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Bennos Neigungen

Benno hatte zu Lebzeiten politisch ganz klar Stellung bezogen zur Sexualität und allem, was damit zu tun hatte. Man hätte seine Meinung als erzkonservativ bezeichnen können. Das brachte ihm bei manchen Wählern einen Bonus ein, andere, liberalere Anhänger seiner Partei konnten mit diesen Aussagen wenig anfangen. Benno erklärte eindeutig, dass er von Homosexualität nichts hielt. Die Schwulen und Lesben waren ihm zuwider, vor allem, wenn sie sich öffentlich dazu bekannten und er sehen musste, wie sie sich abschleckten. Dieses erzählte ihnen Marga Kuhlmann, bei der sie auf dem Weg nach Exten vorbeifuhren, um zunächst sie nach Bennos Vorlieben zu befragen.

„Verzeihen Sie, Frau Kuhlmann, dass wir Sie mit solchen Fragen belasten“, erklärte Hetzer bedauernd, „aber es haben sich Spuren ergeben, die eine solche Nachfrage erforderlich machen.“

„Ist mein Mann einem Verbrechen zum Opfer gefallen? Haben Sie einen Verdacht?“

„Das wissen wir nicht. Hat er sich irgendwie gemeldet oder ist er über Dritte mit Ihnen in Kontakt getreten? Haben Sie irgendetwas über seinen Verbleib gehört?“

„Nein, gar nichts“, schluchzte Marga. Kruse und Hetzer warteten, bis sie sich wieder gefangen hatte.

„Bitte sagen sie uns, ob Ihr Mann irgendwelche sexuellen Vorlieben hatte. Sie sagten, dass er den eigenen Geschlechtsgenossen gegenüber abgeneigt war.“

„Er hätte nie im Traum daran gedacht, sich mit einem Mann einzulassen“, erwiderte Marga empört.

„Warum auch, bei uns im Bett war alles normal. So wie es sein soll, wenn Mann und Frau sich lieben. Mit der Zeit stehen eben auch andere Dinge im Vordergrund, verstehen Sie.“

„Ach so, darum hatte er auch mindestens eine Geliebte, von der Sie angeblich nichts wissen.“ Kruse lehnte sich zurück.

„Es mag da mal die eine oder andere gegeben haben, aber ganz bestimmt nichts Festes oder Verpflichtendes, für das er sein jetziges Leben aufgegeben hätte. Belangloses. Gespielinnen eben, für eine Nacht. Was bedeutet das schon.“

„Wir haben Kenntnis davon erhalten, dass Ihr Mann eine regelmäßige und intensive Beziehung zu einem Paar aus Exten unterhalten hat.“

Marga stockte der Atem. Sie wurde bleich.

„Bitte verlassen Sie sofort mein Haus. Solche schmutzigen Beschuldigungen muss ich mir nicht anhören. Sie wissen nicht einmal, wo mein Mann ist oder ob er noch lebt, aber Sie haben die Unverfrorenheit, solche Behauptungen in den Raum zu stellen. Ich werde mich über Sie beschweren.“

„Das können Sie gerne tun, Frau Kuhlmann, aber ich an Ihrer Stelle würde es mir noch einmal überlegen. Wir würden diese Tatsache nämlich gerne aus den Ermittlungen heraushalten, wenn sie sich als nicht tatrelevant erweist. Das müsste doch ganz in Ihrem Sinne sein. Darum sind wir auch heute unterwegs, obwohl Samstag ist. Wir wollten nur wissen, ob Ihnen diese Geschichte bekannt ist.“

„Nein, das ist sie nicht, und ich würde meine Hand für meinen Mann ins Feuer legen, dass er niemals einen Kerl anfassen würde. Nicht einmal einen umoperierten. Von diesen weibischen Schwuchteln hielt er nämlich auch nichts. Alles wider die Schöpfung und die Natur. Und jetzt gehen Sie bitte!“

Hetzer und Kruse waren froh, wieder im Auto zu sitzen.

„Hättest du gedacht, dass sie überhaupt so ein Wort kennt, unsere feine Dame? Sie hat Schwuchtel gesagt. Das ziemt sich doch gar nicht in den besseren Kreisen.“

„Das ist ihr bestimmt rausgerutscht, weil sie sich so aufgeregt hat. Viel schlimmer finde ich die radikalen Ansichten, die sie vertritt. Ich dachte, das hätten wir schon mehrere Jahrzehnte hinter uns gelassen.“

„So etwas kommt immer mal wieder aus dem Gully gekrochen, glaub mir.“

„Da hast du wahrscheinlich recht, aber es ist erschreckend. Mal sehen, was uns in Exten erwartet.“

Als Wolf und Peter an der Haustür der Familie König klingelten, machte zunächst niemand auf. Es war halb drei. Sie klingelten erneut und hämmerten auch mit dem Löwenkopf gegen das Metallschild im Türbalken.

„Ja, ja, ich komm ja schon“, rief es durch die Tür. „Kann man nicht mal am Wochenende ein Nickerchen machen?“

Die Beamten sahen auf die Uhr.

„Was wünschen Sie?“, fragte eine leicht verschlafene Stimme durch den Türschlitz.

„Kripo Rinteln. Wir hätten da in einem Vermisstenfall ein paar Fragen an Sie.“

„Können Sie sich ausweisen?“

Hetzer und Kruse hielten ihre Ausweise durch den Spalt.

„Na, dann mal hereinspaziert. Ich bin gespannt, wobei wir Ihnen helfen könnten.“ Der Mann schlurfte ins seinen Puschen voraus. Er war unrasiert und circa Mitte fünfzig.

„Entschuldigen Sie, wir waren gestern lange wach. Ich hole mal meine Frau.“

Wolf und Peter nahmen Platz. Sie sahen sich um. Nichts Besonderes. Ein eher biederes Wohnzimmer mit Dreisitzer, Zweisitzer und Sessel, in der Ecke eine Stehlampe. Der Fernseher war allerdings neuester Bauart.

„Verzeihen Sie, mein Mann hat mir gesagt, dass wir Besuch haben. Ich bin noch leicht derangiert. Wir waren bis spät in die Nacht auf einem Ball in Hameln. Eigentlich war es schon Morgen.“ Sie zog ihren Morgenrock fester um sich und nahm im Sessel Platz. „Was kann ich für Sie tun, meine Herrn?“

„Frau König, Sie sind Samtgemeindebürgermeisterin von Exten. Ist das richtig?“

„Das ist korrekt.“

„Stimmt es, dass Sie Benno Kuhlmann aus Rinteln kennen? Ich glaube, er gehört derselben Partei an wie Sie.“

Marlies wurde ein bisschen blass um die Nase, aber sie hatte ihre Fassung wieder, bevor sie sprach:

„Benno ist ein früherer Schulfreund von mir. Ein ganz alter Kumpel. Das hat mit Politik weniger zu tun. Wir haben nie den Kontakt zueinander verloren über die Jahre. Wenn wir uns auch nur sporadisch mal gesehen haben. Was ist denn mit Benno? Ich habe mich schon gewundert, dass er gestern nicht beim Ball war. Da haben wir uns jedes Jahr getroffen.“

„Benno ist seit mehr als zehn Tagen verschwunden. Wir wissen nicht, wo er ist. Wir dachten, dass Sie vielleicht einen Anhaltspunkt für uns hätten – eine Idee, wo er sein könnte.“

Inzwischen war auch Jochen König zurückgekehrt. Er hatte sich rasiert und angezogen.

„Keine Ahnung. So eng war der Kontakt nun auch wieder nicht!“, sagte Marlies bedauernd.

„Ach“, entgegnete Hetzer, „dann würden Sie eine sexuelle Beziehung also für nicht allzu eng halten?“

Marlies wurde so weiß wie ihr Morgenrock.

„Ich bitte Sie, meine Herren, wie kommen Sie denn auf so etwas?“

„Ein Vöglein hat das vom Dach geträllert. Wir haben nur genau zugehört.“

„Dann muss ich Sie enttäuschen. Ich betrüge meinen Mann nicht. Wir führen eine glückliche, christliche Ehe.“

„Von Betrügen habe ich auch gar nicht gesprochen. Sie beide hatten ein Verhältnis mit Benno. Eine ,Ménage à trois’, wie der Franzose so schön sagt. Aber keine Angst, das bleibt so lange unter uns wie möglich. Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten und alles dafür tun, dass wir Benno finden, bleibt ihr kleines Geheimnis bei uns sicher. Aber wir müssen alles über Benno wissen, damit wir uns ein Bild machen können, was mit ihm passiert ist.“

„Komm Marlies, jetzt gib es schon zu. Wenn du es weiter abstreitest, werden die beiden einen Weg finden, die Wahrheit auf andere Weise herauszubekommen. Ja, wir hatten ein Verhältnis mit Benno. Beide. Aber mit seinem Verschwinden haben wir nichts zu tun. Wir haben uns schon gewundert, warum er beim JoyClub nicht mehr aktiv ist. Wir dachten, Marga hätte wieder mal Stress gemacht.“

„Weiß Marga von Ihrem Dreierverhältnis?“

„Ich glaube nicht. Vielleicht ahnt sie, dass irgendwo irgendetwas mit irgendwem läuft. Mehr sicher nicht. Sie kann auch nicht mit dem Computer umgehen, so halten wir Kontakt mit ihm. Telefon wäre zu auffällig.“

Marlies schüttelte den Kopf.

„Jetzt hast du uns eine schöne Scheiße eingebrockt! Da kann ich ja mein Amt am besten gleich niederlegen! Ich sehe die Schlagzeile schon vor mir: ,Die Bürgermeisterin vögelt mit zwei Kerlen.‘ Ein gefundenes Fressen für die Zeitungen.“

„Frau König, das sehen Sie falsch. Wir möchten auch nicht, dass etwas an die Öffentlichkeit dringt. Wir müssen nur sicherstellen, dass Bennos Verschwinden nichts mit seinen sexuellen Neigungen zu tun hat. Und genau das möchten wir herausfinden. Es gibt sonst nicht den Ansatz einer Spur – außer, dass er mit einem Fremden aus dem ,Stadtkater’ in Richtung Park gegangen ist. Wir brauchen Ihre Hilfe.“

„Ok, ist ja jetzt eh schon egal. Also, ich kenne Benno wirklich aus der Schule, aber wir haben uns viele Jahre nicht gesehen, bis ich sein Profil bei JoyClub gelesen habe. Auch da wusste ich noch nicht, dass es sich um ihn handelt. Die Personen dort sind anonym. Jochen und ich sind als Paar registriert. Wir suchen andere Personen oder Paare mit bisexuellen Neigungen, mit denen wir uns treffen können, um unsere Wünsche auszuleben. Da wir an dauerhaften Partnerschaften interessiert sind, haben wir von Exten aus einen Umkreis von 25 Kilometern angegeben. Wirklich rein zufällig haben wir Benno so wiedergetroffen. Als er uns sein Foto schickte, musste ich erst schlucken und dann lachen. Wir haben überlegt, ob es etwas ausmachen könnte, dass wir uns aus der Vergangenheit kannten. Sympathisch war er mir immer. Wir dachten dann, dass es eigentlich gut sei, ihn für die Treffen auszuwählen, da ihm genauso viel daran lag, unentdeckt zu bleiben wie uns. Stellen Sie sich vor, das würde bekannt. Ein gefundenes Fressen für alle, die uns zerreißen wollten.“

„Gut, das klingt logisch. Können wir davon ausgehen, dass Benno beim Sex durchaus auch an Ihrem Mann Gefallen gefunden hat?“

„Herr Kommissar, so eine Begegnung lebt von der Vielzahl der Möglichkeiten. Man will entdecken. Da schreckt man doch nicht vor dem anderen zurück. Man fasst sich an, ergründet die Körper, streichelt, liebkost und bietet sich an. Sex mit einer Person kann schon schön und vielfältig sein. Sex mit mehreren eröffnet ganz neue Räume. Sie sollten es einmal probieren.“

„Dann hat also Benno, der vehement gegen Homosexualität gewettert hat, auch mit Ihrem Mann geschlafen?“

„So eindeutig kann man das nicht benennen, das wäre zu einfach, aber ja, er hat meinen Mann berührt, ihm Lust bereitet und ist auch sonst mit uns satt geworden.“

„Vielen Dank für Ihre Offenheit. Können Sie uns sagen, wo Sie vor zwölf Tagen waren, so in den Abendstunden nach 22 Uhr?“

„Das kann ich Ihnen ganz genau sagen. Wir sind nämlich erst vor einer Woche aus dem Urlaub zurückgekommen. Wir waren zwei Wochen auf Teneriffa. Herrlich. Ein traumhaftes Klima.“

„Ich gehe davon aus, dass Sie das belegen können. Gut, dann haben wir erst einmal keine weiteren Fragen.“ Hetzer stand auf und schüttelte Marlies König die Hand. Ihr Mann hatte unterdessen eine Schrankschublade geöffnet und wedelte mit den Flugscheinen. Peter warf einen Blick darauf.

„Vergessen Sie Ihr Versprechen nicht, Herr Hetzer.“

„Kein Wort wird über meine Lippen kommen.“ Hetzer verriegelte seine Lippen mit einem unsichtbaren Schlüssel und folgte Peter in Richtung Tür. Draußen holte er erst einmal tief Luft.

„Puh, was für eine Miefbude. Die hatten heute bestimmt noch nicht gelüftet.“

„Vom Waschen ganz zu schweigen. Da war auch noch niemand aufgestanden, bevor wir geklingelt haben.“

„Kann sein. Ist mir im Prinzip auch egal, wenn ich nicht in dem Mief sitzen muss.“

„Jetzt sind wir so schlau wie vorher. Es nützt uns rein gar nichts, dass wir wissen, dass er es gerne sehr phantasievoll trieb.“

„Ich habe mir auch mehr davon versprochen, wenn ich ehrlich sein soll. Und dann haben die auch noch ein todsicheres Alibi.“

„Was heißt Alibi. Wir wissen noch nicht mal, ob es ein Verbrechen gegeben hat. Der Pfarrer ist wenigstens tot. Aber da tappen wir auch im Dunkeln.“

„Ja, völlig. Ob Kuhlmann sich noch mit anderen hier aus dem Umkreis getroffen hat? Vielleicht mit Fraas?“

„Jetzt bist du völlig übergeschnappt, Hetzer. Ein politischer Mittfünfziger mit einem alten katholischen Geistlichen? Das ist doch wohl mehr als unwahrscheinlich.“

„Da hast du wohl recht. Auf die Verbindung kam ich eben auch nur, weil wir in beiden Fällen rein gar nichts wissen. Vielleicht taucht Benno auch schon bald wieder auf.“

„Hoffentlich hast du das nicht wörtlich gemeint“, grummelte Peter. „Ich habe keine Lust auf eine weitere Wasserleiche. Es ist schon so kalt draußen. Sag mal, was hast du eigentlich mit dem Inhalt des Topfes gemacht?“

„Mit dem Inhalt? Ich habe den ganzen widerwärtigen Topf in die Mülltonne geschmissen.“

„Habe ich mich geirrt oder bewegte sich dessen Inneres?“

„Können wir vielleicht von etwas anderem reden? Ich möchte gleich noch kochen!“

„Klar, wir können darüber nachdenken, wer dir den Topf vor die Tür gestellt hat. Deine Nachbarin doch sicher nicht.“

„Moni habe ich heute Vormittag schon gefragt. Sie hat gleich ein schlechtes Gewissen bekommen, weil sie den versprochenen Eintopf noch nicht gekocht hat. Aber sie hatte mir nichts hingestellt.“

„Das ist doch aber merkwürdig. Kann es einer deiner anderen Nachbarn gewesen sein? Freunde, Bekannte mit einem schlecht funktionierenden Kühlschrank? Jemand, der unter deinen Kochkünsten gelitten hat? Jemand, der dir einen Schreck einjagen wollte?“

Hetzer wurde innerlich kalt. Ihm fiel wieder ein, dass seine beiden Wachposten an dem Abend, bevor Peter vorbeigekommen war, so ein Spektakel gemacht hatten.

„Peter, erinnerst du dich, dass ich dich gefragt hatte, ob du vorher schon einmal da gewesen warst? Gestern Abend meine ich.“

„Stimmt, das hattest du gesagt. Also muss vor mir jemand an deiner Tür gewesen sein, der etwas abgestellt hat. Aber wer?“

„Keine Ahnung. Man kann allerdings nicht behaupten, dass es ein Akt der Nächstenliebe oder Zuneigung war. Eher im Gegenteil.“

„Wer also könnte etwas gegen dich haben? Sind wir vielleicht doch im Fall Fraas oder Kuhlmann auf irgendeiner Spur, von der wir nichts wissen?“

„Nee, nee, da habe ich mich schon einmal zum Horst gemacht, als ich Mica die Ratte gebracht hatte. Den Triumph gönne ich ihr nicht ein zweites Mal. Darum habe ich den Topf sofort weggeschmissen.“

„Hmm, eine tote Ratte vor der Haustür ist etwas anderes als ein Topf mit verdorbenem Fleisch. Die Ratte kann von einer Katze erlegt worden sein. Der Schweinebraten kann sich nicht selbst in den Topf und mit ihm auf deine Matte gelegt haben. Das ist ein Unterschied.“

„Trotzdem, Peter, lass es gut sein. Weg ist weg.“

„Wie du meinst“, erwiderte Kruse, der vor Hetzers Tor hielt, „aber sei wachsam.“

„Dafür habe ich Emil und Gaga“, lachte Wolf, mehr, um der Sache das Gewicht zu nehmen. Etwas war faul – nicht nur das Fleisch. Und er hatte heute etwas gehört, das von Bedeutung war, aber er konnte es nicht fassen. Es war in sein Bewusstsein eingedrungen und lag dort verborgen unter der Oberfläche.

Albtraumnacht

Hetzer rührte und rührte. Er stand auf einem riesengroßen Gerüst. Sein Löffel war knapp drei Meter lang. Das Rühren fiel ihm unendlich schwer. Die Hitze der Flammen stieg am Topf empor und durch das Gerüst auch zu ihm hinauf. Es war längst zu heiß geworden. Sogar seine Füße brannten. Lange würde er es hier nicht mehr aushalten. Springen konnte er nicht, ringsum nur Flammen oder der Tod, wenn er falsch aufkam. Er musste rühren. Das Gulasch war noch nicht fertig. Wenn der Riese kam und merkte, dass das Fleisch noch nicht zart war, würde er wieder kopfüber aufgehängt werden. Eine gemeine Strafe.

Wenn der Riese ganz gemein war, hängte er ihn so über die Flammen, dass er den Geruch seiner verbrannten Haare in der Nase hatte. Im Topf brodelte es jetzt. Die weißlichen Fleischstücke kamen wieder und wieder an die Oberfläche und grinsten ihn an. Sie wollten nicht gar werden. Sie lebten noch.

Zuerst hatte er gedacht, sie bewegten sich durch das Brodeln, aber nein. Sie tanzten und lachten. Die Hitze schien ihnen nichts auszumachen. Immer höher stieg das Gulasch im Topf. Er hatte nichts, um die Flamme kleiner zu stellen. In seiner Not pinkelte er ins Feuer, aber das half auch nur für einen kurzen Moment. Er hörte jetzt, dass die länglichen Fleischstücke auch singen konnten.

Sie zischten. Einmal schwamm eines länger an der Oberfläche hin und her und kicherte:

„Ist dir heiß? Das macht nichts. Was du nicht hast, kann nicht verbrennen!“

Wolf rührte den Fleischwurm weg. Ekelig, was der Riese so aß. Und was sollte das überhaupt bedeuten. Was hatte er nicht, das nicht verbrennen konnte?

Wieder und wieder kamen die ekeligen Dinger nach oben und stiegen gleichzeitig im Topf in die Höhe.

Er musste sich entscheiden. Flamme oder siedender Sud. Da kam ihm die Idee. Der Löffel, mit dem er jetzt schon seit Stunden rührte, war aus Holz. Kurz bevor das Gulasch überkochte und dabei die Flamme löschte, schwang er sich an den Löffel und balancierte wie ein Matrose im Ausguck auf dem Mast. Nur, dass der fest hielt.

Gerade, als er sich nicht mehr halten konnte, ging die Tür auf ...

Wieder einmal wachte Wolf schweißgebadet auf. Was waren das nur für Träume?

Gaga begleitete ihn hinunter in die Küche. Ihm war noch jetzt ganz schummerig. Der Traum hatte ihn an den Topf erinnert. Ekelig. Ob Peter doch recht gehabt hatte? Egal, er fischte das Ding jetzt nicht mehr aus dem Müll. Im Geiste hörte er Peter, der sagte „Das kann auch die Spusi machen!“. Auch wenn er recht hatte, Wolf wollte seine Ruhe haben. Und morgen würde er ausspannen. Da war Sonntag. Schon in der Frühe ein gemütliches Feuer im Ofen und alles würde gut. Mit diesem tröstenden Gedanken schlief er nach einem Glas Milch den Rest der Nacht traumlos und genoss den freien Tag, bis sein Telefon klingelte.

In der Eulenburg

Das Blut, das aus der Wunde geflossen war, glich nur im ersten Moment versengter Wüstenerde. Doch es lag ein Glanz auf der Oberfläche der Kruste, die sich an manchen Stellen wölbte oder in rotbraunen Zacken vom Boden abstand.

Ein beinahe faszinierendes Stillleben, wäre da nicht ein zu gut abgehangener Körper gewesen, der an einem Seil von der Decke hing – gerade so tief, dass die Hände nicht auf den Boden reichten und das Blutbild zerstörten.

Der Gestank war widerlich, genau wie das Wimmeln weißer Maden, die aus der klaffenden Halswunde und den Körperöffnungen ein- und auskrochen.

In der Luft lag ein leichter Brandgeruch. Er konkurrierte mit dem der Verwesung und schien zu unterliegen. Wo vorher Bein-, Scham- und Brusthaare gewesen waren, zeigte der Körper Verbrennungen. Der Kopf war gänzlich schwarz. Jemand musste die Haare von der Haut geflammt haben. Wie bei einem geschlachteten Schwein, dachte Nadja und hielt beim Näherkommen den Atem an.

Sie erinnerte sich an die alten Geschichten, daran, dass ihre Großmutter als Kind oft zugesehen hatte, wenn ein Tier geschlachtet worden war.

In Nadja kämpfte die Faszination mit der Übelkeit. Sie wickelte sich ihr Tuch um Nase und Mund und fotografierte den Leichnam aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Gestank kroch durch die Maschen. Irgendetwas stimmte hier nicht. Das Bild war gestört. Doch sie wusste nicht wodurch.

Die Redaktion hatte sie zur Recherche historischer Dokumente hierher geschickt.

Auf den Dachboden der alten Eulenburg. Wo sonst niemand hinkam. Und jetzt bestimmt niemand hinwollte. Man hatte ihr unten im Museum den großen Schlüssel gegeben. Doch am Ende der Treppe hatte der Tag eine ganz andere Überraschung für sie bereitgehalten. Den Tod. Aus der geöffneten Tür hatte sie dessen greifbare Existenz wie ein Faustschlag getroffen. Im diffusen Licht war er nur mit der Nase wahrnehmbar gewesen. Die alten Lampen, die Schatten aus verschiedenen Richtungen auf das menschliche Pendel warfen, konnten das Grauen nicht vertreiben. Es schauderte sie. Doch das hier war greifbarer als vergilbtes Papier. Besonders für die ehemalige Medizinstudentin, die immer noch nebenbei für die Schaumburger Zeitung schrieb.

Seitdem sie begonnen hatte, ihren Facharzt im Bereich der Rechtsmedizin zu machen, kam sie nur noch selten dazu, ihre Redaktionskollegen zu unterstützen. Das hier war ein echter Höhepunkt in ihrer medizinischen Ausbildung. Sie hatte schon einiges auf dem Seziertisch gesehen, aber ein Leichnam in diesem Verwesungszustand war etwas Besonderes. Und er war noch unversehrt. Keiner hatte ihn vor ihr gesehen. Er gehörte nur ihr. Wie er so von der Decke baumelte, wie es auf ihm krabbelte und wuselte, wie er roch. Das alles war einzigartig. Sie blieb noch einen Moment – mit flauem Magen zwar – aber sie wollte diese Eindrücke ganz in Ruhe für sich sammeln. Erst dann klappte sie ihr Handy auf und rief den Notruf an. Während sie auf die Beamten wartete, wunderte sie sich über sich selbst. Sie wunderte sich über das, was dieser Tote in ihr auslöste. Und sie wusste, dass sie beruflich auf dem richtigen Weg war.

Kruse und Hetzer hatten sich ihren Sonntagnachmittag ruhiger vorgestellt. Aber das war in ihrem Beruf nicht zu ändern. Der Kaminofen brannte in Hetzers Kate vor sich hin. Jetzt allerdings ohne ihn, er würde bald ausgehen. Heute war an Entspannung nicht mehr zu denken. Bei dem Bild, das sich den Kommissaren auf dem Boden der Eulenburg bot, kam Hetzer der Traum wieder in den Sinn. Es gab eine Parallele: Maden im Topf, Fleischstückmaden im Traum, Maden auf Benno.

Der Gestank war nicht auszuhalten. Hinter ihm auf der Treppe hörte er das Stapfen von Füßen.

„Puh, diese persönliche Note ist nicht von schlechten Eltern!“, ächzte Mica. „Aber ihr könnt euch glücklich schätzen. Im Sommer wär’s noch schlimmer.“

„Toll, danke Mica, du bist so aufbauend wie immer!“, sagte Peter mit erstickter Stimme.

„Darum liebt ihr mich ja“, erwiderte sie schmunzelnd und warf Hetzer einen zwinkernden Blick zu.

„Wir können einfach nicht ohne dich.“

„Das weiß ich ja und darum gebt ihr euch auch solche Mühe, mich sonntags mit derartigen Besonderheiten zu überraschen.“

Mica umrundete den Leichnam und machte sich Notizen.

„Kannst du uns schon was sagen?“

„Also, er ist tot!“

„Was du nicht sagst. Ich dachte schon, er hält sich einen Zoo auf der Haut.“

„Seid froh, dass die Tierchen da sind, denn sie verraten uns eine ganze Menge über sein Ableben.“

„Vielleicht verrätst du uns ja erst mal ein bisschen?“

Mica schaute auf das Thermometer.

„Ihr könnt davon ausgehen, dass er ungefähr eine Woche hier abhängt.“

„Wie kommst du darauf?“

„Hier oben haben wir jetzt 18 °C. Der Boden ist wegen der Dokumente leicht temperiert. Wenn wir von einer Nachtabsenkung ausgehen, sprechen wir von einer durchschnittlichen Temperatur in Höhe von 15/16 °C. Die Maden sind ungefähr einen Zentimeter lang und ihr Darm ist im ersten Drittel gefüllt. Ich muss sie später noch genau vermessen. Das bedeutet, dass der Eintritt des Todes vor sieben bis acht Tagen geschehen sein muss.“

„Wahnsinn. Das erkennst du an den Viechern?“

„Das kann ich euch später noch genauer sagen. Gestorben ist er wahrscheinlich an dem Stich in den Hals. Dort ist auch das Blut ausgetreten. Viel Blut. Seht ihr die große Pfützenkruste? Das ist ziemlich eindeutig. Man kann auch gut erkennen, dass irgendwer mit einer Flamme den Körper versengt hat. Falls man den Braten nicht schon vorher gerochen hat.“

„Mica, du bist echt widerlich.“

„Danke für das Kompliment. Soll ich nun weitererzählen oder ist euch das Märchen zu gruselig?“

Wenn sie so freundlich grinste, konnte man ihr nichts übelnehmen.

„Ich meine doch nur. Du bist so pietätlos.“

„Nicht ich bin so, sondern der Tod selbst mit all dem Ekel, der um ihn herum ist. Denkt ihr, ich bin gerne hier? Mit meinem Sarkasmus kann ich die Tatsache nur besser ertragen.“

„Ok, mach weiter!“

„Was ihr nicht so genau seht – wenigstens nicht auf den ersten Blick – ist, dass er nicht vollständig ist. Das liegt an seiner Haltung und an dem Stich in seinem Hals.“

„Was fehlt ihm denn? Außer der Kleidung meine ich?“

„Siehst du, Wolf, jetzt fängst du auch schon so an. Es fehlen seine Genitalien, und wenn ich es recht erkenne, hat man sich auch an seinem Hals zu schaffen gemacht, bevor er erstochen wurde.“

„Heißt das, er wurde vor seinem Tod verstümmelt wie der Pfarrer aus Hameln?“

„Ungefähr.“

„Wieso ungefähr? Ja oder nein?“

„Ja und nein!“

„Und im Detail bitte?!“

„Pfarrer Fraas ist vor Ort kastriert und von seinem Adamsapfel befreit worden. Bei Benno hat sich jemand die Mühe gemacht, ihn zu operieren und erst noch ein bisschen leben zu lassen. Hier, seht ihr die frischen Narben? Wenn ich es trotz der Verbrennungen richtig erkenne, verstand da jemand sein Handwerk. Das ist eine richtige Plastik.“

„Dann können wir also davon ausgehen, dass der Mörder Arzt ist?“

„Das könnte sein. Möglich wären auch Studenten der Medizin, Bestatter oder Schneider mit medizinischer Vorbildung, OP-Schwestern, die gut aufgepasst haben. So, mir stinkt’s jetzt. Ich haue ab. Ihr könnt ihn abnehmen lassen, wenn ihr wollt. Morgen Abend könnt ihr nachfragen, nicht eher.“

Wolf und Peter hatten auch genug.

Sie folgten Mica nach unten, wo die Zeugin Nadja Serafin auf die beiden wartete.

„Hey, wir kennen uns doch“, rief Mica. „Sie haben doch eine Weiterbildung bei mir gemacht, oder?“

„Frau Dr. von der Weiden. Das ist ja irre. Haben Sie den Toten gesehen? Klar haben Sie. Deswegen sind Sie ja hier. Verzeihung, ich bin ein bisschen durcheinander. Ich habe noch nie eine so interessante Leiche gehabt.“

„Oh je“, stöhnte Hetzer, „jetzt haben wir schon zwei von der Sorte. Komm, wir gehen etwas Luft schnappen, Peter, bis die beiden sich ausgetauscht haben. Mir ist nicht gut. Ich habe das Gefühl, ich rieche Benno immer noch.“

„Kein Wunder. Ich glaube, du musst dir gleich erst mal den weißen Schutzoverall vom Leib schaffen. Du riechst nämlich wirklich wie Kuhlmann und das wird bei mir nicht anders sein. Das stinkt nachher noch aus der Mülltonne, glaub mir!“

„Ist mir wurscht, ich schmeiße alles zu meinem Madentopf. Ekel zu Ekel.“

„Apropos ... Madentopf ... Wolltest du nicht ...?“

„Nein, wollte ich nicht. Aber jetzt vielleicht. Die Dinge haben sich eben geändert.“

148,71 ₽
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Дата выхода на Литрес:
25 мая 2021
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575 стр. 9 иллюстраций
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9783827198884
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