Читать книгу: «Endstation Nordstadt», страница 4

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»Ja, er war allein. Er hoffte, es könne irgendwo ein Abschiedsbrief rumliegen. Fehlanzeige. Leider hat er bei der Gelegenheit das unsägliche Testament gefunden, das mich in diese Lage gebracht hat.«

Sachs hatte also bereits alles durchforstet. Meine Hoffnung schwand, hier auf relevante Informationen zu stoßen. »Wurde etwas mitgenommen?«

Gehrmann schüttelte den Kopf und die Hoffnung kehrte zurück. Offenbar gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt, dass es sich beim Tod des Galeristen nicht um Suizid handelte. Vermutlich würde es nach den neuesten Entwicklungen nicht allzu lange dauern, bis Sachs wieder bei Gehrmann vor der Tür stünde. Sharp hatte mich gerade zum richtigen Zeitpunkt auf die Sache angesetzt, um der Kripo einen entscheidenden Schritt voraus zu sein.

Das Chaos, das Sachs hinterlassen hatte, machte mich dennoch ratlos. »Haben Sie eine Ahnung, wo Herr Rat­stetter Unterlagen mit den Geldgeschäften aufbewahrte?«

»Alle Ordner, die er vor seinem Tod angelegt hat, sind ordentlich beschriftet. Versuchen Sie Ihr Glück.«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, mir diese Frage erlauben zu dürfen. »Passten die Umstände seines Suizids zu ihm?«

Gehrmann sah aus, als wäre er umgefallen, wenn er nicht vom Türrahmen, an dem er lehnte, daran gehindert worden wäre. »Er … er hat sich öfter ein Hotelzimmer genommen. Die Kripo hat eine Flasche Schampus gefunden, offenbar hatte er Sex mit jemandem, der nicht mehr aufzufinden war. Anschließend hat er sich mit einer Überdosis Koks getötet.«

»Und wenn die Überdosis ein Unfall war? Ich meine, hat er jemals derartige Absichten geäußert?«

»Sandro war ein Künstler. Das heißt, nein, er hätte gern einer sein wollen. Hat das Studium der bildenden Kunst abgebrochen und ist in die Kunsthistorie gewechselt. Man hatte ihm ohne Gnade zu verstehen gegeben, dass er kein Talent besitzt. Das hat er nie verwunden. Der Umgang mit den Künstlern in der Galerie war eher ein schwacher Trost. Er war immer so tapfer. Hat sich nie etwas anmerken lassen. Es ist schon möglich, dass es ihn hinterrücks wieder eingeholt hat. Kann passieren, wenn man einen ganz großen Traum an den Nagel hängen muss, nicht wahr?«

Er warf mir einen Blick zu, als ob dieser rhetorische Nachsatz mir galt. Als ob ich wissen müsste, wovon er sprach. Ich wusste es. Allmählich wurde es mir ungeheuer, dass ich mich jedes Mal, wenn ich einen von Sharps Liste aufsuchte, durchschaut fühlte.

»Ich lasse Sie besser allein. Ich ertrage es nicht, dass jemand in Sandros Papieren wühlt, aber tun Sie sich keinen Zwang an. Sie werden kaum unordentlich machen können, was schon im Chaos versunken ist. Vielleicht werden Sie fündig.« Er seufzte tief, fischte die Perserkatze, die sich durch seine Beine in den Raum gestohlen hatte, vom Boden und drückte sie sich an die Brust. »Ich bin in der Küche. Wenn Sie fertig sind, finden Sie mich dort.«

Ich wartete, bis er aus der Tür verschwunden war, dann verschaffte ich mir einen Überblick. Auf dem Schreibtisch lagen ausschließlich Papiere neueren Datums. Ich stellte mir vor, wie die Platte am Todestag von Sandro Ratstetter blank und ordentlich gewesen war, das Drumherum passte einfach nicht zu der Unordnung. Im Köcher waren die Stifte nach Farben sortiert, daneben standen ein Locher und ein Tacker wie mit dem Lineal ausgerichtet. Die Kurzwahltasten des Telefons waren sorgfältig beschriftet: Galerie, Mama, Dr. Frenzel und Gil’s. An der Wand hingen in gleichmäßigen Abständen Fotografien von wilden Feierlichkeiten. Sandro Ratstetter war vielleicht ordentlich, wenn nicht sogar pedantisch, ein Kind von Traurigkeit war er offensichtlich nicht gewesen.

Den Schreibtisch konnte ich vergessen. Wenn hier etwas zu finden gewesen wäre, hätte Sachs es mitgenommen. Also widmete ich mich den Regalen und überflog die Rückenschilder der Aktenordner. Versicherungen, Krankenkasse, Urlaub. An der Beschriftung »Alte Steuerbelege« blieb ich hängen. Wenn ich es darauf anlegte, dass ein Partner, der für Buchhaltung nichts übrighatte, eine Sache nicht zu Gesicht bekäme, würde ich sie in genau diesem Ordner verstecken. Ich zog ihn heraus. Nach einigem Blättern wurde ich fündig. Zwischen dem, was darin zu erwarten gewesen war, war ein weißes Blatt eingeheftet, auf dem handschriftlich »150.000 Mark« vermerkt war, daneben eine Telefonnummer und der Name »Ralf«. Ich nahm das Blatt aus dem Ordner. Woher ich die Gewissheit hatte, selbst dann nicht mehr zu finden, wenn ich das ganze Zimmer auf den Kopf stellte, konnte ich nicht sagen, aber ich war sicher, dass ich wegen genau dieser Notiz hergekommen war.

Ich begab mich auf die Suche nach der Küche.

Dieter Gehrmann guckte erstaunt. »Das ging schnell.«

»Ihr Partner hatte einen ausgeprägten Sinn für Ordnung.«

»Ja, das hatte er. Manchmal glaubte ich, eine Beziehung mit zwei unterschiedlichen Menschen zu führen.« Er ging an mir vorbei auf den Flur. »Ich will Ihnen etwas zeigen.«

Mit gekrümmtem Zeigefinger machte er deutlich, dass ich ihm folgen solle.

11

Ein paar Schritte an der frischen Luft waren genau das, was ich jetzt brauchte, außerdem hatte ich noch eine halbe Stunde Zeit, bis Matts Lokal öffnete. Zwar knurrte mein Magen, aber ich würde es so lange noch aushalten.

Nachdem ich den Ford vor meiner Wohnung geparkt hatte, ging ich die wenigen Straßenzüge bis zur Pizzeria zu Fuß. Der Wind pfiff um die Häuserecken und blies den Muff aus den Straßen. Ich hatte den Kragen hochgeschlagen und die Hände in den Manteltaschen vergraben. In der einen fühlte ich den doppelt geknickten Zettel mit einer mir unbekannten Telefonnummer, in der anderen Sharps 100-Mark-Schein. Unwillkürlich begannen meine Finger, den Schein zu liebkosen. Ich beschleunigte meine Schritte und hielt den Blick auf den Asphalt gerichtet. Bloß nicht schwach werden. Durchhalten, bis Matt aufsperrte.

Sein Lokal war eines der wenigen, in denen keine Spielautomaten hingen. Nicht mehr. Matt hatte die Automaten abmontieren lassen, als die Wände einen neuen Anstrich gebrauch hatten. Danach waren die blinkenden, pfeifenden Kisten nicht wieder aufgetaucht. Dabei entging Matt ein gutes Geschäft. In den anderen Spelunken saßen die Spieler oft bis zur Sperrstunde und tranken ein Bier nach dem anderen. Matt hatte behauptet, dass er das Gedudel nicht mochte, insgeheim wusste ich, dass er es wegen mir getan hatte.

Mir spukte die Szene durch den Kopf, die sich in der Wohnung von Dieter Gehrmann ereignet hatte. Er hatte mich in ein Zimmer geführt, in dem es nach Ölfarbe und Terpentin roch. An den Wänden stapelten sich Leinwände in allen Größen, auf einer Staffelei stand ein halbfertiges Gemälde. Ich war sicherlich kein Kunstkenner, doch was ich sah, gefiel mir. Da hatte jemand – vermutlich Sandro Ratstetter – Gefühl für Farbe bewiesen. Diese war zu abstrakten Verschnürungen auf die Leinwand gebannt worden, unterbrochen von schwarzen Strichen, die sich wie Schnitte durch die farbenfrohen Hintergründe zogen.

»Diese Bilder«, sagte Gehrmann, »hätten es niemals in seine eigene Galerie geschafft. Er arbeitete an manchen Tagen wie ein Besessener, aber selbst seinem eigenen kritischen Auge wurde er nicht gerecht. Ich glaube, es gibt genug unsensible Idioten, die überhaupt keine Ahnung haben, was sie mit der Seele eines Menschen anstellen, wenn sie solch ein Urteil fällen wie sein Kunstprofessor seinerzeit.«

»Wie lange ist das her?«, wollte ich wissen.

»Ein halbes Leben. Sandro war 42, als er starb. Er hat es immerhin 20 Jahre lang ausgehalten, mit seiner eigenen Unzulänglichkeit täglich einen Kampf zu führen.«

Gehrmann wirkte in diesem Augenblick älter, als er vermutlich war. Ich schätzte ihn auf Ende 50, Ratstetter war also um einiges jünger gewesen. Die ewige Suche nach dem guten Vater, dachte ich. Selbst das hatte die Wunden nicht heilen lassen. Ich schaute auf das halbfertige Gemälde und war es plötzlich leid, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sich jemand seinem Dämon geschlagen gab. Also hatte ich mich eilig verabschiedet und Gehrmann zuvor noch versprochen, ihn auf dem Laufenden zu halten.

Die Dämonen. Selbst ein Gang durch den beginnenden Nieselregen konnte sie nicht abschütteln. Nun musste ich nur noch zehn Minuten durch die Straßen wandern. 600 ewige Sekunden, wenn ein Hunderter in der Tasche und an jeder Ecke eine Spielhölle locken. Ich biss die Zähne zusammen. »Na los, Meinhard«, sagte ich zu mir selbst, »hast deine Neugier schon im Zaum gehalten und nicht sofort die Nummer angerufen, die auf dem Zettel steht. Da schaffst du auch die zehn läppischen Minuten.«

Ich schaffte es nicht.

12 Azrael

Ich hatte Latexhandschuhe übergezogen und eine Auswahl Glückwunschkarten vor mir auf dem Küchentisch ausgebreitet. Während der entkorkte Bordeaux atmete, grübelte ich, welches Motiv wohl geeignet war, um die Partie mit dem Anwalt zu eröffnen, und ließ die Ereignisse der letzten Stunden an mir vorüberziehen.

Ich hatte mich über ihn erkundigt. Vor über einem Jahr war er von einer netten Neubausiedlung in die Nordstadt gezogen. Das sprach Bände. Ich hatte mir angesehen, was er zurückgelassen hatte: Auf dem Klingelschild seines ehemaligen Hauses stand noch der Name »Petri«. Eine hochgewachsene blonde Frau hatte einen Volvo aus der Einfahrt gefahren, in den sie vorher zwei kleine Kinder gesetzt hatte, die dem Anwalt ähnlich sahen. Ich war gespannt, ob die drei in meinem Plan noch eine Rolle spielen würden.

Seine Kanzlei hatte der Anwalt ebenfalls verlegen müssen. Von einer angesehenen Adresse in der Wilhelmsstraße zog man nicht unterhalb des Königsplatzes, wenn man gehobene Mandantschaft beriet. Es musste einiges in seinem Leben schiefgelaufen sein, und jetzt wollte ich unbedingt wissen, was.

Ich hatte einen Parkplatz mit Blick auf seine Wohnungstür ergattert und wartete im Wagen auf seine Heimkehr. Wenn ich richtig lag, hatte er Scharpinskys Auftrag angenommen und die Hinterbliebenen der lieben Verstorbenen aufgesucht. Ob es ihn wohl überrascht hatte, im Fall von Ratstetter keine Witwe anzutreffen, sondern Gehrmann? Die beiden Männer erfüllten jedes Klischee eines homosexuellen Paares, und doch war es nicht allein Rat­stetters promiskuitives Sexualleben, das ihm einen Platz auf meiner Liste gesichert hatte. Es war die schäbige Art, wie er seine Mutter abserviert hatte. Die Frau hatte große Stücke auf ihn gehalten, weiß der Teufel warum. Sie hatte ihm die Galerie finanziert und ihn bei Flauten immer wieder den Arsch gerettet. Und statt die betagte Dame zum Dank in einem angemessenen Alterswohnsitz unterzubringen, hatte Ratstetter sie in eines der miserabelsten Pflegeheime abgeschoben und sie seither kein einziges Mal besucht. Als sie ihm nicht mal einen Pfennig des Geldes, das er von Sharp erhalten hatte, wert gewesen war, war sein Todesurteil besiegelt gewesen.

Endlich hatte der Anwalt seine Rostlaube in eine Parkbucht in meiner Sichtweite gelenkt. Statt in seine Wohnung zu gehen, war er durch die Straßen gestreift und ich war ihm gefolgt. Er hatte fahrig gewirkt, häufig das Tempo gewechselt, sich immer wieder in die Manteltasche gegriffen, als wollte er sich vergewissern, dass ihr Inhalt noch da war. Als er kurz gestoppt hatte und dann in einer Spielhölle verschwunden war, hatte ich genug gesehen.

Ich goss mir von dem Bordeaux ein und ließ den Finger über die Karten wandern. Der kluge Spruch der Peanuts schien mir genau der richtige zu sein, um erste Verwirrung zu stiften und den Anwalt aus der Reserve zu locken. Nach dem, was ich über ihn zu wissen glaubte, schien mir das keine allzu große Herausforderung zu werden. Aber etwas sagte mir, dass ich mich in Bezug auf ihn auch irren konnte.

13

Als ich nach gut einer Stunde endlich das Vesuvio betrat, war der Hunger verschwunden und der Hunderter passé. Ich konnte von Glück sagen, dass die übrigen Scheine in der Schublade in der Kanzlei lagen.

Matt war nirgendwo zu entdecken. Aus der Küche drang lauter Streit. Nicht ungewöhnlich unter Sizilianern, doch dieser klang eher deutsch als italienisch – meiner Meinung nach ein gravierender Unterschied. Als ich Matt einmal darauf angesprochen hatte, dass er mittlerweile immer häufiger sehr deutsche Züge an den Tag legte, war er wütend geworden. Sehr deutsch wütend.

Ich wartete an der Theke. Nach fünf Minuten tauchte Matt mit hochrotem Gesicht auf. Er knurrte irgendwas von »Dumme Weibsbild« und warf sich das Handtuch über die Schulter, das er eben noch mit den Händen geknetet hatte, als sei diese Geste eine Demonstration dessen, was er am liebsten mit dem Hals seiner Gattin angestellt hätte.

»Was ist denn los?«, wollte ich wissen.

»Rosa sagt, die alte Herr musse ins Krankenhaus. Hat gehustet die ganze Nacht. Ich finde, wir mussen ihm so was nich mehr antun. Soll er doch husten. Rosa sagt, ich sei ein undankbarer Bastard. Dio mio, Papa steht mit die eine Bein im Grab, ach, was sage ich, mit die beide Beine. Was soll ich diese Greis jetzt noch in eine Krankenhaus schleifen?« Er hatte die Stimme erhoben und einige Gäste guckten schon.

Durch die Durchreiche tönte Rosettas Stimme: »Undankbarer Bastard, basta!«

Die Stimmung hier gefiel mir nicht. Nicht nach diesem Tag. Ich bat Matt, mir die übliche »Vierjahreszeiten ohne Peperoni« zum Mitnehmen zu machen.

Er brüllte die Bestellung in die Küche und setzte nach: »Ein bisschen pronto, wenn’s geht. Deine Anwalt hat Hunger.«

Der arme Matt würde die kommende Nacht bestimmt auf dem Sofa verbringen müssen, das konnte selbst ich nicht mehr verhindern. Um den beiden noch länger beim Streiten zuzusehen, fehlte mir die Geduld, und zum Schlichten die Nerven.

Matt stellte mir ein Glas Rotwein hin. Als ich es hob, bemerkte ich, dass meine Hand zitterte. Das Zittern hatte vor ein paar Monaten angefangen. Es tauchte immer dann auf, wenn das Geld am Spieltisch zur Neige ging, und hielt in der Regel einige Stunden lang an, nachdem ich die Spielhölle verlassen hatte.

Natürlich fiel es Matt auf. »Wann du hast das letzte Mal was gegessen?«

»Ich kann gut auf mich aufpassen, danke, Matt.«

»Ach ja? Du siehs aus wie auf Turkey. Guck dich doch mal an. Wenn du gehst so für Sharp kundschaften, musse dich nich wundern, dass die Leute dir nichts erzählen.«

Matts sizilianisches Gemüt pegelte immer noch im roten Bereich. In dieser Situation mit ihm zu argumentieren, würde unweigerlich in Streit enden, und das war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Also schluckte ich eine Antwort herunter und spülte mit einem großen Schluck Rotwein nach.

»Willst du nich doch hier essen?« Offensichtlich tat es ihm leid, dass er mir die Wahrheit so ins Gesicht geknallt hatte.

Ich lehnte ab. »Muss noch ein bisschen arbeiten. Wegen Sharp ist alles andere liegengeblieben.«

Rosettas Gesicht tauchte über einem flachen Pappkarton in der Durchreiche auf. »Mit viele Liebe gemacht, meine Anwalt.« Sie warf Matt einen giftigen Blick zu und zog sich wieder zurück.

»Was bekommst du?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass ich keinen Pfennig in der Tasche hatte.

»Geh nach Hause, iss die Pizza und trink das.« Er stellte eine Flasche Rotwein auf den Tresen. »Und dann, denk mal druber nach, wer von uns beide wohl eine Grund hätte, die Kopf in die eigene Arsch zu stecken.«

Ich liebte es, wenn Matt auf seine Weise die Dinge auf den Punkt brachte.

Wenig später wanderte ich den Weg zurück durch die grauen Straßen. Mit leeren Taschen und einer Pizza, die kalt zu werden drohte, war die Gefahr gering, einen Umweg über einen Laden mit einer lachenden Sonne auf der blickdicht verklebten Schaufensterfront zu machen.

Tatsächlich schaffte ich es bis zu meiner Wohnung ohne weitere Zwischenfälle. Sogar die Prostituierten, die aus ihren Löchern krochen, sobald sie Schritte auf Asphalt hörten, drehten auf halber Strecke ab, als sie den Pizzakarton in meiner Hand entdeckten. Die waren wie Vampire in der Dämmerung. Bunt angemalt, in neonfarbene Pellen verpackt, die Augen leer und tot. Manches Mal hegte ich den Verdacht, sie würden zu Staub zerfallen, sollten sie von Sonnenstrahlen getroffen werden.

Ich zog den Weg vor, der so bald wie möglich von den belebten Straßen abbog.

Vor meiner Haustür hatte jemand eine Mülltonne angezündet. Es qualmte und stank bestialisch. Als ich die Haustür öffnete, sah ich, dass der Rauch in das Treppenhaus gezogen war. Er verfolgte mich bis in meine Wohnung im dritten Stock. Das Küchenfenster zur Straße aufzureißen würde den Gestank von verbranntem Plastik noch verstärken, das Wohnzimmerfenster in den Hof klemmte, also gewöhnte ich mich besser an den Geruch. Ich holte mir ein Glas und einen Korkenzieher aus der Küche und ging, die Pizza in der einen und die Weinflasche in der anderen Hand, in das Wohnzimmer. Im Zentrum des Raumes stand das, was zum Mittelpunkt meines Lebens geworden war – ein Fernseher.

Ich stellte das Essen auf einem Umzugskarton ab, der als Couchtisch diente, schaltete die Glotze ein und ließ mich in den Sessel fallen.

Die Vierjahreszeiten war wie immer vorzüglich, der Wein war sauer. Dennoch füllte das eine die Leere in meinem Magen, das andere das Vakuum in meinem Kopf, und das Geplapper aus der Kiste ließ mich vergessen, dass ich nicht nur allein, sondern einsam war. Es gab keinen Ort, an den ich gehen konnte, wenn im Fernsehen das Testbild lief und Matt geschlossen hatte. Keinen Ort, an dem ich nicht binnen kürzester Zeit die letzten Pfennige verzockt hätte.

Nachdem ich aufgegessen hatte und zwei Gläser Wein in meinem Bauch herumschwappten, kramte ich den Zettel mit der Telefonnummer hervor. 150.000 Mark. Vielleicht war es der Zweck dieser Investition gewesen, Rat­stetters Problem mit dem mangelnden Selbstbewusstsein zu lösen, doch so weit war es nicht gekommen. Stattdessen hatte sich sein Problem in einem tödlichen Rausch in Luft aufgelöst, genauso wie das von Levin im Badewasser. Ich schloss die Augen und stellte es mir vor. Das warme Wasser, die Müdigkeit, der Sog in ein Dunkel, das Wispern einer Stimme, die nur im eigenen Kopf existiert und dir verspricht, dass du dich nie wieder wie ein Stück Mist fühlen musst. Mir stießen die Pizza und der saure Wein auf. War es wirklich so einfach? Ein paar Pillen schlucken, sich in eine Badewanne legen und warten, dass alles ein Ende nahm? Warum quälte ich mich dann so? Die Tausender von Riva Levin aus der Schublade holen, nach Wilhelmshöhe fahren, ein Hotelzimmer im Schlosshotel nehmen, einen letzten schönen Abend im Kasino verbringen und zum Abschluss gabs ein heißes Bad. Das klang nach der Lösung all meiner Probleme und obendrein nach einem eleganten Abgang.

Mir fiel ein, was Gehrmann über Ratstetter gesagt hatte und Riva Levin über ihren Mann. Ein Dämon hatte ihnen im Genick gesessen und sich festgekrallt. Der Wein hinterließ ein bitteres Brennen in meiner Speiseröhre. Wenn die, die privilegiert waren, es schon nicht konnten, wie sollte ich es dann je schaffen? Vielleicht lag hier die Erklärung. Ich war dazu verdammt, zu überleben.

Noch mehr, als ich mich selbst ankotzte, kotzte mich das großspurige Geschwafel von Helmut Kohl in der Glotze an. »Halt doch einfach das Maul«, sagte ich zu ihm und drehte ihm den Ton ab.

Das Telefon war strategisch günstig direkt neben dem Sessel geparkt. Ich erinnerte mich nicht daran, dass es je geklingelt hatte, wenn ich zu Hause gewesen war. Und der Anrufbeantworter hatte bisher ausschließlich Nachrichten meines Vermieters aufgezeichnet, der die überfällige Miete anmahnte.

Manchmal, wenn ich vor dem Fernseher eingeschlafen war, wachte ich davon auf, dass es läutete. Schnell stellte ich jedes Mal fest, dass ich das Klingeln geträumt hatte. Trotzdem nahm ich den Hörer ab, in der Hoffnung, dass am anderen Ende ihre Stimme wäre. »Komm heim«, könnte sie sagen. Oder: »Die Kinder vermissen dich.« Aber in der Muschel tutete es immer nur, als wollte das Telefon mich verspotten.

Heute blinkte der Anrufbeantworter tatsächlich. Mit einem mulmigen Gefühl drückte ich auf »Play«. Lange Zeit war es still. Schließlich hörte ich eine dumpfe Stimme undeutlich murmeln: »Schade. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen heute noch den Grund meines Anrufs verschweige. Die Angelegenheit kann ich nur mit Ihnen persönlich besprechen. Ich rufe wieder an.« Kein Name, kein Gruß, aufgelegt. Bestimmt einer von diesen Staubsaugervertretern. Ich hoffte, dass er sein Versprechen nicht einlöste, diese Typen konnten echt lästig werden.

Ich nahm den Telefonhörer ans Ohr und wählte die Nummer, die ich auf Ratstetters Notiz gefunden hatte. Da ich mir nicht zurechtgelegt hatte, was ich sagen würde, ließ ich die Dinge auf mich zukommen.

Eine Ansage vom Band ertönte. »Sie sind verbunden mit Knab Finanzservice. Leider rufen Sie außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Morgen sind wir wieder ab 9 Uhr für Sie da. Dringende Nachrichten …« Da ich nichts auf das Band sprechen wollte, würgte ich die freundliche Frauenstimme am anderen Ende mitten im Satz ab.

Danach goss ich mir ein weiteres Glas ein, stellte den Ton am Fernseher wieder an, fand »Magnum« im ersten Programm und wartete darauf, dass der Schlaf mich holte.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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273 стр. 6 иллюстраций
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9783839268865
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