was denn für eine Kindheit?«

»Herrgott, Inna! Kindheit! Hattest du denn keine? Mit Fingerfarben malen, schwimmen gehen, Sandburgen bauen und von Mauern springen. Hat dir dein Vater nicht das Fahrradfahren beigebracht? Das nennt man Kindheit! Man spielt mit Steinen und malt Bilder, man spielt Verstecken, kriecht in Höhlen und …«

In diesem Moment hatte Inna ihm ins Gesicht geschlagen.

»Inna …«, hatte Grunewald entsetzt gestammelt und seine Wange gehalten. »Ich …«

»Es gibt keine Höhle. Gibt es nicht.«

Sie holte tief Luft, zögerte, drückte mit klammen Fingern den Knopf der Zentralverriegelung.

Reden.

Über das Wochenende. Über die Kindheit.

Es dauerte einen Moment, dann wurde die Beifahrertür aufgerissen. Der Fremde schob sich mühsam auf den Sitz. Die Autotür fiel zu. Der Knall wirkte bedrohlich, endgültig.

Kein Zurück mehr.

Stille. Noch mehr Stille, nur der Sturm heulte in der Eiseskälte wie ein wildes Tier um sein Opfer. Inna hielt den Atem an.

»Danke«, stöhnte der Mann. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

Reden.

Über das Leben. Über die Kindheit. Über das Wochenende.

»Was machen Sie am Wochenende?«, fragte Inna steif.

»Wie bitte?«

Sie schüttelte den Kopf. »Hier? Was machen Sie hier?«

»Ich war spazieren. Der Schneesturm hat mich überrascht.«

»Haben Sie den Wetterbericht nicht gehört?«

»Sie auch nicht«, spottete der Mann. »Wir könnten die Fußmatten unter die Räder legen.« Der Fremde machte eine bedeutungsvolle Pause. »Ehrlich gesagt …«

»Schnee«, sagte Inna schnell. »Sehr viel Schnee.«

Der Mann nickte. »Ich hatte überlegt zurückzulaufen, aber dann wäre ich drei Stunden unterwegs gewesen, wahrscheinlich länger. Der Sturm ist gewaltig, und es wird schon dunkel.« Er lachte nervös. »Ein Glück, dass Sie mir geöffnet haben.«

Inna presste ihre kalten Hände um den Lenker. Ein Glück. Ein Glück, dass sie ihm geöffnet hatte. Oder?

Der Mann lehnte sich zurück, verschränkte seine Arme, als könnte er damit seine Körperwärme speichern. Er schloss zufrieden seine Augen.

»Gut«, begann Inna. »Wir schaufeln die Räder frei, wir machen das mit …« Sie fuchtelte mit ihren Händen Richtung Fußraum. »Wir machen das mit diesen Matten.«

»Und dann?«

»Und dann.«

»Wir schaffen es nicht einmal vom Parkplatz, und das hier ist erst der Anfang. Der Sturm wird weiter zunehmen und es wird noch mehr Schnee fallen.«

»Wir müssen es versuchen.«

»Wir stecken hier fest. Da hilft nur abwarten.« Der Fremde öffnete seine Augen. »Seien Sie nicht albern.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Geben Sie mir die Schlüssel zu Ihrer Fabrikhalle. Ich möchte nicht erfrieren.« Er räusperte sich. »Sie können ja im Auto bleiben.«

Inna presste ihre Lippen aufeinander, ihren Blick auf die Mittelkonsole gerichtet. Der Mann langte blitzschnell nach dem Schlüsselbund und stürmte hinaus.

Sie öffnete ihren Mund, kein Laut kam heraus, nur ihr Atem, der sich feige in die eiserne Finsternis verflüchtigte. Sie zog den Autoschlüssel ab, wartete. Wartete auf einen Impuls, die Tür aufzureißen und in die Kälte zu stürzen. Sie würde sich keuchend durch den Tiefschnee kämpfen, hier und da Gestalten sehen.

Etwas war ihr aufgefallen. An den Handgelenken des Mannes. Es hatte sie irritiert.

Der Sturm hämmerte erneut gegen ihre Scheibe. »Seien Sie nicht albern! Kommen Sie da raus, bitte!«, schrie er.

Kommen Sie da raus.

Inna nickte.

Kommen Sie da raus.

Wie gern wär’ sie damals aus der Höhle gekrochen. Einfach so.

Sie öffnete die Tür, ließ sich vom Sitz gleiten. Tobende Schneeböen empfingen sie. Der Mann packte ihren Arm, stieß die Tür zu. Sie bückte sich, schützte sich vor den gewaltigen Schneeflocken. Mit großen Schritten stapfte der Fremde durch den tiefen Schnee und zog sie hinter sich her. Wann immer sie stolperte, weil seine Schritte viel zu groß waren, riss er sie hoch und zog sie weiter. Ihr Arm schmerzte. Seine groben Hände bohrten sich durch ihre Jacke. Sie kniff ihre Augen zusammen.

»Rein hier!«, hörte sie ihn brüllen.

»Rein hier!«, hörte sie Jenke.

Inna öffnete ihre Augen einen Spalt, zwängte sich durch die schmale Türöffnung.

Der Mann stieß sie aus dem Weg, zog die Tür mit einer kräftigen Bewegung zu. Er klopfte seine schwere Jacke ab und stampfte auf den Boden. »Geschafft«, verkündete er erleichtert. »Haben Sie nasse Füße?« Er zeigte auf ihre Turnschuhe.

Inna wackelte mit den Zehen.

»Schön warm ist es hier«, bemerkte er.

Schön warm ist es hier.

Inna nickte wieder.

Der Mann zeigte in die Halle. »Viel angenehmer, als die ganze Nacht in Ihrem Auto zu verbringen. Wir haben es warm, wir haben …« Er schaute sich um. »Wir können uns setzen, wir haben einen Weihnachtsbaum.« Er lachte. »Vielleicht sind die Kugeln etwas groß, aber er passt in das spärliche Ambiente.«

Inna zog ihre Jacke aus und hängte sie an die Garderobe.

Menschen.

Nette Menschen.

Nette Menschen fragt man nach ihren Hobbys. Oder danach, was sie am Wochenende vorhaben.

Er reichte ihr seine Jacke, lächelte dankbar. »Ich heiße Igor.«

Igor.

Igor hatte große, raue Hände. Arbeiterhände. Und dann sah sie erneut, was sie im Auto bereits irritiert hatte. Ein bläulicher Schatten um seine Handgelenke.

»Gibt es jemanden, der auf Sie wartet? Der Sie heute Nacht vermisst?«, fragte er.

Jenke. Jenke wartete auf sie.

Sie ging zu einem der Telefone, wählte Grunewalds Nummer. Kein Freizeichen. Nicht einmal ein Knacken. Sie schluckte. »Grunewald?«, fragte sie in den Hörer, klammerte sich am Schreibtisch fest. »Du musst herkommen.« Sie legte auf, räusperte sich. »Grunewald kommt.« Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Gleich«, log sie.

Igor lächelte. Sein Lächeln wirkte aufgesetzt.

»Dann …« Sie lief gezielt auf den Wasserkocher zu. »Sie wollen vielleicht einen Tee.« Sie holte zwei Tassen aus dem Schrank. Während der Kocher das kalte Wasser erhitzte, starrte sie auf die Anrichte.

Fragen.

Fragen stellen.

Fragen beantworten.

Zum Beispiel über das Leben.

Sie öffnete eine Packung Christstollen.

»Wenn Sie ein Messer haben?« Igor streckte ihr erwartungsvoll seine Hand entgegen. »Dann kann ich ihn in Scheiben schneiden.«

Inna schüttelte den Kopf. »Nein«, entgegnete sie, zeigte auf das Sofa am Fenster. »Setzen Sie sich.« Weit genug weg. Bis Grunewald kam.

Ihr Herz klopfte.

Grunewald würde nicht kommen. Es gab keinen Grunewald, der sie abholen würde. Es gab überhaupt niemanden.

Igor schaute zu Boden. »Ich jage Ihnen Angst ein, oder? Nach einem Messer zu fragen, ist nicht sehr hilfreich.«

»Nein.«

»Nein«, lachte er. »Das verstehe ich.« Er schlenderte zum Sofa und setzte sich. »Sie heißen Inna.«

Sie schluckte trocken.

Und dann hörte sie es wieder. Das unheilvolle Rascheln.

Igor wusste also Bescheid. Bescheid darüber, dass Grunewald nicht kommen würde. Bescheid darüber, dass sie nicht hatte telefonieren können. Igor wusste Bescheid, weil er selbst dafür gesorgt hatte, dass die Telefonleitungen tot waren.

7

Marga hielt die Luft an.

Geisterhafte Stille. Nicht ein einziges Geräusch. Regungslos, wie erstarrt, stierte sie zum Hof. »Nicht auf den See, Marga«, hörte sie ihre Mama sagen.

»Aber ich muss nach den eingefrorenen Schildkröten gucken.«

»In ein paar Tagen.«

Marga hatte trotzig ihre Arme verschränkt. »Ich will Schlittschuh laufen.«

»Übermorgen.«

»Warum erst übermorgen?«

»Weil der See erst dann richtig gefroren ist.«

»Weil der See erst dann richtig gefroren ist«, hatte Marga sie nachgeäfft. »Du versaust mir meine ganzen Ferien. Meine ganzen!«

»Wenn du den See betrittst, sperre ich dich ein, hörst du, Marga?«

Marga presste ihre Augen zusammen. Jetzt würde sie einbrechen und erfrieren. Nur, weil sie nicht auf Mama gehört hatte.

»Mädchen?«, fragte jemand.

Ein Buchfink flatterte von einem der Fichtenzweige. Marga schaute sich vorsichtig um.

»Steh nicht so rum.« Der Mann hatte sich aufgesetzt. Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Hilf mir lieber.«

»Die Eisdecke«, flüsterte sie.

»Die Eisdecke hat sich nur vom Ufer gelöst.«

Marga nickte schwach. »Okay«, hauchte sie. »Und bist du wirklich der Weihnachtsmann?«

»Was bin ich?«

»Der Weihnachtsmann.« Sie zeigte auf seinen Anzug. »Wo ist dein Rentier? Und dein Schlitten? Und warum hast du keinen Bart?«

Der Mann hustete.

»Natürlich gibt es dich nicht, aber wie kommt ein normaler Mensch hierher, ohne Fußspuren zu hinterlassen? Du bist …«

»Bin ich nicht.«

»Und aus welcher Richtung bist du dann gekommen?« Sie breitete ihre Arme aus. »Und warum sieht man nichts davon?«

Der Mann ließ sich schnaufend auf den Rücken fallen, mit ausgebreiteten Armen lag er im Schnee, während um ihn herum weiße Flocken durch die Luft wirbelten und seine rote Jacke verzierten.

Marga zuckte mit den Schultern. Keine Diskussion mit dem Weihnachtsmann. »Und wirst du einfach da liegen bleiben?« Sie trat dicht an ihn heran und beugte sich über ihn. »Bist du verletzt?«

Umständlich drehte sich der Mann auf die Seite.

»Ich kann meinen Papa holen. Er hat einen Unimog. Wir können dich …«

»Nein«, stöhnte er. »Mich darf niemand sehen.« Er zeigte zum Himmel. »Weihnachtsmänner sind geheim.«

»Gibt es denn mehrere?«, staunte Marga. Sie winkte ab. »Mein Papa wird nichts sagen.« Sie zögerte. »Außerdem würde er gar nicht glauben, dass du der Weihnachtsmann bist. In meiner Familie glaubt auch niemand an Gott.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Dein Papa darf nicht herkommen. Niemand darf das.«

Marga zuckte ratlos mit den Schultern. »Und was jetzt?«

»Ich muss mich eine Weile verstecken.«

»Verstecken?«

»Ich bin …« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Vom Himmel gefallen. Abgestürzt. Mich darf niemand sehen.«

Marga schaute verständnisvoll. »Und wie lange?«

»Ein paar Tage. Dann bin ich wieder …« Der Mann zupfte an seiner nassen Jacke. »Dann bin ich wieder unsichtbar.«

»Klar.« Marga nickte. »Ich helfe dir.« Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Wo willst du dich denn verstecken?«

Der Mann stützte sich ab. »Bei drei.« Er reichte ihr seine Hand. »Eins, zwei, …«

»Ich habe mich vertan«, unterbrach Marga und zog ihre Hand hektisch wieder zurück. »Du musst alleine aufstehen«, entschied sie. »Ich muss das auch immer. Mama sagt, es ist gut fürs Leben.«

»Oh Gott.«

»Gott gibt es nicht.«

Der Mann atmete geräuschvoll aus. »Ich muss mich trotzdem verstecken. Das hast du doch verstanden?«

»Ich glaube eigentlich nicht, dass du der Weihnachtsmann bist.«

»Bin ich aber.« Er zeigte in den Fichtenwald. »Ich bin abgestürzt. Mit meinem Schlitten. Irgendwo da hinten.«

»Ist dein Rentier gestorben?«, fragte sie. »Bist du deswegen so schlecht drauf?«

Er hob angestrengt den Kopf und schaute sie feindselig an.

»Ich habe ein Meerschweinchen«, sagte Marga. »Im Sommer nehme ich es in einem Körbchen mit in den Wald. Manchmal fahren wir mit dem Fahrrad, da klemme ich es hinten auf den Gepäckträger. Einmal bin ich aus Versehen über eine Wurzel gefahren, da ist Anton aus dem Fahrradkorb vom Gepäckträger gefallen, obwohl er in ein Handtuch gewickelt war.«

»Was für eine Scheiße.« Der Weihnachtsmann schüttelte den Kopf, rieb sich mit beiden Händen seine Augen.

»Weinst du jetzt?«, fragte Marga vorsichtig. »Wegen deines Rentiers?« Vielleicht musste sie ihm doch aufhelfen. »Gut.« Marga holte tief Luft. »Ich helfe dir, aber erst muss ich dich trösten.« Sie stapfte vorsichtig um den Mann herum, und weil sie ihn nicht in den Arm nehmen konnte, kletterte sie auf ihn und presste sich an seinen Rücken.

Eine ganze Weile verging. Marga fragte sich, ob der Mann vielleicht eingeschlafen war.

»Du kannst jetzt wieder herunterrutschen«, forderte er sie auf.

»Hast du geschlafen?«

»Nein. Ich habe ausgehalten, dass du auf mir liegst.«

»Ich habe dich getröstet.«

»Ja, und jetzt musst du mir aufhelfen.« Er zeigte zum Hof. »Da wohnst du also, ja?«

Marga nickte. »Warum kannst du nicht alleine aufstehen? Jeder kann das. Es ist ganz einfach. Wenn man liegen bleibt, dann geht es nicht mehr weiter. Dann ist das Leben zu Ende.« Marga presste ihre Lippen aufeinander. Vielleicht hatte sie etwas übertrieben. »Man kann einen Moment weinen, aber dann muss man wieder aufstehen«, tadelte sie ihn und segelte von seinem massigen Körper hinunter in den Schnee.

Der Weihnachtsmann holte Schwung. Angespannt saß er da, den Rücken zu ihr gewandt. Er keuchte.

»Du hast es fast geschafft«, feuerte sie ihn an und tapste dabei hin und her. Als sie in sein schmerzverzerrtes Gesicht blickte, wurde sie ernst. »Du hast dir wehgetan, oder?«, fragte sie besorgt.

»Hör auf, Fragen zu stellen oder irgendwas zu quatschen. Wenn du mir nicht hilfst, dann gibt es dieses Jahr gar keine Geschenke, verstehst du? Nix, niente, absolutamente nada, aus, Ende, Peng. Kein Weihnachten.«

Marga kaute an ihrer Unterlippe und beobachtete sorgenvoll sein rot angelaufenes Gesicht. Bluthochdruck. Daran wäre Opa beinahe gestorben. »Ich bin auch oft wütend, wenn ich mir wehgetan habe. Mama tröstet mich dann trotzdem.« Sie schlang ihre Arme um seinen dicken Oberkörper. »Du bist komisch«, stellte sie fest. Die schwere Gürtelschnalle seiner Jacke drückte sich unangenehm an ihre Wange.

Der Weihnachtsmann schubste Marga weg. »Dann eben nicht.« Er legte sich wieder auf den Bauch, sein Gesicht ließ er in den Schnee fallen. »Dann eben kein Weihnachten.«

»Ist das nicht eiskalt?«, fragte sie besorgt. Eine Weile wartete sie ratlos. »Gut, ich helfe dir«, entschied sie. »Ich habe ein Versteck, wenn du willst.«

»Ich kann nicht laufen.« Der Mann zeigte auf sein Bein. »Verletzt.«

»Aber …«

»Mit deinem Schlitten.« Er zeigte zur Scheune. »Du holst deinen Schlitten.«

»Ich …« Sie schaute sich unglücklich um.

»Du hast doch einen Schlitten?«, fragte der Weihnachtsmann.

Marga nickte wieder.

»Dann hol ihn.«

»Mama erlaubt mir nicht, dass ich …«

»Mama darf’s nicht wissen! Mama nicht, Papa nicht und auch sonst niemand«, zischte er. »Hol deinen Schlitten. Du musst nur deinen Schlitten holen.«

»Und dann?«, fragte Marga skeptisch. Mama würde sie einsperren. Für immer.

»Und dann rettest du das Weihnachtsfest. Du ganz allein.«

Marga überlegte. »Ich darf nicht auf den See. Eigentlich. Erst übermorgen.«

»Mama wird enttäuscht sein, wenn Weihnachten dieses Jahr ausfällt. Erst recht, wenn du daran schuld bist.«

Marga schluckte.

»Das willst du doch nicht?«

»Nein«, flüsterte sie.

»Dann hol deinen Schlitten!« Er fuchtelte mit seiner Hand durch die Luft. »Und beeil dich!«

Unbehaglich stapfte sie los.

8

»Tut gut«, schwärmte Igor und nippte an der heißen Teetasse. »Was sind Sie? Architektin?«

»Nein.«

»Nein.« Igor hob seine Augenbrauen. »Was dann?«

»Was dann?«

»Na ja, was sind Sie?« Er zeigte in den Raum. »Hier?«

»Statikerin.«

Er nickte knapp, deutete auf seine Hände. »Wonach sehen die aus?«

Inna wartete geduldig.

»Ich habe eine eigene Schreinerei.« Er zog seine Hände enttäuscht zurück. »Sie wollen sich gar nicht unterhalten, oder?«

Konversation. Sie lächelte schief.

»Ich möchte mich vergrößern.« Igor schaute sich um. »Ich habe auch so eine Fabrikhalle. Nicht so schön nostalgisch, aber ähnlich.« Er nahm sich eine Scheibe Christstollen, pulte umständlich das Marzipan heraus und schmierte es an den Rand seines Tellers. »Ich hatte gehofft, Sie hier anzutreffen. Eigentlich hatte Grunewald versprochen, dass Sie heute Vormittag zu mir kommen, aber das sind Sie nicht.«

»Grunewald?«

»Grunewald.« Er räusperte sich. »Sie sind Inna Lies.«

»Ja.«

»Ja«, wiederholte Igor und lachte laut. »Ja. Ich mache ein paar Tage Betriebsferien. In dieser Zeit hätte Grunewald die Pläne machen sollen. Aber er hat es vergessen.«

»Ich verstehe Sie nicht.« Inna schob ihren Teller zur Seite.

»Grunewald hat mich heute Morgen angerufen. Er hat gesagt, Sie würden sich meine Fabrikhalle anschauen. Aber Sie sind nicht gekommen.«

»Die Koordinaten«, fiel es Inna ein. »Sie sind der Freund. Ihnen gehört das Gehöft.« Sie schloss erleichtert ihre Augen. »Ich …« Sie zeigte hilflos aus dem Fenster. »Ich habe mich umentschieden. Der Schneesturm. Ich habe nicht damit gerechnet, dass …«

»Sehr ärgerlich«, bedauerte Igor. »Aber jetzt bin ich ja hier.«

»Ihre Fabrikhalle aber nicht.«

»Sie sind witzig.«

»Das war kein Witz.«

»Nein.« Igor kaute. »Das war kein Witz.« Er musterte sie nachdenklich. »Nun ist es so.«

Inna schaute auf ihre Armbanduhr. »Grunewald wird gleich …«

»Grunewald wird nicht kommen«, unterbrach Igor sie mit vollem Mund. »Das haben Sie nur behauptet.« Er lachte. »Die Telefone funktionieren ja gar nicht.«

»Haben Sie …«

»Nein.«

»Nein?«

Igor schlürfte geräuschvoll seinen Tee. »Sie wollten fragen, ob ich etwas damit zu tun habe.«

Inna nickte vorsichtig.

»Natürlich nicht.«

»Natürlich nicht«, wiederholte sie heiser. »Woher wissen Sie dann, dass …«

»Weil ich versucht habe, eines Ihrer Telefone zu benutzen. Da saßen Sie noch im Auto.«

»Wen haben Sie versucht anzurufen?«

Er stopfte sich den Rest Christstollen in den Mund. »Kennen Sie Grunewald gut?«

Inna schüttelte den Kopf.

»Aber Sie sind in ihn verliebt.«

»Nein.«

»Sie wollten, dass er Sie rettet.«

»Nein.«

Igor grinste. »Sie haben so getan, als würde das Telefon funktionieren. Sie hätten jeden nehmen können, aber Sie haben sich für Grunewald entschieden.«

»Er war der Erste, der mir eingefallen ist.«

»Er ist der Einzige, den Sie kennen.«

»Warum haben Sie mich auflaufen lassen?«

»Mit dem Telefon?«

Inna knackte mit ihren Fingergelenken.

»Sie hätten mir unterstellt, dass ich etwas damit zu tun habe.«

»Das tue ich auch so.«

»Sehen Sie? Es macht also gar keinen Unterschied.« Er lächelte. »Können wir das nicht einfach lassen?«

»Das Gespräch?«

»Nein, dass Sie mir nicht trauen, dass Sie Angst vor mir haben.« Er fuchtelte genervt mit seiner Hand durch die Luft. Puderzucker flog in alle Richtungen. »Ich kann nichts für den Schneesturm. Ich habe ihn wohl kaum bestellt.«

»Nein?« Inna strich mit beiden Händen herausgelöste Haarsträhnen hinter die Ohren. Der Sturm hatte ihren Dutt durcheinandergebracht. »Heute Morgen gab es schon Vorboten eines Tiefausläufers vom Nordpolarmeer, die sich laut Wetterbericht im Laufe des Tages zu einem Schneesturm kumulieren sollten.«

»Und?«

»Sie wären nicht hier, wenn Sie den Wetterbericht gehört hätten.«

»Sie auch nicht.«

»Ich war in meine Arbeit vertieft.«

Igor erhob sich. »Dass Sie Angst haben, tut mir leid.«

»Angst wovor?« Vor dem Sturm, dachte Inna.

»Angst vor mir. Ich finde, das passt nicht zu Ihnen. Wo Sie sonst so pragmatisch sind.«

»Pragmatisch.« Inna lehnte sich zurück und verschränkte ihre Arme. Sie hörte den Sturm an den Fenstern zerren. Sie hörte Igor, der seine Finger nacheinander auf die Lehne fallen ließ.

»Sie sind knapp 50?«, fragte er.

»Nein.«

»Sehen Sie?«

Sehen Sie? Eine Frage. Inna verzog ihren Mundwinkel. »Was sehe ich?«

»Ihrem Pragmatismus geschuldet kümmern Sie sich nicht darum, wie alt ich Sie schätze.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Sie haben sich nicht gewehrt.«

»Und wogegen hätte ich mich wehren sollen?«

»Dagegen, dass ich Sie älter geschätzt habe, als Sie sind.« Igor lächelte. »Andere Frauen wären beleidigt.«

»Vielleicht bin ich 50.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind 39.«

Inna schaute sich um. »Das haben Sie gelesen. Wo?«

»Das finden Sie selbst heraus. Gibt es hier eine Toilette?«

Inna tat so, als müsste sie ein Gähnen unterdrücken. »Das finden Sie selbst heraus.« Sie schloss ihre Augen, hörte Igor ziellos durch die Halle laufen, bis er fand, wonach er suchte. Er verriegelte die Toilettentür.

Innas Herz klopfte hart in ihrer engen Brust. Sie schaute hinaus. Der Sturm. Unerbittlich und wütend. Die schwarzen Tannen vor den Fenstern verneigten sich tief, wurden nach oben gerissen und zur anderen Seite geschleudert. Inna schüttelte den Kopf. Sie musste bleiben. Hier mit Igor. Sich ablenken. Die Wände. Die Fenster. Das Mauerwerk. Der Sturm. Sie holte tief Luft. Der Sturm brachte alles durcheinander.

Immerhin. Henri war tot.

»Haben Sie geschlafen?«

Sie zuckte zusammen, räusperte sich. »Nein.«

»Seit wann sind Sie hier?«

»Seit heute Morgen«, sagte sie heiser und setzte sich auf.

»Nein.« Igor schüttelte den Kopf. »Hier.« Er zeigte in die Halle hinein. »Hier in diesen Gemäuern. Seit wann gibt es Ihre Firma schon?«

»Grunewald. Es ist Grunewalds Firma. Seit 14 Jahren.«

»Seit 14 Jahren«, wiederholte er. »42.« Er setzte sich. »Ich bin 42 Jahre alt. Haben Sie herausgefunden, woher ich weiß, wie alt Sie sind?«

Inna schob ihre Unterlippe vor. »Hätte ich das tun sollen?«

»Es hatte Sie beunruhigt.«

»Sie haben sich vorbereitet.« Inna lächelte. »Sie wissen viel besser über mich Bescheid, als ich glauben soll.«

Igor runzelte die Stirn. Er zeigte zu der Wand, an der eingerahmte Auszeichnungen und Zertifikate hingen. »Da steht Ihr Geburtsdatum drauf.« Er lachte laut. »Machen Sie sich nicht lächerlich. Ich bin Schreiner. Und ein Kunde von Grunewald. Sonst nichts.«

»Sonst nichts.«

»Sie sind nicht sehr gesprächig.« Igor rieb seine Stirn. »Schwierig mit Ihnen.«

Sie deutete aus dem Fenster. »Der Sturm. Er bringt mich durcheinander.«

Igor lächelte schwach.

»Haben Sie Geschwister?«, fragte sie.

»Zwei Brüder. Beide sind jünger. David war Zimmermann, mein Bruder Victor ist Landwirt. Er baut Kohl an.«

»Igor kommt von Ingvar. Ingvar bedeutet Gotteskrieger«, bemerkte Inna.

»David ist letztes Jahr gestorben.« Igor zögerte. »Haben Sie schon mal einen Menschen verloren?«

Inna nickte langsam.

»Wen?«

»Henri.«

»Wer ist Henri?«

»Mein Vater. Er ist vorgestern gestorben. Vorgestern Nacht. Er wurde erstochen.«

»Was?«, fragte Igor entsetzt.

»Deswegen sind Sie doch hier?«

»Das glauben Sie wirklich, oder? Dass ich nicht zufällig hier bin?«

»Mein Bruder Jenke hat Sie geschickt.«

Igor schaute sich demonstrativ um. »Und was genau soll ich hier machen?« Er hob seine Finger zu einem Schwur. »Niemand hat mich geschickt. Auch nicht Jenke.« Er setzte sich und rutschte zur Sitzkante vor. »Wer hat Ihren Vater erstochen?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

Igor rückte seine Tasse zurecht und goss sich neuen Tee ein. »So?«

»Welchen Auftrag haben Sie? Sollen Sie mich holen?«

»Nein.« Er nahm einen Schluck Tee, lehnte sich zurück. »Sie haben etwas gesehen. Etwas, was Jenke vertuschen will. Ist er derjenige, der Ihren Vater erstochen hat?« Igor lachte komisch. »Das ist absurd.«

»Sie haben ja keine Ahnung.«

»Nein, habe ich nicht, aber ich glaube, dass Sie weggelaufen sind. Hierher, um sich vor ihm zu verstecken. Und jetzt glauben Sie, dass ich …«

»Schon als Kind.« Sie blinzelte. »Schon als Kind bin ich weggelaufen. Vor der Angst. Aber sie findet mich immer wieder. Sie ist wie eine Gestalt, die mich verfolgt.«

»Und vor was oder wem haben Sie Angst?« Igors Haut glitzerte. Er wischte mit dem Handrücken seine Stirn trocken.

»Vor den Schatten. Die Burg hatte viele davon. Überall lauerten sie und haben auf mich gewartet.«

Igor nickte. »Sie sind nicht mehr ganz dicht, oder?«

»Ich war noch ein Kind. Kinder fühlen so etwas. Das ist ganz normal. Hatten Sie denn keine Angst? Vor dem Monster unter Ihrem Bett? Meine Monster haben sich in den Skulpturen versteckt und sie lebendig gemacht. Die gesamte Burg war voll damit. Alles war so dunkel und bedrohlich, so kalt und so schwer. Schwere dunkle Möbel, knarzendes Parkett. Bücher. Regale vollgestopft mit Büchern und dunkler, ewiger Stille. Kinder haben Angst vor Stille und vor Geistern und vor Dunkelheit.«

»Sind Sie in einer Burg aufgewachsen?«, fragte er amüsiert.

Inna nickte. »Ja.«

»Ja.« Igor grunzte. »Gut. Also, in einer Burg. Hier?«

»Nein, hier ist eine Fabrikhalle, keine Burg.«

Igor rollte mit den Augen. »Hier in der Nähe.«

»Ja.«

»Die Burg Eisenfels. Am Fuße des Felsenmeers«, sagte er triumphierend. »Dort sind Sie aufgewachsen?«

»Ja.«

»Und vor den Gestalten oder den Schatten in dieser Burg sind Sie weggelaufen?« Er ließ seine Finger hin und her flattern. »Oder vor was auch immer?«

»Die Schatten kamen aus den Skulpturen. Sie haben immerzu an mir gezerrt. Wenn ich von meinem Zimmer aus in den Speisesaal wollte, habe ich mich von Vorhang zu Vorhang gerettet. Ich bin ein Stück gerannt, habe mich versteckt, den richtigen Moment abgepasst.«

»Sie hatten einen Speisesaal?« Igor lachte.

»Haben Sie sich das so vorgestellt?«

»Mit Bediensteten?«

»Das Gespräch.«

»Was?«

»Haben Sie sich unser Gespräch so vorgestellt? Läuft es in die richtige Richtung?«

Igor stöhnte. »Hören Sie auf damit. Das ist albern. Ich kenne Ihren Jenke nicht einmal, und mitnehmen oder irgendwo hinbringen will ich Sie auch nicht. Ich will mir nur ein wenig die Zeit vertreiben. Aber wenn Sie sich lieber nicht unterhalten wollen, lassen wir das einfach.«

»Vielleicht will ich aber. Nur bin ich nicht sehr gut darin. Ich kann nicht sprechen. Nicht gut. Nicht so wie andere.« Sie schaute auf die Uhr. »Haben Sie Hunger?«, fragte sie.

»Hunger!« Igor sprang auf, klatschte in seine Hände. »Warum nicht? Wir haben ja Zeit.« Er lachte schrill.

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Возрастное ограничение:
18+
Дата выхода на Литрес:
26 мая 2021
Объем:
274 стр. 8 иллюстраций
ISBN:
9783839265642
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Правообладатель:
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