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Matt hatte das Gebiss unter dem Wasserstrahl am Zapfhahn gesäubert und gab es seinem Vater zurück. Der ließ es in den Mund gleiten und klapperte ein paarmal damit wie ein Storch.

»Nachtisch?«, fragte Matt.

»Heut nicht, danke.«

»Eine Grappa?«

»Da sag ich nicht nein.«

Matt goss drei Gläser voll, stellte zwei auf unseren Tisch und eines vor seinen alten Herrn. »Desinfiziert«, rief er lauter als notwendig, und der Alte verzog den Mund zu einer schaurigen Grimasse.

Matt sah mich ernst an. »Ich bin nich Sharp, aber ich hab auch einflussreiche Freunde. Bevor du stecks tief in die Scheiße, komms zu mir. Capisce?«

Ich war mir nicht sicher, wovor ich größeren Respekt hatte. Vor Sharp und Sergej oder der sizilianischen Mafia. Ich schüttete den Grappa herunter. Das Brennen lenkte mich einen Augenblick ab.

Schließlich sagte ich: »Verstanden.«

4 Azrael

Beim Frühstück schlug ich die Zeitung auf. »Insolvenzverwalter erhängt sich in abgewickeltem Betrieb. Hielt er die Gewissensbisse nicht länger aus?«

Beinahe hätte ich den Kaffee auf die Schlagzeilen geprustet. Jetzt hatte ausgerechnet ich diesem Abschaum posthum glatt ein Gewissen verschafft; nur die Ironie des Lebens konnte so eine schräge Geschichte schreiben.

Die Zeilen verrieten mir nichts Neues. Der Mann hinterließ eine Frau und zwei Töchter. Sie fielen weich in ein dickes Vermögen, angehäuft auf dem Buckel Hunderter armer Wichte, die in der Schlange auf dem Arbeitsamt den Tag rumbrachten. Vielleicht hatte ich der Welt ein wenig Gerechtigkeit zuteilwerden lassen – Anstand konnte ich ihr selbst auf diese Weise nicht beibringen, sonst hätte die Zeitung titeln müssen: »Ausbeuter entzieht sich feige der Verantwortung«. Ich seufzte. An Wunder glaubte ich schon lange nicht mehr. Ich stellte mir vor, welche honorigen Mitglieder der Kasseler Gesellschaft bei der feierlichen Beerdigung salbungsvolle Worte für Schuhmann finden würde. Mir stieß der Kaffee sauer auf. Insgeheim hoffte ich, dass die alle allmählich anfingen, sich Sorgen zu machen. Wenn es einen nach dem anderen dahinraffte, konnte es ja möglicherweise auch die Übrigen mit Dreck an den Schuhsohlen treffen. Ich wusste, dass das Getuschel in den Reihen bereits begonnen hatte. Dort kursierten die wildesten Spekulationen, während die Polizei im Dunkeln tappte. Gut so.

Im Anhang des Artikels fand ich den Hinweis, dass die Polizei von Suizid ausging, man aber entsprechende Ermittlungsergebnisse abwarten müsse. Ich musste lächeln. Die mysteriöse Selbstmordserie hatte Aufsehen erregt, dennoch erkannte bislang niemand die Verbindung. Die Abstände hielt ich bewusst variabel. Die ersten Todesfälle trennten viele Monate, obwohl es mir schwergefallen war, so viel Geduld aufzubringen. Auf den nächsten musste ich nicht so lange warten, dennoch war keine Eile geboten. Es gab nicht den geringsten Grund, um aus der Ruhe zu geraten.

Ich schmierte mir ein Brötchen mit Marmelade und ließ es mir schmecken, während ich den Artikel ein zweites Mal las. In Gedanken sah ich Schuhmanns Tod vor mir ablaufen wie einen Film. Ich beobachtete, wie der Kerl auf den Hocker stieg, sich die Schlinge um den Hals legte, den Schemel mit den Fußspitzen wegkippte und baumelte und zappelte. Und bei all dem spielte ich in meiner Fantasie keine Rolle, und das sollte genau so sein. Die Schlagzeilen und die Aufmerksamkeit sollten die erhalten, die so geil darauf waren, dass sie beinahe alles dafür taten. Nur in dieser Geschichte mussten sie für den Ruhm eben sterben.

Ich schaute mir noch einmal das Foto an, das beim Verladen des Sarges vor der Fabrikhalle entstanden war. Im Eingang zur Halle stand ein Mann im Halbprofil. Undeutlich verschwommen durch die grobe Pixelung des Zeitungsdrucks. Ich kniff die Augen zusammen, das Bild wurde ein wenig schärfer. Der Mann trug einen unmodernen Mantel, ausgetretene Schuhe, Haare und Bart wirkten ungepflegt. Die Kasseler Kriminaler, die ich kennengelernt hatte, legten mehr Wert auf ihr Äußeres. Wer auch immer er war, er kam in meiner Planung nicht vor, und das würde sich umgehend ändern.

5

Am Morgen plagte mich ein leichter Kater von Matts billigem Rotwein, begleitet von einem widerlichen Knoblauchgeschmack und einer ausgetrockneten Kehle. Ich kippte drei nach Chlor schmeckende Gläser Wasser herunter und putzte mir ausgiebig die Zähne. Das alles half nur mäßig, und ich verließ nach einem verzweifelten Griff in die bereits für die Wäsche aussortierte Kleidung die Wohnung.

Jemand hatte eine Werbung für »70 Jahre Zissel« hinter den Scheibenwischer des Ford Taunus geklemmt. Volksfest mit Umzug und Tamtam, genau meine Veranstaltung. Ich schnappte den Flyer und warf ihn in den Fußraum zu einer Sammlung an Knöllchen und Kassenzetteln. Der Ford gurgelte kurz, bevor der Motor sich erbarmte anzuspringen. Die Tankanzeige war einen Strich über Reserve. Bis Wilhelmshöhe sollte das locker reichen.

Das Grundstück am Mulang lag versteckt hinter einer soliden Backsteinmauer. Vor dem Tor beobachtete mich ein Kameraauge, während ich die Klingel betätigte. Den klapprigen Ford hatte ich eine Straße entfernt geparkt, denn die auffällige senfgelbe Kiste hatte mir schon so manchen Auftritt vermasselt, das konnte ich mir heute nicht erlauben.

Ich zog den Knoten des Schlipses gerade, atmete tief ein und blickte möglichst selbstsicher in die Kamera.

»Ja?«, fragte eine blecherne Stimme aus der Gegensprechanlage.

»Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt und vertrete einen Geschäftspartner von Herrn Levin. Es gäbe ein paar Fragen zu klären.«

Am anderen Ende folgte Rauschen. Jemand schien zu überlegen. Lange zu überlegen. Als ich drauf und dran war, den Klingelknopf noch einmal zu drücken, ertönte ein Summen. Das Tor sprang automatisch auf und drehte sich wie von Geisterhand in den Angeln.

Kaum war ich wenige Schritte auf das Grundstück getreten, schwenkte das Tor hinter mir zu und fiel mit einem Scheppern ins Schloss.

Ich war angemessen beeindruckt. Der Garten und das Haus waren geradewegs einer Zeitschrift für modernes Wohnen entsprungen. Der Landschaftsgärtner hatte ganze Arbeit geleistet, jeder Grashalm sah aus wie nach Plan gesteckt und die Hecken waren mit einer Perfektion gestutzt, als hätte jemand eine Wasserwaage drangehalten. Während in sämtlichen Winkeln der Stadt Frühblüher anarchisch bunt aus dem Boden sprossen, wagte auf diesem Grundstück nichts, den Kopf aus der Erde zu stecken, was das perfekte Bild zerstört hätte. Auf Kassels Straßen stach einem an jeder Ecke der Geruch von diesen gelben Büschen, deren Name ich mir nicht merken konnte, in die Nase. Ich schnupperte. Hier roch es nach nichts.

Ich näherte mich dem Haus, das durch überdimensionale verspiegelte Fenster wie ein Geist auf mich hinabstarrte. »Geh weg«, schien es zu sagen. Zwischen den Villen am Mulang wirkte es wie ein Schuhkarton auf Stelzen, dessen Auftraggeber ein großer Fan des Bauhauses gewesen sein musste. Wie der für das Ding eine Baugenehmigung erhalten hatte, wussten wohl nur der Bauherr und jemand auf dem Amt, der sich das Beamtengehalt ein wenig aufgebessert hatte.

Ich drückte die Beklemmung weg und marschierte Richtung Eingang, begleitet von dem sicheren Gefühl, dass ich beobachtet wurde.

Der Eingang lag zwischen zwei Säulen. Ein Kubus aus Sichtbeton mit einer glatten Haustür aus Stahl, die sich mit einem Summen öffnete, kaum dass ich einen halben Meter von ihr entfernt war.

Ich trat ein und fand mich am unteren Ende einer Treppe wieder. Am oberen Absatz wartete eine Dame mittleren Alters in hellblauer Kittelschürze. Sie sah misstrauisch zu mir herunter und musterte mich auf die Art und Weise, auf die man auf keinen Fall gemustert werden möchte, wenn man geglaubt hatte, dem Anlass entsprechend korrekt gekleidet zu sein. Ihr Blick blieb an meiner Krawatte hängen. Vielleicht war Paisleymuster zum Jeanshemd doch die verkehrte Wahl gewesen, aber alle übrigen Krawatten hatten Flecken gehabt.

»Kommen Sie hoch, Herr Petri.« Sie rollte das »R«. Ein Akzent aus dem Osten.

Ich erklomm die Treppenstufen, bis ich neben der Frau stand. Jetzt wirkte sie winzig.

»Dort lang bitte. Frau Levin wird gleich bei Ihnen sein.« Erwartungsvoll hielt sie die Hände ausgestreckt, bis ich verstand, dass sie mir den Mantel abnehmen wollte. Ich legte ihn über ihre Unterarme und ging in die Richtung, in die sie gezeigt hatte.

Ich spürte ihre Anwesenheit im Rücken, bis ich das Wohnzimmer erreicht hatte. Als ich mich umdrehte, war sie verschwunden.

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten war ich beeindruckt. Zwischen dem weitläufig im Raum verstreuten Mobiliar hätte ohne Platznot eine Formation Walzer tanzen können. Von den hochglänzenden beigefarbenen Fliesen stieg eine angenehme Wärme auf. Klar, Fußbodenheizung. Eine Front aus bodentiefen, beinahe rahmenlosen Fenstern eröffnete die Aussicht auf das Kasseler Becken, nur abgelenkt durch einige Bäume auf dem darunterliegenden Grundstück. Durch die nackten Äste erahnte ich bekannte Kirchturmspitzen; sie ragten aus der Dunstglocke, die über der Stadt hing. Ich stellte mir vor, wie die Aussicht erst im Dunkeln sein musste, wenn sich die Wilhelmshöher Allee wie ein leuchtender Wurm durch die Stadt wand. Beinahe schade, dass der Ausblick bald eingeschränkt sein würde, sobald die Bäume austrieben.

Schritte näherten sich. Die Frau schob beim Schreiten die Schultern trotzig nach vorne, wobei die Schulterpolster unter ihrer Bluse vor- und zurückwippten. Ihre langen Beine steckten in schwarzem Samt, und während die meisten im Haus vermutlich etwas Bequemes bevorzugt hätten, trug sie Schuhe mit mörderischen Absätzen, in denen sie lief wie in Turnschuhen. Sie musste das stundenlang geübt haben, ihre hohen Hacken machten kaum ein Geräusch auf dem Fliesenboden. Für einen Körper wie ihren hätte manche Frau ein Vermögen hingeblättert, ich entdeckte jedoch an ihr nichts, was auf etwas anderes als die Gnade guter Gene schließen ließ. Mit einiger Erleichterung fand ich schließlich an ihren goldblonden Locken doch etwas, wo der Natur nachgeholfen worden war: An der Kopfhaut verriet sie ein glatter brünetter Ansatz.

Ich hatte eine Witwe in Sack und Asche erwartet, stattdessen stand mir eine Frau gegenüber, die weder gebeugt noch gebeutelt wirkte. Sie schien es zu genießen, dass ich sie anstarrte, verharrte demonstrativ und hielt den Rücken gerade. Es hätte mich nicht gewundert, wenn sie trotzig die Fäuste in die Hüften gestemmt hätte, stattdessen streckte sie mir die rechte Hand entgegen.

»Salvina hat gesagt, Sie seien ein Geschäftspartner meines Mannes gewesen.«

Ich war versucht zuzustimmen, die Steilvorlage war zu verführerisch. Doch ich war immer noch Anwalt, ganz gleich, wie tief ich bereits im Schlamm versunken war. »Da muss sie etwas falsch verstanden haben, wir waren keine Geschäftspartner. Mein Name ist Meinhard Petri. Ich bin Anwalt für Strafrecht.« Ich fummelte eine zerknautschte Visitenkarte aus der Jacketttasche und hielt sie ihr hin.

Sie nahm sie, aber würdigte sie keines Blickes. »Ich habe einen Anwalt«, sagte sie trocken.

»Ich vertrete die Interessen eines Mannes, der mit Ihrem Gatten Geschäfte gemacht hat.« So formuliert klang die Sachlage verdammt harmlos, allerdings nur, wenn einem das Knacken brechender Finger nicht ständig im Ohr lag. Unbewusst rieb ich mir die Hände.

»Und was kann ich für Sie tun? Sie haben sicher Verständnis, dass ich bisher nicht alle Angelegenheiten von Roman ordnen konnte.«

Sie wirkte extrem gefasst, beinahe bemüht, so als trüge sie unter der Bluse ein Korsett, das ihr das Rückgrat stützte.

»Mein Mandant hatte geschäftlich mit den Männern zu tun, deren Selbstmorde in den vergangenen Jahren hier in Kassel in den Medien Wellen geschlagen haben, und er fragt sich, ob es einen Zusammenhang zwischen ihnen gibt.«

Sie seufzte, und beim Ausatmen wich die Spannkraft aus ihrem Rücken. Sie ließ sich in einen schwarzen Lederkubus mit Chromgestell fallen. Eines dieser Möbelstücke, bei denen ich mich immer gefragt hatte, ob die Würfelform bequem sein konnte. Einen Augenblick später wusste ich, dass sie es nicht war.

Sie hatte mir einen Platz gegenüber angeboten, und ich rutschte auf dem kalten, harten Leder herum auf der verzweifelten Suche nach einer lässigen Haltung.

»Das hat mich die Polizei auch schon gefragt, und ich kann Ihnen nur sagen, dass ich die Herren nicht persönlich kannte.«

»Die Polizei hat Sie befragt?«

»Sicher. Ist es nicht üblich, bei Selbstmord nachzuforschen, wenn kein Abschiedsbrief vorliegt?«

»Sie haben recht, das ist üblich. Und Sie haben die anderen Männer nie getroffen?«

»Vielleicht ist man sich mal auf einer Abendveranstaltung begegnet.«

»Haben Sie eine Ahnung, für welchen Zweck Ihr Mann sich 300.000 Mark geliehen hat?« Die Taktik, mit der Tür ins Haus zu fallen, hatte der Wahrheit schon häufig auf die Sprünge geholfen.

Sie sah mich an, als sei ich verrückt geworden. Ich meinte, sogar ein leises Lächeln zu erkennen.

»Roman hatte es nicht nötig, sich Geld zu leihen. Wir haben nie über Finanzielles gesprochen und auch nie über den Verlag, aber glauben Sie mir, Geld war ganz bestimmt das geringste Problem.«

»Wer führt die Geschäfte, jetzt, wo Ihr Mann …?« Ich biss mir auf die Unterlippe.

Ihre Augen verengten sich und sie schob das Kinn nach vorne. Verwirrt stellte ich fest, dass sie die Frage weniger betroffen machte als ärgerlich. »Sein Sohn aus erster Ehe ist schon vor Jahren in die Geschäftsführung eingestiegen. Roman wollte ihm ohnehin in Kürze den Verlag übergeben und sich zurückziehen. Er hat sein ganzes Leben davon geträumt, selber mal etwas zu schreiben. Daraus wird nun nichts mehr.«

Ich fragte mich, welcher Teil ihrer Antwort Grund für den Ärger in ihrer Stimme war. »Hat er sich gut mit seinem Sohn verstanden?«

»So gut, wie zwei Leitwölfe sich eben verstehen können. Es gab immer wieder mal Unstimmigkeiten, aber am Ende wurden sie sich irgendwie einig.«

Dieses Thema machte sie eifersüchtig, das spürte ich. »Und Sie sind finanziell versorgt?«

Sie setzte sich sehr gerade hin. »Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, oder?«

Ich hatte mich schon gefragt, wann sie dichtmachte. »Da haben Sie recht. Das geht mich nichts an.« Freundlich den Schwanz einzuziehen war der zweite Teil der Taktik. Tatsächlich wurde ihr Rücken wieder rund. Zeit für die ultimative Frage. »Hat Ihr Mann jemals Selbstmordabsichten geäußert?«

Sie zuckte zusammen, überlegte kurz, schien mich dann einer Antwort für würdig zu erachten. »Er hatte manchmal Phasen, in denen ihm alles über den Kopf zu wachsen schien. Wissen Sie, er war einer dieser Männer, denen der Erfolg in den Schoß fiel. Was er anpackte, gelang. Aber das war nur beruflich. Privat sah es anders aus.«

Sie blickte mich an, und je länger sie das tat, desto mehr Unbehagen stieg in mir hoch. Unvermittelt stand sie auf und sagte: »Kommen Sie mit. Ich will Ihnen etwas zeigen.«

6

Man hätte mich mit verbundenen Augen in Kassel aussetzen können und ich hätte trotzdem nach Hause gefunden. Nach dem Treffen mit Riva Levin war ich jedoch derart in Gedanken versunken, dass ich beinahe in eine Versammlung dieser rot-weiß geringelten Lollies gerauscht wäre, die das Verkehrsamt gefühlt an jeder Straßenecke hatte aufstellen lassen. Ich hegte den Verdacht, dass sie diese Dinger in großen Mengen günstig erstanden hatten, und nun nicht wussten, wohin damit. Überall lungerten kleine Grüppchen dieser Blechkameraden und behinderten das Abbiegen. Um ihnen auszuweichen, war ich auf die falsche Spur gewechselt und fuhr auf dem Weg in die Innenstadt einen riesigen Umweg. Es war, als ob mein Hirn Zeit schinden wollte, um nachzudenken.

Während ich den Ford durch die Straßen lenkte, musste ich an das denken, was Riva Levin mir gezeigt hatte.

Sie hatte mich in das Arbeitszimmer ihres Mannes Roman geführt. Zunächst verstand ich nicht, worauf sie hinauswollte. Der Raum wurde dominiert von vollgestopften deckenhohen Regalen, deren Bretter sich unter schweren Buchrücken bogen. Dann fielen mir eine alte Schreibmaschine und ein von zerknüllten Seiten überquellender Papierkorb auf. Auf Levins Schreibtisch stand eine Flasche mit dem Rest einer dunkelbraunen Flüssigkeit, daneben ein Glas mit einem eingetrockneten Rand. Auf ihren Wink hin näherte ich mich dem Tisch. Ein Montblanc-Füller auf einer Kladde fiel mir ins Auge, die Zeilen darin dicht beschrieben, ohne Punkt und Komma; manisches Gekritzel. Ich bemerkte eine durchgesessene Stelle auf dem Schreibtischstuhl und einen speckig glattgewetzten Fleck am Schreibtisch, wo Stunde um Stunde der rechte Unterarm über das Holz gewischt hatte. Ich schaute nicht auf den Arbeitsplatz eines erfolgreichen Verlagsmanagers, ich starrte direkt in den Abgrund eines Getriebenen, der verzweifelt versucht haben musste, einen Dämon auf Abstand zu halten.

»Roman war oft allein in dem Ferienhaus am Edersee«, hatte sie gesagt. »Als ich von seinem Tod erfuhr, habe ich keine Sekunde an einem Selbstmord gezweifelt. Sie haben den gleichen Ausdruck in den Augen wie er. Sie erscheinen mir wie jemand, der vor sich selbst davonläuft.«

Wie betäubt war ich fast aus dem Haus getaumelt, ich hatte sogar meinen Mantel vergessen. Salvina war bis zum Tor hinter mir hergerannt.

Ich hatte zurückgeschaut und Riva Levin entdeckt, die oben im Fenster stand. Gegen das verspiegelte Glas war sie nur schemenhaft zu erkennen gewesen, dennoch wusste ich genau, mit welchem Blick sie mich bedacht hatte. Tausendmal hatte ich ihn bei meiner Exfrau gesehen, bis er eines Tages unerträglich geworden war.

Ich war mit dem Vorsatz in den alten Ford gesprungen, den direkten Weg zu Sharp zu nehmen. Ich würde ihm erklären, dass ich der Falsche sei, um sein Problem zu lösen. Schließlich war ich Anwalt und kein Privatermittler. Und ich war vielleicht nicht unbedingt ein erfolgreicher Rechtsverdreher, als Philip-Marlowe-Verschnitt hingegen hatte ich bereits beim ersten Auftritt auf ganzer Linie versagt.

7

Innerhalb von 24 Stunden zweimal im Keller von Sharps Etablissement zu stehen, machte meine Situation nicht angenehmer.

Sharp ließ mich warten. Sergej stand mit verschränkten Armen vor der Bürotür und starrte mir stumm ins Gesicht.

Ich nahm Platz an der Bar, hinter der Sharps älteste Bardame Molly Gläser polierte. Wenn man den Gerüchten glauben durfte, lief der Laden wie geschnitten Brot. Vielleicht weil Sharps Mädchen nicht aussahen wie Junkies und er seine Jungs angewiesen hatte, die Straße und den Eingang von Dealern freizuhalten. Das Fleur war sauber, auf den Toiletten konnte man sich sogar auf die Brille setzen, und im Gegensatz zu anderen Bordellen lagen nirgendwo gebrauchte Kondome oder halbtote, abgemagerte Mädchen herum. Seit der Grenzöffnung war selbst im beschaulichen Kassel in der Prostitution eine neue Zeitrechnung angebrochen. Der Markt war mit Mädchen aus dem Osten überschwemmt worden, die größtenteils mit falschen Versprechungen eingesammelt und dann gewaltsam zur Prostitution gezwungen worden waren. Sharp hatte zwar seine Finger ebenfalls in diesem Geschäft drin, aber seinen eigenen Laden hielt er sauber.

Bei allem, was man über Sharp in der Szene wusste, konnte man ihm ein Mindestmaß an Ganovenehre nicht absprechen. Molly hatte sich bei ihm das Gnadenbrot verdient und musste seit ihrer Totaloperation nicht mehr anschaffen. Sie war die Seele des Fleur – schon deswegen hätte Sharp sie nie ausgemustert. Jeden Abend saßen dieselben Kerle am Tresen und heulten sich bei ihr aus. Sie stülpte den Jungs tröstend ihren Vorbau über das Gesicht, winkte derweil eines der Mädchen herbei, stellte flugs eine überteuerte Flasche billigen Schaumwein auf die Theke und zog sich diskret zurück. Molly machte auf diese Weise mehr Umsatz für Sharp als zu der Zeit, als sie selbst angeschafft hatte. Sie war in den letzten Jahren etwas aus der Form geraten. Das knatterenge schwarze Oberteil mit Paillettenbesatz hielt tapfer die wogenden Massen in Schach. Das dunkle Kaschemmenlicht täuschte genauso über die Krater in ihrem Gesicht hinweg wie eine dicke Schicht Make-up und schreiend blauer Lidschatten. Mit den künstlichen Krallen an ihren Fingern konnte sie vermutlich die Kronkorken der Bierflaschen ohne Hilfsmittel abheben.

»Na, Petrus, du Scheinheiliger, was darf ich dir anbieten?«

»Molly, ich finde es scheußlich, wenn du mich Petrus nennst.« Ich hasste dieses Wortspiel, und es ärgerte mich, dass ich es hasste. Für meinen Geschmack hatte man mir an diesem Tag bereits tief genug in die Seele geschaut.

»Entschuldige, Schatz, wie kann ich das wiedergutmachen?«

»Gib mir nen Kaffee, einen starken.«

Sie schenkte mir aus einer Thermoskanne ein. Ich sah skeptisch in die braune Flüssigkeit. Sharp ließ Schlafmittel in den entkoffeinierten Kaffee mischen. Auf diese Weise kriegten seine Mädchen die Kundschaft schneller auf die Zimmer, und die Männer blieben bis tief in die Nacht, ohne die Mädchen unnötig lange beschäftigt zu halten, und am Ende präsentierte Molly den Freiern eine Getränkerechnung, die sich gewaschen hatte.

Aufmunternd nickte sie mir zu. »Ist meine Privatmischung. Kannste trinken. Guck!« Sie goss sich selber eine Tasse ein und nahm einen Schluck.

Ich schlürfte an dem Kaffee. Ganz ordentlich für Puffbrühe.

Endlich war es so weit. Sergej machte wortlos einen Schritt zur Seite und öffnete die Tür zu Sharps Büro.

Der saß an seinem Schreibtisch. Noch war das Auge aus Glas drin, während das andere böse funkelte. Mir kam der Verdacht, dass es womöglich angeraten sei, die Flucht zu ergreifen, aber Sergej hatte sich bereits in meinem Rücken postiert und blockierte den Ausgang.

Sharp knallte eine Zeitung auf den Tisch. »Ich hoffe, Sie bringen mir bessere Neuigkeiten.«

Ich versuchte, die auf dem Kopf stehenden Schlagzeilen zu entziffern.

Sharp drehte die Zeitung um. »Schon wieder einer. Und das bitte schön verstehen Sie unter diskretem Vorgehen?« Er tippte auf das Foto über dem Artikel.

Im Vordergrund wurde der Sarg in den Leichenwagen verladen, im Hintergrund schaute Kommissar Sachs ziemlich genervt in die Kamera, und in seinem Rücken war ich gerade dabei, mich in die Halle zu stehlen. Mist, da waren die Journalisten doch schneller gewesen.

»Ich war auf dem Weg zu Schuhmanns Büro, als ich das Polizeiaufgebot an der Halle bemerkt habe. Purer Zufall, dass ich vor Ort war.«

»Purer Zufall? Werfen Sie mal einen Blick auf Ihre Liste. Kann es noch deutlicher werden, dass da jemand einen Plan verfolgt, der mich treffen soll?«

Er hatte vollkommen recht, das alles roch so eindeutig nach Komplott, dass es die beste Idee gewesen wäre, sich rauszuhalten und der Polizei die Arbeit zu überlassen.

Sharp sah nicht aus, als sei er für derartige Vorschläge empfänglich. »Und schon wieder 200.000 weg. Ohne Zinsen. Ich will wissen, was da los ist, haben wir uns verstanden?« Er kniff das linke Auge zusammen. Das Glasauge fluppte heraus, er fing es geschickt auf und rotierte es durch die Finger.

Der Plan, ihm die Mitarbeit aufzukündigen, ging schneller zum Teufel, als ich erwartet hätte. Wann hatte ich mich in dieses armselige Häufchen verwandelt? Mollys Kaffee rumorte in meinem Bauch. Ich brauchte dringend etwas im Magen. Ein tiefer Blick in Sharps leere Augenhöhle genügte und dieser Gedanke verflog. Statt seine Frage zu beantworten, glotzte ich ihn ratlos an.

»Gibt es was Neues?«, fragte er.

»Ich bin doch erst seit gestern dran. Ein bisschen Zeit brauche ich auch. Levin jedenfalls könnte tatsächlich einen Grund gehabt haben, Selbstmord zu begehen. Seine Frau hat mir glaubhaft versichert, dass sie keine Ahnung hat, wofür er sich hätte Geld leihen sollen. Nötig hatte er es auf jeden Fall nicht.«

Das rotierende Glasauge stoppte. »Nötig hatten die auf Ihrer Liste es alle nicht. Da stehen kaum solche Versager wie Sie drauf. Da stehen Leute drauf, die Geld brauchten, das keine Duftmarke hat.«

»Wissen Sie, wofür das Geld verwendet werden sollte?«

»Hätte ich Sie sonst darauf angesetzt? Auf keinen Fall handelt es sich um etwas, womit ich üblicherweise aushelfen kann.« Er meinte lukrative Geldanlagen in Lieferungen aus Mittelamerika, dem Ostblock oder Asien: Koks oder Frauen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen wirklich helfen kann.« Mir war klar, dass er diesen lauwarmen Versuch, mich zu drücken, abschmettern würde.

»Und ich bin mir nicht sicher, ob ich mich klar ausgedrückt habe. Wollen Sie den Ausgang Ihrer laufenden Fälle noch miterleben? Dann würde ich an Ihrer Stelle für Ergebnisse sorgen.«

Hinter mir knackte Sergej mit den Fingern.

»Und, meine Güte, können Sie sich nicht was Anständiges anziehen? Wenn Sie mit diesen Leuten reden wollen«, er tippte auf die Zeitungsmeldung, »sollten Sie nicht aussehen wie ein Penner.«

Stumm zuckte ich die Schultern. Was hätte ich auch antworten sollen? Dass meine gute Kleidung in der Reinigung war? Ich hätte ebenso nackt vor Sharp sitzen können und hätte mich kaum weniger entblößt gefühlt.

Das Glasauge fluppte zurück in seine Höhle und Sharp griff unter die Tischplatte.

Ich hielt den Atem an. Was von dort kam, war in der Regel unerfreulich.

Doch er zog ein Bündel mit Scheinen hervor und zählte fünf Hunderter auf den Tisch. »Sergej bleibt an Ihnen dran. Wenn Sie die Kohle verzocken, hat Kassel einen Drogentoten mehr. Wir verstehen uns?«

Ich wusste nicht, was ich beängstigender fand: Die Vorstellung, dass Sergej als Schatten hinter mir herlief, oder 500 Mark mit mir herumzutragen und sie nicht sofort in den Rachen eines Spielautomaten schieben zu dürfen.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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273 стр. 6 иллюстраций
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9783839268865
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