Читать книгу: «Der Blutsfeind», страница 4

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Aber das würde nun aufhören. Er würde diesem Land den Rücken kehren und die Vergangenheit hinter sich lassen. Vor zwei Jahren waren seine Eltern kurz hintereinander gestorben. Parker hatte gehofft, er würde Erleichterung verspüren, ein Gefühl von Freiheit oder Entspannung, hatte sogar damit gerechnet, dass trotz alledem eine Spur von Trauer über ihren Tod aufkäme. Doch all das war ausgeblieben. Er hatte nur Leere empfunden.

Er hatte nichts zu verlieren gehabt, hatte den Bankraub gut geplant, war cool geblieben. Bis vor ein paar Minuten. Nicht nur Tonys eigenmächtige Handlung brachte ihn zur Weissglut. Was ihn völlig aus dem Konzept warf, war die Begegnung mit dieser Nora Tabani. Sie hatte er am wenigsten hier erwartet. Es war die Person, die er hasste wie keine andere.

Um ein Haar hätte er reflexartig abgedrückt, als er sie erkannt hatte. Die Kugel wäre in ihre Stirn gedonnert, hätte ihr Hirn zerfetzt und wäre am Hinterkopf wieder ausgetreten. Das Blut wäre aus ihr geschossen, und sie wäre augenblicklich tot gewesen. Es hätte ihn mit Genugtuung erfüllt. Doch er hatte sich beherrscht. Er durfte die Kontrolle nicht verlieren. Einmal entfacht, würde seine Wut grenzenlos. Er spürte, dass er etwas in sich trug, das ihn zum Massenmörder machen und ihn ungebremst töten lassen könnte.

Parker schob die Gedanken mit einem Kraftakt beiseite. Er hatte keine Zeit für sowas. Er musste einen kühlen Kopf bewahren. Für Eskalation hatte Tony schon gesorgt. Der kriegte es hin und hinterliess aus lauter Dummheit ein paar Leichen. Parker musste ihm unbedingt zeigen, wer hier das Sagen hatte.

Falls sie die neue Situation geschickt angingen, würden sie nicht geschnappt. Draussen standen noch immer ihre beiden Kawasakis – die konnten sie vergessen. Die würden die Bullen bestimmt beschlagnahmen. Sie brauchten ein anderes Fluchtfahrzeug. Morgen früh ging ihr Flug von Amsterdam in die Karibik, dorthin, wo man so etwas wie eine Auslieferung in die Schweiz nicht kannte. Wenn sie in den nächsten Stunden die Sache in den Griff kriegten und die Geiseln für ihre Zwecke benutzten, würde die Zeit reichen, um nach Holland zu fahren. Dort hatten sie vor, die Beute Frank, einem Hehler, zu überlassen, der das Geld auf ihr bereits eröffnetes Konto überwiese, so dass sie das Flugzeug nicht mit dem gestohlenen Gut besteigen mussten. Parker konnte sich auf Frank verlassen. Es war nicht das erste Mal, dass er mit ihm zusammenarbeitete. Natürlich würde er einen Teil der Beute für sich abzwacken, schliesslich hatte er auch Arbeit damit, doch er bliebe fair. Noch war nichts verloren. Parker brauchte bloss eine gute Idee.

Nach der Ankunft auf den Bahamas würde er sich so schnell wie möglich von Tony trennen. Wenn er neu anfangen wollte, ging das nur allein. Denn Tony träumte vom Geldverprassen in Spielcasinos, von Besäufnissen am weissen Sandstrand und schnellem Sex mit heissen Bräuten. Parker genügte ein stiller Ort, wo er ein anderer werden konnte. Er würde sich häuten wie eine Schlange, und darunter käme ein neuer Parker zum Vorschein. Einer, der das Leben geniessen konnte. Einer, den man nicht fürchtete, sondern mochte.

Parker schaute auf die Gruppe vor ihm, die nun im Untergeschoss angekommen war. Tony drängte sie in den Vorraum, der weiter hinten zur Halle mit den Schliessfächern führte. Ein dunkelroter Teppich schluckte die Geräusche der Schritte. Eine meterdicke runde Tresortür aus Stahl verband die beiden Räume. Sie war geöffnet, und Parker konnte einen Blick auf die langen Reihen der Fächer werfen. Auf der linken Seite des Vorraums war eine marmorne Empfangstheke, auf deren Vorderseite das Bankenlogo, der rote Tiger im Sprung, eingemeisselt war. Zwei Computerbildschirme standen auf dem Korpus. Auf der rechten Seite des Raums befanden sich schwarze Ledersessel und ein Glastischchen für die Wartenden.

«Cool», sagte Tony, «keiner hier.»

«Und das macht dich nicht misstrauisch, du Schwachkopf?», brüllte Parker ihn an.

«Wieso? Wie meinst du das?»

«Um diese Zeit sollte hier jemand arbeiten. Das heisst, dieser Jemand hat die Schüsse vorhin gehört und sich aus dem Staub gemacht.» Parker ging auf die blonde Bankangestellte zu, die ängstlich zurückwich. «Gibt es irgendwo einen Hinterausgang?»

Barbara Zink schüttelte den Kopf. «Sie … sie konnte nicht flüchten. Sie hätte an uns vorbeikommen müssen.»

«Sie?»

Barbara Zinks Antwort war nur noch ein Flüstern. «Angela Morandi. Sie ist heute morgen für die Schliessfächer zuständig.»

«Tony!», befahl Parker. «Du bleibst hier und bewachst die Geiseln!»

«Okay, Boss.» Er zog seine Draculamaske gerade, scheuchte die ganze Gruppe auf die eine Seite und stellte sich breitbeinig mit gezückter Pistole vor sie hin. «Keinen Mucks, oder ihr seid tot!»

Parker blickte auf die beiden Überwachungskameras, die an den oberen Ecken des Raums montiert und auf die Empfangstheke sowie die Sessel gerichtet waren. Mit zwei gezielten Schüssen schaltete er sie aus. Glas klirrte, Plastik brach, schwarze Splitter fielen zu Boden. Ein elektrischer Draht schnellte aus dem Loch in der Wand und wippte hin und her. Befriedigt über seine Treffsicherheit fegte er aus dem Vorraum.

Auf einem Zwischenboden des Treppenhauses fand er die Toiletten. Er stürzte hinein, öffnete das Damenklo auf der linken Seite, das aus zwei Kabinen bestand, bückte sich und schaute erst unter der einen, dann der anderen Tür durch. Nichts. Er stiess die Türen ganz auf. Da war niemand. Er eilte ins Männerklo und sah, dass eine Kabine verschlossen war. Als er durch den Spalt lugte, entdeckte er keine Schuhe. Doch die Bankangestellte musste hier drin sein. Wahrscheinlich sass sie mit angezogenen Beinen auf der Klobrille. Er lauschte. Ein leises, schnelles Atmen war zu hören, wie von einem gefangenen Tier.

«Angela Morandi!», sagte er. «Komm raus, oder ich schiesse durch die Tür!»

Sie zögerte.

«Ich zähle bis drei, dann drück ich ab! Eins … »

Die Klinke bewegte sich nach unten, und eine pummelige Frau mit dunklem Pferdeschwanz kam verschüchtert aus der Kabine. In der Hand hielt sie einen schwarzen Schirm. Sie zitterte.

«Warst du es, die die Polizei gerufen hat?», fragte Parker.

Die Frau bewegte lautlos ihre blutleeren Lippen.

«Antworte!»

«Sie wussten es schon», gab die andere leise zurück. Sie richtete den Schirm gegen ihn.

Parker schnaubte. «Lass das lächerliche Ding fallen und komm mit!»

Angela Morandi gehorchte. Sie liess den Schirm zu Boden gleiten. Parker schob sie vor sich her und brachte sie in den Vorraum der Schliessfächerhalle. Als sie die Geiseln erblickte, die von Tony in Schach gehalten wurden, murmelte sie: «Oh Gott, Barbara … Reto ….» Sie erblickte Furrers Hand im blutigen Halstuch und wurde kreidebleich.

Parker stiess sie zu den anderen. «Setzt euch nebeneinander auf den Boden. Lehnt euch an die Wand an. Ihr werdet ein paar Stunden hier bleiben, bis wir eine Lösung gefunden haben. Wenn ihr nicht auf dumme Gedanken kommt, geschieht euch nichts. Los, runter mit euch!»

Die Leute setzten sich auf den Teppich. Die Rasta-Frau kreuzte die Beine zum Schneidersitz. Furrer legte die verletzte Hand auf den Oberschenkel. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Die ältere Dame hatte sichtlich Mühe, in die Hocke zu gehen und fragte leise: «Wäre es nicht möglich, dass wir auf den Sesseln Platz nehmen könnten?»

«Ich sagte, auf den Boden!»

Rahmani half ihr, bis auch sie neben den anderen auf dem Teppich sass.

«Und jetzt legt eure Handys vor euch hin!», fuhr Parker fort.

Hagen griff sofort in die Innentasche seines Mantels und deponierte sein iPhone sorgfältig vor seinen Füssen.

«Ein bisschen schneller, verdammt nochmal!»

Die Angestellten Barbara Zink, Angela Morandi und Bashkim Rahmani taten es dem Geschäftsmann nach.

«Meines ist in der Schalterhalle oben», sagte die tamilische Angestellte. «In meiner Handtasche.»

«Wie heisst du?», fauchte Parker. Die Kleine war aussergewöhnlich hübsch, aber Parker verbot sich Gedanken an Ausschweifungen. Er war schliesslich nicht Tony, er hatte sich im Griff.

«Manisha Krishnakumaran.»

«Wenn du mich belügst, Manisha … »

Sie schüttelte vehement den Kopf. «Ich schwöre, es ist –»

Parker betrachtete ihr enges, anthrazitfarbenes Kleid, das keine Taschen aufwies. Ihre Hüften waren perfekt gerundet. Ihre Beine so wohlgeformt, wie man es nur bei mit Photoshop bearbeiteten Models auf Plakatwänden sah. Jedenfalls gab es keinen Zentimeter an ihrem Körper, wo sie ein Mobiltelefon hätte unterbringen können. Er nickte. «In Ordnung.»

Neben ihr sass Reto Furrer wie ein kleiner Junge, der wartet, bis er an die Reihe kommt, und kommentierte jammernd: «Mein Handy habt ihr ja vorhin – »

«Ich weiss!» Parker regte sich über den Typen auf. Ein echter Waschlappen, der zu nichts anderem taugte als zu einer öden Arbeit in einer Bank. Und solche Leute hatten die Macht, Millionen von Franken, Euro oder Dollar zu verwalten. Kein Wunder, ging in der Finanzwelt alles vor die Hunde. Parker wandte sich an die Frau mit dem Köter. «Was ist mit dir?»

Umständlich wühlte sie in ihrer Umhängetasche, auf der ein Cannabisblatt aufgestickt war und darunter die Worte «Free Ganja». Es klimperte und rasselte: Sie nahm eine Dose Red Bull heraus, einen weissen Spielwürfel, eine mit indischen Zeichen verzierte Haschpfeife, dann einen Feldstecher in einem Lederetui.

«Wofür ist der denn? Bist du eine Spannerin?»

«Ich beobachte Vögel», sagte sie.

«Dein Name?»

«Janis. Wie Janis Joplin.»

«Und weiter?»

«Nur Janis.» Sie schluckte, suchte weiter in ihrer Tasche.

Parker ging einen Schritt auf sie zu. «Ich sagte, ich will deinen Nachnamen hören.»

Sie murmelte etwas.

«Lauter!»

«Blocher», sagte sie verschämt.

Tony prustete los, was unter der Maske einen dumpfen Ton verursachte.

Parker brachte ihn mit einer gebieterischen Handbewegung zum Schweigen. «Da gibt’s nichts zu lachen. Es macht die Sache nicht besser, wenn sie mit dem Politiker verwandt ist.»

«Ich bin nicht mit dem verwandt!», gab Janis mit empörtem Blick zurück. «Zum Glück.» Sie hatte ihr Handy gefunden, das in einem rot-grün-gelb gestreiftem Wolltäschchen steckte, und legte es vor sich hin.

Parker stellte sich vor die alte Dame. «Und du?»

«Greta Hollenstein», sagte sie, «pensionierte Sekundarlehrerin.»

«Ich will nicht deinen verdammten Lebenslauf, sondern dein Handy.»

«So was brauch ich nicht», sagte sie und hielt ihm ihre geöffnete Handtasche hin. «Ich wüsste nicht, wie ich so ein Ding bedienen sollte. Ausserdem sehe ich nicht mehr gut. Grosse Schriften kann ich lesen, aber mit meinem Grauen Star würde ich so eine kleine Tastatur – »

«Halt die Klappe.» Parker durchwühlte die Tasche, die mit diversem Krimskrams gefüllt war. Schlüssel, Kugelschreiber, Brillenetui, ein zerknautschtes Päckchen Pfefferminzbonbons, ein Buch und ein riesiges Altweiberportemonnaie, in dem die Münzen klimperten. Er ertastete ein Taschentuch, das etwas feucht war, und zog seine Hand angewidert zurück. Ein Mobiltelefon fand er nicht. «Okay.»

Zuletzt trat er vor Nora Tabani. Er fühlte, wie sein Hass erneut aufflammte, als er in ihre Augen sah. Sie schaute ihn forschend an, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach dem Gesicht, das zu seiner Stimme passte. Sie war intelligent, das spürte er. Sie liess sich von ihrer Angst nicht beherrschen, sondern behielt die Nerven. Wenn von einer der Geiseln Gefahr ausging, dann von ihr, das war ihm klar. Sie würde jede Möglichkeit zur Gegenwehr nutzen. «Rück dein Handy raus!», befahl er.

Nora Tabani hob bedauernd die Schultern. «Ich habe keins.»

«Das hättest du wohl gern! Durchsuch sie, Tony!»

«Aber klar doch», gab sein Kumpel zurück, kniete sich hin und tastete die Tabani ab, die es stoisch über sich ergehen liess. Erst untersuchte er die Aussentaschen ihrer Jacke, dann die Innentaschen, danach die Taschen ihrer Jeans. Er fand einen Schlüsselbund und steckte ihn zurück, ohne ihn genauer anzuschauen. Mit sichtlichem Vergnügen fuhr er ihren Beinen entlang, hob die Hosensäume und kontrollierte Socken und Schuhe. «Sie sagt die Wahrheit, Alter. Sie hat keines. Das heisst … Moment mal, ich hab da was vergessen …» Er rutsche näher zu ihr und fuhr mit den Händen unter ihre Bluse. Als er ihre Brüste begrabschte, sah Parker, wie ihre Hand zuckte, als müsste sie sich beherrschen, Tony keine runterzuknallen. Doch sie tat nichts dergleichen. Sie bedachte Tony mit einem Blick, der Bände sprach, hielt sich aber zurück. Ja, dachte Parker, die Tabani ist nicht zu unterschätzen.

Rahmani starrte entrüstet auf die Szene, als wollte er gleich eingreifen. Barbara Zink wandte ihren Blick ab. Greta Hollenstein schüttelte den Kopf und murmelte: «Wie entwürdigend …»

«Lass es gut sein», sagte Parker zu Tony.

«Warum? Hier hab ich noch nicht nachgeschaut.» Tony fingerte am Reissverschluss von Tabanis Jeans herum.

«Gütiger Gott!», entfuhr es Greta Hollenstein.

«Ich sagte, hör auf!», Parker zog seinen Kumpel am Jackenärmel zurück und stiess ihn zur Seite.

Tony stolperte, rappelte sich wieder hoch. «Ist ja gut, Alter, reg dich nicht so auf.»

Die Tabani schaute erst zu Tony, dann zu ihm hoch. Parker suchte vergeblich ein Anzeichen von Angst in ihrem Gesicht. Mit selbstsicherer Stimme, die ihn rasend machte, meinte sie: «Überzeugt?»

Parker beugte sich ganz nah zu ihr hinunter, starrte sie durch seine Maskenschlitze an und zischte: «Wenn du mich verarschst, Tabani, bist du tot.»

09:18

Noras Herz schlug zum Zerspringen. Der Typ trieb ein Machtspiel mit ihr, aber den Triumph, sie einzuschüchtern, gönnte sie ihm nicht. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und setzte ein Pokerface auf, das ihrem Chamäleon alle Ehre gemacht hätte. Als Parker sich von ihr abwandte, entliess sie die angehaltene Luft so leise sie konnte. Um ein Haar wäre sie aufgeflogen. Sie hatte ihr Mobiltelefon während des Hinabsteigens ins Untergeschoss unauffällig vorn in ihren Hosenbund geschoben. Sie hatte geahnt, dass die Bankräuber den Geiseln jeglichen Kontakt mit der Aussenwelt verunmöglichen würden, indem sie ihnen die Handys wegnahmen. Falls Jan mitgelauscht hatte, wusste er genug. Sie hatte die Verbindung unterbrochen, um Akku zu sparen, doch wegen der Tastatursperre hatte sie es nicht geschafft, das Gerät auszuschalten. Das musste sie dringend nachholen, sobald sich eine Gelegenheit bot. Sonst konnte es passieren, dass es plötzlich läutete. Das Handy drückte in ihren Bauchnabel. Sie konnte kaum fassen, dass Tony es nicht gefunden hatte. Seine Hände waren überall gewesen, nur nicht dort. Sie wusste, der Versuch war riskant gewesen. Doch er war es wert. Die Aktion war den Männern entglitten, das hiess, sie waren noch unberechenbarer. Ihr Stress konnte Menschen das Leben kosten. Wenn Nora schon keine Waffe auf sich trug, wollte sie wenigstens die Möglichkeit zur Kommunikation nach aussen haben.

Die Interventionseinheit der Polizei würde das Leben Unschuldiger nicht gefährden, sondern ginge auf die Forderungen der Geiselnehmer ein. Zumindest pro forma. Und Forderungen kämen. Parker und Tony konnten die Bank nicht mehr auf dem Weg verlassen, den sie vorgesehen hatten. Solange sie hier unten die Safes leerten, waren Nora und die anderen Gefangenen in relativer Sicherheit. Die entscheidende Phase käme, wenn die Männer abhauen mussten. Um die Chance für eine erfolgreiche Flucht zu erhöhen, nähmen sie wohl eine der Geiseln mit. Nora hoffte, es träfe nicht die alte Dame. Greta Hollenstein schien zwar rüstig zu sein und nicht so leicht zu erschüttern, aber körperlich wäre sie nicht in der Lage, sich zu wehren. Hagen, der deutsche Geschäftsmann, war zwar gross und massig, wirkte jedoch kaum wehrhafter. Janis Blocher war wegen ihres Hundes nicht die optimale Fluchtgeisel. Ausser die Täter entschlossen sich, das Tier zu töten. Reto Furrer war verletzt und würde alles vollbluten, was nicht im Interesse der Bankräuber sein konnte, die sich, ohne Aufsehen zu erregen, davonmachen und vielleicht das Land verlassen wollten. Bashkim Rahmani käme nicht in Frage. Er würde kämpfen. Aus Sicht der Täter wären die Angestellten Barbara Zink, Angela Morandi oder Manisha Krishnakumaran am besten geeignet, ihnen die Flucht zu ermöglichen.

Oder sie, Nora? Sie wünschte fast, die beiden wählten sie. Sie hatte Erfahrung mit Gewalttätern, wusste, womit sie rechnen musste und war physisch in Bestform – schnell, beweglich und dank ihres wöchentlichen Kampfsporttrainings fähig, es auch mit Bewaffneten aufzunehmen, falls deren Aufmerksamkeit für eine Sekunde nachliess.

Nora hatte weiter die Schüsse gezählt. Nachdem Parker im Erdgeschoss mindestens sieben Kugeln verbraucht und hier unten die beiden Videokameras ausgeschaltet hatte, war sein Magazin definitiv verfeuert. Er hatte keinen Leerschuss abgegeben, es hatte nicht geklickt, das hiess, Parker war höchstwahrscheinlich nicht klar, dass sich in seiner Taurus keine Munition mehr befand. Das konnte für einen Überraschungsangriff genügen. Wenn Tony nicht wäre. Er trug die Waffe des Wachmanns allzu locker in der Hand.

Nora beobachtete ihn. Der schlaksige, grosse Typ sammelte alle Handys vom Boden auf und warf sie über die Empfangstheke, wo sie an einen Aktenschrank schepperten und in den weichen Teppich fielen. Dann machte er sich weiter hinten am Koffer zu schaffen. Parker half ihm dabei, ohne seinen Blick von den Geiseln zu lassen. Nora hatte Parkers Augen durch seine Maske gesehen. Dunkel, feurig, voller Wut. Was verband ihn mit ihr? Woher kam sein Hass? Sie zerbrach sich den Kopf, fand aber keine Erklärung.

Sie betrachtete ihre acht Mitgefangenen. Alle sassen dicht aneinandergedrängt an der Wand und schwiegen. Hagen starrte trübselig vor sich hin, Angela Morandi schluchzte lautlos, Rahmanis Blick war auf Nora gerichtet. Er wirkte nicht mehr so abweisend, vielleicht hatten Tonys Grabschereien den jungen Kosovaren überzeugt, dass Nora nicht mit den Bankräubern unter einer Decke steckte.

Noch immer fragte sie sich, wer sie in die Bank bestellt hatte. Vielleicht würde sie es nie erfahren. Vielleicht hatte ihr Auftraggeber im letzten Moment einen Rückzieher gemacht. Und das Ganze stellte sich als unglaublicher Zufall heraus. Seltsam nur, dass sie nicht daran glaubte.

Greta Hollenstein sass neben Nora, die Handtasche in ihrem Schoss. «Martha hat heute Geburtstag», murmelte sie zusammenhangslos.

Nora wusste nicht, ob sie mit sich selber redete oder sie angesprochen hatte, und fragte gedämpft: «Wer ist Martha?»

Die alte Dame drehte den Kopf, und die Andeutung eines Lächelns erschien auf ihrem runzligen Gesicht. «Meine Schwester. Ich wollte Geld abheben, um sie in die ‹Kronenhalle› einzuladen.»

«Das tut mir leid», flüsterte Nora zurück.

«Sie wird achtundsiebzig.»

Tony und Parker liessen es zu, dass sie sich leise unterhielten. Barbara Zink blickte zu Greta Hollenstein herüber, als würden ihre Worte sie beruhigen.

Diese fuhr fort: «Ich bin die Ältere.»

Nora fühlte sich genötigt zu antworten: «Das sieht man Ihnen aber nicht an.»

«Ja, nicht wahr?»

Mit leicht bitterem Unterton sagte Nora: «Ich hätte heute auch ein rundes Jubiläum zu feiern. Den 541. gemeinsamen Arbeitstag mit meinem Partner.»

«Oh», gab die Dame zurück, «die hundertste Primzahl.»

Nora schaute sie entgeistert an, darauf meinte die andere: «Vergessen Sie nicht: Ich war Lehrerin.» Sie streckte Nora die Hand hin. «Übrigens: Ich bin Greta. Ich finde, so eine Situation schweisst zusammen, da sollte man sich nicht mit Förmlichkeiten abgeben.» Nach einer kleinen Pause meinte sie: «Wir müssen uns ja nicht gleich duzen. Aber uns mit Vornamen anzureden, wäre schön.»

Nora schüttelte ihre Hand, stellte sich ebenfalls vor, dann taten es ihr einige gleich.

Zink fuhr über ihre blonde Pagenfrisur und flüsterte: «Barbara. Seit achtzehn Jahren bei der Zurich Credit Bank. Wir haben in einer Krisenübung gelernt, dass solche … Über … Überfälle … leichter zu bewältigen sind, wenn unter den Geiseln Solidarität entsteht.» Ihre Stimme brach, eine Träne rann über ihre Wangen. «Verzeihen Sie bitte.»

«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Barbara, das ist ganz natürlich», sagte der deutsche Geschäftsmann und fügte hinzu: «Hagen, Rainer Hagen. Aus Düsseldorf. Immobilienberater für Stockwerkeigentum im oberen Preissegment.»

«Studentin», sagte Janis. «Erstes Semester. Ethnologie.» Sie streichelte ihrem Hund, der seinen Kopf auf ihre Beinen gelegt hatte, übers Fell: «Das ist Dylan. Dreijährig.»

Bashkim Rahmani sagte: «Heute ist mein erster Arbeitstag.»

«Ich hoffe, es ist nicht dein letzter», antwortete Manisha leise. Dann stockte sie und errötete. «Ich meine nicht … mein Gott, das klingt ja so, als ob ich denke, du würdest heute sterben. Ich wollte nur sagen, in all den Jahren, seit die ZCB gegründet wurde, hat es noch nie einen Bankraub gegeben. Ich hoffe,» sie schaute Rahmani schüchtern an, «dieses Unglück ändert nichts an deinem Entscheid, bei uns zu arbeiten.»

«Auf keinen Fall», sagte Rahmani leise, aber bestimmt. «Es ist mir eine grosse Ehre, die Stelle bekommen zu haben.»

Reto Furrer gab ein leises Stöhnen von sich. Gretas lila Halstuch, das er um seine Hand geschlungen hatte, hatte sich inzwischen in einen nass-roten Lappen verwandelt.

«Schmerzen?», fragte Angela Morandi.

Furrer nickte.

Unterdessen hatte Tony den Koffer auf die Theke gelegt. Er nahm einen Schlüssel raus und ging damit in die angrenzende Halle mit den Schliessfächern. Man hörte ihn hantieren. Metall schepperte, ein Scharnier quietschte, eine schwere Lade knallte auf einen Tisch. Ein Deckel wurde angehoben.

Dann rief Tony: «Heilige Scheisse, Alter, sieh dir das an! Und diese Bankzicke hat uns gesagt, hier sind nur Dokumente!»

Parker ging ein paar Schritte in seine Richtung.

In diesem Moment vibrierte es an Noras Bauchnabel.

Verdammt!

Reflexartig griff sie nach ihrem Handy, doch die ersten Worte der Nationalhymne dudelten bereits durch den Raum. «Trittst im Morgenrot daher …» So unpassend wie hier war der Klingelton noch nie gewesen. So schnell sie konnte, schaltete sie das Mobiltelefon aus.

Greta starrte sie an.

Rahmani riss die Augen auf.

Parker schnellte herum und preschte auf die Geiseln zu. Ein Schweisstropfen fiel von seiner Maske auf den Boden. «Wer war das?»

Jan sass am Computer und hackte sich in die Baupläne der Zurich Credit Bank. Das hiess, Hacken konnte man es eigentlich nicht nennen. Noch nicht. Noch befand er sich auf öffentlichen Webseiten.

Bis vor kurzem waren die Gesprächsfetzen der Bankräuber und Geiseln aus dem Lautsprecher seines iPhones gedrungen. Zwar mit störenden Nebengeräuschen, aber einigermassen verständlich. Die Gruppe hatte sich auf den Weg zum Untergeschoss gemacht, das hatte er begriffen. Plötzlich hatte es geraschelt, als ob Nora ihr Handy an einen anderen Ort verschoben hätte, dann war die Verbindung abgebrochen. Um den Kontakt mit Nora wiederherzustellen, hatte Jan sein iPhone geschüttelt – eine völlig untypische Handlung für ihn, die wohl nur seinem Stress zuzuschreiben war. Natürlich kamen keine weiteren Geräusche aus dem Gerät. Jan hatte keine Ahnung, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.

Er legte das Mobiltelefon zur Seite und wandte sich wieder dem Computer zu. In Windeseile klickte er sich durchs Internet. Er fand die Konstruktionsvorlagen eines Architekturbüros, das vor zwölf Jahren grössere Renovationen am Gebäude der ZCB vorgenommen hatte, auf einer zwar schwer zu entdeckenden, aber noch immer legal zugänglichen Seite. Das Eindringen in die verschlüsselten Ordner entsprach dann nicht mehr ganz dem Surfverhalten eines Normalusers. Doch Jan musste dringend erfahren, ob sich Noras Lage verändert hatte, wenn er ihr helfen wollte. Seine technischen Fähigkeiten hatte er noch nie eigennützig angewandt.

Er klickte auf die Datei «grundriss_zcb_1.pdf» und öffnete das Dokument. Es zeigte die Pläne des Erdgeschosses der Bank, die Schalter und Fenster, links die Tür zum Treppenhaus. Er öffnete «grundriss_zcb_2.pdf» und fand die Bauskizzen der unterirdischen Etage: den Vorraum und die Haupthalle mit den Schliessfächern, dazu am linken Rand den Treppenaufgang und auf halber Höhe Toiletten in einem Zwischenstockwerk. Die Strom- und Wasserleitungen waren gelb beziehungsweise blau markiert, tragende Elemente hervorgehoben. Die grau schraffierten Flächen konnte Jan zuerst nicht einordnen. Es schienen schmale Hohlräume zu sein, die sich aus verschiedenen Ecken den Wänden entlangzogen und an der Hausrückseite ineinandermündeten. In den Toilettenräumen waren mehrere dieser Bereiche eingezeichnet, zwei davon direkt über den WC-Kabinen. Von der Aussenmauer führten die Bahnen zwischen zwei Isolationsschichten nach oben. Jan kontrollierte die Pläne der oberen Stockwerke, wo die Büros der Angestellten untergebracht waren, und fand überall dasselbe System. Das mussten die Lüftungsschächte sein. Sie hatten einen Durchmesser von etwa siebzig Zentimetern und schienen auf dem Gebäudedach zu enden.

Würde das Nora etwas nützen?

Er wusste es nicht, doch er druckte die Pläne aus. Dann steckte er sein iPhone-Kabel in den USB-Anschluss des Laptops, verband das Handy damit und kopierte die beiden PDFs auf sein iPhone. Noras vorsintflutliches Mobiltelefon hatte weder Internetzugang, noch konnte es PDFs öffnen, war aber immerhin imstande, Fotos zu empfangen. So wandelte Jan die Dateien auf seinem Handy in JPEGs um und schickte sie als MMS an Nora. Er schrieb ein paar erklärende Worte dazu, damit Nora die verschiedenen Farben auf den Plänen deuten konnte. Dummerweise würde sie die Bilder auf ihrem mickrigen Display nicht vergrössern können und bräuchte Sperberaugen, um aus den kleinen Skizzen schlau zu werden.

Was er hier tat, half ihr vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Er fühlte sich elend. Hatte er irgendetwas übersehen?

Er hatte die Polizei verständigt. Dass diese ihn in ihre Aktionen nicht miteinbeziehen würde, war klar. Er war Detektiv, rechtlich gesehen eine Privatperson. Kreuzte er vor der Bank auf, würden sie ihn vom Platz weisen. Sollte er das Ganze einfach den Behörden überlassen und hoffen, dass die Geiseln bald befreit wären und der Überfall ein unblutiges Ende nähme? Das wäre das Vernünftigste.

Er ging unruhig im Büro auf und ab.

Nein, er konnte einfach nicht warten. Er musste etwas tun.

Vielleicht sollte er Mike unterstützen. Vorausgesetzt, Mike war überhaupt an diesem Fall beteiligt. Jan wusste, dass die Polizei zuerst die Lage vor Ort überblicken und erst dann Hintergrundinformationen suchen würde. Er konnte helfen, indem er Mike die Baupläne gab.

Jan wählte die direkte Kripo-Nummer. Während er dem Rufton lauschte, wurde ihm klar, dass er sich etwas vormachte. Die Polizei brauchte ihn nicht. Sie hatte genügend Leute, die auf Raub, Geiselnahmen und andere Gewaltakte spezialisiert waren. Er hielt es bloss nicht aus, als Statist am Rande dabei zu sein.

«Geh schon ran», murmelte er.

Doch Mike nahm nicht ab.

Jan versuchte es auf seinem Handy und hörte nur die Combox. Eine Sekunde überlegte er sich, eine Nachricht zu hinterlassen. Dann liess er es bleiben.

In diesem Moment klingelte sein iPhone. Er hoffte, es sei Mike.

Doch es war ein Mann von der Polizeizentrale. «Herr Berger? Sie haben uns vorhin angerufen. Stehen Sie noch in Kontakt mit einer der Betroffenen?»

Jan seufzte. «Die Verbindung wurde unterbrochen.» «Welche Informationen haben Sie erhalten?»

«Es sind Schüsse gefallen», sagte Jan.

«Das ist uns bekannt.»

«Die Bankräuber haben Geiseln genommen und sie ins Untergeschoss gebracht.»

«Ich verstehe. Wissen Sie noch mehr?»

«Leider nein.»

«Bitte teilen Sie uns mit, wenn Ihre Kollegin Sie wieder anruft. Fragen Sie nach Kommandant Baumann.»

«In Ordnung.»

Jan ging in die Küche, rastlos und unentschlossen, stützte sich am Spültrog ab und trank den Rest des heute früh zubereiteten Wermuttees. Die herben Wirkstoffe des Getränks würden seinen Magen beruhigen, und ein ruhiger Magen, das wussten schon die alten Römer, half beim Denken. Nora würde ihn auslachen, wenn sie ihn so sähe, und würde das bittere Gebräu eine Beleidigung für den Gaumen nennen. Er durfte sich gar nicht ausmalen, was sie durchmachte. So stark, wie sie sich immer gab, war sie gar nicht. Das hatte er gleich bei ihrer ersten Begegnung gemerkt. Doch er tat ihr den Gefallen, sie für eine Powerfrau zu halten, weil er wusste, wie wichtig das für sie war. Wenn es beispielsweise um ihre Vergangenheit ging, konnte sie erstaunlich wortkarg sein. Nicht, dass sie irgendwelche Leichen im Keller hatte – jedenfalls glaubte er das nicht –, vielmehr fand sie, ihr Innenleben gehe niemanden etwas an. Jahrelang hatte sie damit zu kämpfen gehabt, dass ihr Vater im Dienst erschossen worden war und sein Mörder noch immer frei herumlief. Sie hatte den Menschen verloren, den sie am meisten geliebt hatte; dieser Verlust hatte ihre Beziehung zu anderen Leuten, insbesondere zu Männern, verändert. Jan hatte miterlebt, wie Nora sich in gefühlskalte Typen, Kriminelle oder Lügner verliebt, sich in kurze, heftige Affären gestürzt hatte, nur um sich bald darauf zu schwören, den Rest ihres Lebens als Einsiedlerin zu verbringen. In den letzten Wochen hatten Monika und er sie mehrmals zum Abendessen eingeladen. Anfangs waren sie zu dritt gewesen, dann hatten sie Benny, einen guten Single-Freund, dazu genommen, was Nora mit einem spöttischen «Wollt ihr mich verkuppeln?» quittiert hatte. Die Stimmung bei Tisch war trotz allem unbeschwert gewesen, das Gespräch persönlich und offen, doch beim Verabschieden hatte Jan eine tiefe Traurigkeit in Noras Augen bemerkt. Als Benny gegangen war, schlug Monika vor, bald wieder ein Treffen zu vereinbaren, doch Nora schüttelte den Kopf. «Ist lieb von euch. Aber so dringend habe ich’s nicht nötig. Bin ganz zufrieden allein.»

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