Читать книгу: «Der Blutsfeind», страница 2

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Die andere Wartende, die junge Frau, hatte iPod-Stöpsel in den Ohren und bewegte ihren Kopf mit geschlossenen Augen im Takt der Musik. Sie schien direkt dem Woodstock-Festival entsprungen zu sein, trug einen bodenlangen rostroten Rock mit eingenähten Spiegelchen, die im Morgenlicht glitzerten, und einen orangen Pullover mit psychedelischen Mustern. Sie war von einer Sandelholz-Duftwolke umgeben. In ihre hennagefärbten Haarsträhnen hatte sie weisse Kaurimuscheln geflochten, und an jedem ihrer Finger steckte ein Ring. Sie blickte kurz in Noras Richtung, grinste ihr hanfselig zu, während ihr Hund ausgiebig seine Pfoten leckte. Nora nahm nicht an, dass sie die Auftraggeberin war.

Nun näherte sich eine ältere Dame mit lila Halstuch, die Handtasche mit festem Griff umklammert und leise mit sich selber plaudernd. Sie stellte sich zu den anderen Bankkunden. Als sie zu Nora hinübersah, lächelte sie.

Nora lächelte zurück.

Die Uhr der Fraumünsterkirche schlug neun.

Die Entriegelung klickte, ein Surren war zu hören, und das metallene Schutzgitter glitt hinauf. Als es oben eingerastet war, öffneten sich die zwei Glastüren nach beiden Seiten und gaben den Blick in die Schalterhalle frei, die ganz in schwarzem Marmor gehalten war. Der Geschäftsmann schnippte seine Zigarette auf den Boden, drängte sich an der jungen Hippie-Frau vorbei und sagte auf Hochdeutsch: «Lassen Sie mich mal durch, ich hab’s eilig!» Diese zuckte nachsichtig die Schultern, zog die Ohrstöpsel heraus und verstaute ihren iPod in der Rocktasche.

Die ältere Dame trippelte die Treppe hinauf und ermunterte sich mit einem fröhlichen: «Rein mit dir, meine Liebe.»

Nora betrat als Letzte die Bank. Der uniformierte Mann der Security, der beim Eingang stand, nickte ihr zu. Unzählige golden eingefasste Deckenleuchten spiegelten sich wie Sterne auf dem Marmorboden. Dieser roch nach Zitrus-Reinigungsmittel und schimmerte an einer Ecke noch feucht. Das Putzpersonal schien seine Arbeit soeben beendet zu haben. An der Rückwand, hinter den Schaltern, prangte das Bankenlogo in imposanter Grösse. Der rote Tiger aus eingelegtem Marmor sah so lebendig aus, als spränge er tatsächlich quer durch die Halle.

Zielstrebig steuerte der Geschäftsmann auf den linken Schalter A zu und wurde vom Angestellten mit «Guten Morgen, Herr Hagen» empfangen. Die Rasta-Frau schlenderte mit ihrem Hund zum mittleren Schalter B, der von einer tamilischen Bankangestellten mit langen, schwarzen Haaren bedient wurde. Die alte Dame stellte sich vor den Schalter C, wo eine spröde wirkende Mittvierzigerin mit blondem Pagenschnitt und ein junger Mann in schickem Anzug sie begrüssten. Wahrscheinlich ein Neuer und seine Vorgesetzte, dachte Nora.

Sie hatte erwartet, dass jemand sie zu sich winken oder sich sonstwie zu erkennen gäbe. Doch als niemand sie beachtete, setzte sie sich in einen der schwarzen Ledersessel auf der rechten Seite; von dort konnte sie die ganze Schalterhalle überblicken.

«Kommt gar nicht in Frage!», hörte sie Geschäftsmann Hagen ausstossen. «Das wäre ja ein Viertelprozent weniger! Machen Sie mir einen anderen Vorschlag.» Die Stimmen von Hagen und dem Angestellten klangen wieder gedämpfter.

Dann hörte Nora, wie die Rastalockige sagte: «Ich möchte mein Konto auflösen, mein ganzes.»

Die dunkelhaarige Schalterangestellte nickte, warf einen Blick auf den Computer: «Das wären dann 123 Franken.»

«Genau.»

Die Akustik in dem riesigen Raum war so gut, dass Nora nicht anders konnte, als auch noch den Rest mitanzuhören.

«Darf ich fragen», fuhr die Angestellte fort, «ob Sie mit unseren Dienstleistungen nicht zufrieden waren?»

«Doch, schon», gab die Rasta-Frau widerwillig zu. «Obwohl ich Ihre Bank nur gewählt habe, weil Hunde bei Ihnen erlaubt sind. Aber ich will nicht, dass mein Geld weiter in irgendwelche dubiosen Aktien investiert wird, was am Schluss zur Ausbeutung der Dritten Welt, zu Krieg und Waffenhandel führt. Und Hunger.» Sie holte tief Atem und tätschelte den Nacken ihres struppigen Hundes. «Und Armut.»

Nora lehnte sich zurück. Der Wachmann schaute gelangweilt auf die Strasse hinaus. Die Geschäfte an den Schaltern wurden abgewickelt, mehrstimmige Gesprächsfetzen waren zu hören. Nora nahm sich vor, eine halbe Stunde zu warten und dann den Rückzug anzutreten, falls ihr potenzieller Klient sich bis dann nicht gezeigt hatte.

Sie sah sich in der Halle um. Es war ein schönes Gebäude, sorgfältig renoviert, so dass der Charme des alten Baustils erhalten geblieben war; die modernen Materialien sorgten für einen zeitgemässen Eindruck. Auf einigen Chromstahlständern waren Informationsbroschüren ausgelegt. Dickblättrige Pflanzen, so grün, dass Nora nicht wusste, ob sie echt oder künstlich waren, ragten aus den Töpfen, die um die beiden Sitzgruppen standen. An den Wänden hingen mehrere Bilder. Obschon sie von verschiedenen Kunstschaffenden zu stammen schienen, strahlten sie alle eine ähnliche Atmosphäre aus. Es handelte sich bei allen um Naturbilder in Aquarell.

Sonjas Bild befand sich nicht darunter. Noras Mutter hatte während ihrer letzten Ausstellung etliche Bilder verkauft, darunter auch eines an die ZCB, doch anscheinend hing es in einem anderen Raum.

Nora schaute auf die grosse Wanduhr. Es war noch kaum Zeit vergangen, aber Warten machte sie ungeduldig. Konnte es sein, dass ihr Auftraggeber sie längst beobachtete? Vielleicht handelte es sich um eine äusserst heikle Angelegenheit, und wer auch immer die Absicht hegte, sie zu beauftragen, wollte sich vergewissern, dass Nora der Sache gewachsen war. Sicherheitshalber richtete sie sich auf, streckte den Rücken durch und versuchte, kompetent zu wirken.

Wer hatte sie in die Bank beordert? Der Wachmann? Unwahrscheinlich. Nora sah ihm zu, wie er gedankenverloren auf seiner Unterlippe herumkaute. Hagen, der deutsche Geschäftsmann? Der war noch immer in irgendeine Anlageberatung vertieft. Die Rastalockige schien weder das Geld noch das nötige Alter zu haben, um eine Detektivin anzuheuern, und die ältere Dame vermittelte den Eindruck, als käme sie mit ihren Problemen gut alleine zurecht. Gerade legte sie ihre Handtasche auf den Tresen, nahm ihre Geldbörse heraus und schob ein paar Scheine hinein.

Vielleicht hatte jemand vom Bankpersonal Nora hierher bestellt, um ihr den Auftrag am Schalter zu übermitteln. Aber an welchem? A, B oder C? Der Angestellte links war damit beschäftigt, Hagen zufrieden zu stellen, die tamilische Schalterangestellte in der Mitte war ganz in die Auflösung des 123fränkigen Kontos vertieft, und diejenige am rechten Schalter arbeitete den Neuling ein. Dieser allerdings schaute sich immer wieder um. Er schien alles in sich aufzusaugen, blickte zu Nora, zum Wachmann, zu den Kunden, dann wieder zu seiner Vorgesetzten, die ihm etwas erklärte. Nora schätzte ihn auf kaum zwanzig. Mit seinen dunklen Haaren mochte er Süditaliener oder Spanier sein oder aus dem Balkan stammen. Ob er Schwierigkeiten an seiner neuen Stelle hatte und Noras Hilfe brauchte?

Plötzlich riss er die Augen auf und starrte zum Eingang.

Nora fragte sich, was in ihn gefahren sein mochte. Dann wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen.

Ein Schrei hallte durchs Gebäude.

Nora schnellte herum und bemerkte, wie der Wachmann eine ruckartige Bewegung machte.

Laute Schritte ertönten. Etwas Dunkles prallte gegen die Glastür, jemand fluchte. Zwei schwarz gekleidete Männer stürmten in die Bank. Der eine, ein athletischer Typ mit Rucksack, trug eine Frankenstein-Maske mit blutunterlaufenen Augen. Der andere war dünn und schlaksig, sein Gesicht wurde von einer Dracula-Maske mit spitzen Eckzähnen verdeckt. Das Ganze ging so schnell und wirkte so abstrus, dass Nora nervös herauslachte. Erst dachte sie an Halloween, dann an Filmaufnahmen.

Bis die beiden Männer ihre Pistolen zückten.

Und Nora die 9-Millimeter-Taurus erkannte.

Sie hielt den Atem an. In Fernsehkrimis war dies die Stelle, wo normalerweise geschrien und gekreischt wurde, doch hier herrschte Totenstille. Die Kunden und Angestellten waren erstarrt. Mit grossen Schritten preschten die Maskierten auf den Security-Mann zu. Dieser griff nach seiner Walther P22. Der eine riss sie ihm aus der Hand und schlug sie ihm auf den Kopf. Stöhnend sank der Uniformierte zu Boden. Der Mann mit der Frankensteinmaske schaute zu den Überwachungskameras hoch, feuerte mehrere Schüsse ab, bis alle zerstört waren. Dann lief er zur alten Dame und hielt ihr die Pistole an den Kopf. «Keiner bewegt sich! Sonst blas ich der Lady das Hirn aus dem Schädel! Kapiert?» Die Worte klangen gedämpft unter der Maske hervor.

Die Frau wurde bleich.

Die Rastalockige drückte ihren Hund an sich, der den Schwanz eingezogen hatte und sich hinter seinem Frauchen versteckte.

Frankenstein herrschte sie an: «Kapiert?»

Sie nickte.

«Du auch!» Er starrte Nora an. Nora sah durch die Maskenschlitze seine dunklen Augen. «Komm her! Sofort! Ich will euch alle im Blick haben! Stellt euch in eine Gruppe!» Er deutete mit der Pistole auf einen Punkt vor sich. Die Leute versammelten sich ängstlich. Nora schloss sich ihnen an.

«Okay. Keinem passiert was, wenn ihr ruhig bleibt. Das ist eine Sache von zwei Minuten.» Er überliess seinem Kumpanen das Bewachen der Gruppe und hechtete zum Schalter C, schwang sich über die Glastrennwand auf die andere Seite des Tresens. «Pfoten weg!», schrie er der blonden Angestellten zu, die anscheinend versucht hatte, den Alarmknopf zu drücken.

Die Frau verharrte reglos, ihr Blick ein einziges Entsetzen.

Nora starrte zum Ausgang.

«Denk gar nicht daran!», fuhr der Dracula-Kerl sie an.

Er scheuchte alle zusammen und befahl: «Legt euch hin!»

Als sie zögerten, schrie er: «Wird’s bald! Auf den Boden mit euch!»

Nora wünschte, sie hätte ihre Smith & Wesson dabei gehabt. Doch heute morgen hatte sie keinen Grund gehabt, die Pistole mitzunehmen. Sie legte sich auf den Bauch. Die anderen taten es ihr nach. Die ältere Dame brauchte etwas länger.

«Und jetzt die Arme auf den Hinterkopf! Na los!»

Die Kunden gehorchten.

Nora warf einen Blick zum Security-Mann. Um ihn hatte sich eine kleine Blutlache gebildet. Seine Augen waren geschlossen, doch er atmete. Dracula hielt seine Waffe in der Hand und steckte die des Sicherheitsmannes in seinen Hosenbund. Er stellte sich vor die Leute und zielte abwechselnd auf den einen, dann den anderen.

Währenddessen forderte Frankenstein alle drei Schalterangestellten auf, ihre Notenschubladen zu öffnen. Er nahm aus seinem Rucksack eine Sporttasche, entfaltete sie und zog den Reissverschluss auf. Der junge Angestellte von Schalter C nutzte die Gelegenheit, bewegte sich unauffällig zur Seite, als suche er den Notknopf.

«Du da!», fauchte Frankenstein. «Wie heisst du?»

Der andere zuckte zusammen und zog seine Hand zurück. «Bashkim Rahmani.»

Frankenstein drückte ihm die Pistole in die Wange. «Ein Albaner. Willst du den heutigen Tag überleben, Bashkim Rahmani?»

Dieser nickte.

«Dann beweg deinen Arsch zu den anderen und leg dich hin!»

Rahmani schielte auf den Lauf der Pistole, der sich in seine Haut bohrte, verliess den Schalterbereich durch einen Seitendurchgang und ging auf die Mitte der Schalterhalle zu.

«Runter mit dir!», empfing ihn Dracula und wies ihn an, sich neben die Rastalockige zu legen.

Rahmani tat es.

Der Hund winselte. Die Frau versuchte flüsternd, ihn zu beruhigen.

Nora spürte die Kälte des Bodens an ihrer Wange. Sie suchte Blickkontakt, erkannte die Angst in den Augen des Geschäftsmannes, die Empörung der alten Dame, den Trotz des jungen Albaners. Im Moment konnte sie nichts anderes tun, als die Anweisungen der Bankräuber zu befolgen. Es war nicht der Zeitpunkt für tollkühne Aktionen. Die Täter hatten kein Motiv, jemanden zu töten, da niemand ihre Gesichter gesehen hatte. Wenn sie Glück hatten, war das Ganze tatsächlich in zwei Minuten überstanden. Dennoch raste Noras Herz, und ihr Mund war staubtrocken. Sie wagte kaum zu atmen. Ein Gedankte drängte sich ihr auf: Wer war ihr Auftraggeber? Was wollte man von ihr? War dies ein unglaublicher Zufall, oder hatte ihr geplantes Treffen etwas mit diesem Bankraub zu tun?

Der Sicherheitsmann stöhnte und öffnete langsam ein Auge. Unbeholfen tastete er nach seinem Funkgerät. Dracula riss es aus seinem Gürtel und kickte es gegen die Wand, wo es zersplitterte. Der athletische Maskierte stiess die drei Schalterbeamten, nachdem die Geldschubladen offen waren, zur Gruppe und befahl ihnen, sich ebenfalls hinzulegen. Dann riss er ein Geldbündel nach dem anderen aus den Schubladen und stopfte sie in die Sporttasche.

Da griff der Schalter-A-Bankangestellte nach seinem Handy.

Dracula bemerkte es. «Her damit!»

«Entschuldigung», sagte der Banker leise und schob ihm das Mobiltelefon zu. Nora sah, wie er zitterte.

Der Bankräuber nahm es und warf es in die Ecke, in der schon das Funkgerät in seinen Einzelteilen lag. «Hast du Angst?»

«Ja.»

«Das solltest du auch, Mann! Versuch hier nicht, den Helden zu spielen. Nochmal so was und du bist tot. Dein Name?»

Der Angestellte murmelte etwas.

«Ich hab dich nicht verstanden, Mann! Red lauter!»

«Furrer. Reto Furrer.»

«Hast du Kinder?»

«Ja.» Er schaute zu Boden. «Eine Tochter.»

«Soll sie ohne Vater aufwachsen?»

Furrer schwieg.

«Ich hab dich was gefragt.»

Nora litt mit dem Mann, der mit Tränen in den Augen flüsterte: «Nein, sie soll ihren Vater nicht verlieren.»

«Und an wem liegt das?»

«An mir», gab Furrer kläglich zurück.

«Ich seh, du hast kapiert.» Dracula fuchtelte mit der Waffe herum. «Das gilt für euch alle! Eine falsche Bewegung und ihr kriegt eine Kugel ab! Wenn ihr tut, was wir sagen, seid ihr uns in Kürze los.»

Niemand rührte sich.

Nur das Scheppern der Schubladen und das Rascheln der Geldbündel, die der Räuber mit der Frankensteinmaske in die Tasche stopfte, waren zu hören. Nora atmete flach. Sie hatte ihren Kopf auf die linke Seite gelegt und schaute die alte Dame an, die ihren Blick erwiderte. Wache, hellblaue Augen hinter einer feinrandigen Brille. Nora nahm keine Panik in ihrem Gesicht wahr, sondern einen eindrücklichen Lebenswillen. Die Dame würde an dieser Situation nicht zerbrechen.

Nora blickte weiter nach hinten und beobachtete den Bankräuber, der die Kassen leerte. Er bewegte sich geübt und locker. Ein Sportler. Einer, der bestimmt bereits vor diesem Raub kriminell gewesen war. Vielleicht kleinere Sachen. Betrug, Diebstahl, Einbruch. Ganz klar war dies nicht sein erstes Mal. Er war derjenige, der den Coup geplant hatte. Nora hatte keine Ahnung, wie sie darauf kam, aber sie war sich sicher. Frankenstein war das Hirn, Dracula der Ausführende.

Ein unterdrücktes Schluchzen war zu hören. Es kam von Hagen, dem deutschen Geschäftsmann.

«Halt die Schnauze!», brüllte sein Bewacher.

Doch der Mann konnte seine Gefühle nicht mehr zurückhalten und weinte nun lauter.

«Ich hab gesagt, Klappe halten!» Der Maskierte marschierte auf Hagen zu, richtete die Pistole auf ihn und drückte ab.

Der Knall war ohrenbetäubend. Die Kugel traf den Boden eine Handbreit neben dem Geschäftsmann. Dieser zuckte wie von einem Blitz getroffen zusammen und verstummte. Die kommenden Stunden würde er taub auf dem rechten Ohr sein.

«Das nächste Mal ziel ich genauer!», brüllte Dracula.

«Was machst du für einen Scheiss?», schrie Frankenstein von hinten seinen Kumpel an. «Halt die Leute ruhig und reiss dich verdammt noch mal zusammen!»

«Der Typ hat geplärrt wie ein Kind», verteidigte sich Dracula, «so was ertrag ich nicht. Da denk ich mir – »

«Hör auf zu denken und mach deinen Job!», rief Frankenstein und stopfte weiter gebündelte Geldscheine in die Tasche.

Nora schaute zur Uhr. Es waren gerademal drei Minuten verstrichen. Doch bei den Betroffenen würde sich dieses Erlebnis einbrennen, als wären es Jahre gewesen. Nora wusste das. Sie wusste, was traumatische Situationen mit einem Menschen machen konnten. Sie hatte, als sie noch bei der Polizei arbeitete, täglich mit Opfern von Gewalt zu tun gehabt. Viele waren für den Rest ihres Lebens gezeichnet. Doch einige wurden erstaunlicherweise stärker, in ihnen steckte eine Auflehnung gegen die Bedrohung, die sie selbst überraschte.

Der athletische Räuber hatte seine Tasche vollgepackt. Er schwang sich über den Schaltertresen: «Lass uns verschwinden!»

Er lief um die tamilische Bankangestellte, warf einen kurzen Blick auf Nora, stutzte, als sähe er sie zum ersten Mal richtig. Und erstarrte. Durch den Schlitz der Maske bohrte sich sein Blick in den ihren. Langsam kam er auf sie zu, bewegte sich geschmeidig wie ein Panther.

Noras Puls raste. Das maskierte Gesicht kam näher. Sie roch sein Aftershave, sah das Aufblitzen in seinen Augen.

Ganz leise, fast kindlich erstaunt, und gleichzeitig eiskalt, flüsterte er: «Nora Tabani?»

09:07

Bashkim schaute zu seiner Vorgesetzten. Ihre Gesichter lagen nur eine Armlänge voneinander entfernt auf dem kalten Marmor. Barbara Zinks Brille war verrutscht, ihr Lippenstift verschmiert. Er hörte ihren flatternden Atem, der nach Pfefferminze roch.

Hatte sie gesehen, was er getan hatte? Ihr Blick wanderte unruhig hin und her. Dann, als sie sicher war, nicht beobachtet zu werden, nickte sie ihm mit der Andeutung eines Lächelns zu. Ja, sie wusste es! Sie hiess es gut. Darüber war er froh. Einen Moment lang hatte er befürchtet, er hätte schon am ersten Arbeitstag das Falsche gemacht und sie alle in Gefahr gebracht. Kurz bevor der Kerl mit der Frankensteinmaske ihn nach seinem Namen gefragt hatte, war es Bashkim gelungen, den stillen Alarm unter der Tischplatte zu betätigen. Dieser wurde direkt an die Nummer 117 geleitet. In wenigen Minuten würde es hier von Polizisten wimmeln, und dieser Albtraum hätte ein Ende. Die Täter würden gefasst und ins Gefängnis gesteckt, und er, Bashkim, wäre der Held des Tages. Frau Zink würde ihn immer mit Respekt behandeln, wissend, dass sie ihm ihr Leben verdankte, morgen erschiene vielleicht ein Artikel über den «mutigen, jungen Kosovo-Albaner» im «Tages-Anzeiger», womöglich käme sogar das Fernsehen. Mam wäre stolz auf ihn, und Pap würde beiläufig sagen, von seinem Jungen habe er nichts anderes erwartet. Das war das Schönste für Bashkim, die Selbstverständlichkeit, mit der sein Vater immer das Beste von ihm annahm. Nie hatte es geheissen «das kannst du nicht» oder «dazu taugst du nicht». Bashkim war mit dem Gefühl aufgewachsen, in ihm stecke Grosses, und wenn er sich anstrenge, könne er fast alles erreichen.

Nicht, dass es Bashkim darum gegangen war, als er den Alarm betätigt hatte, nein, daran hatte er keine Sekunde lang gedacht. Er wollte nur helfen. Die Vorstellung, Zeuge eines Blutbades zu werden, fand er unerträglich. Denn dass die Männer nicht zögern würden, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, war ihm klar. Besonders der als Dracula Maskierte war schnell reizbar und konnte sein Temperament kaum im Zaum halten.

Gerade gab er der Rastalockigen einen Tritt ins Bein, weil sie die Arme vom Kopf genommen hatte. Bashkim sah es aus dem Augenwinkel.

«Bist du lebensmüde, Schlampe?», fauchte Dracula. «Ich hab euch erklärt, wenn ihr tut, was wir sagen, passiert euch nichts. Pfoten über den Kopf, aber dalli!»

Sie stöhnte. «Ich kann nicht. Ich habe meine Schulter kürzlich ausgerenkt.»

Dracula kniete zu ihr hinunter und hielt ihr seine Pistole vors Auge. «Und ob du das kannst!»

Zitternd legte sie ihre Arme auf den Hinterkopf, lag völlig verspannt da. Der Hund, der neben ihr am Boden sass, drückte seine Schnauze in ihre Seite.

«So ist gut.» Dracula verpasste ihr nochmals einen Tritt und kontrollierte die anderen, die sich alle mucksmäuschenstill verhielten.

Bashkim sah, wie der Mann mit der Frankensteinmaske vor der Frau stehen blieb, die er vorhin mit Nora Tabani angesprochen hatte. Wieso kannte er sie? War sie ebenfalls eine Kriminelle? Konnte sein. Der misstrauische Blick, die Wachsamkeit. Und die schwarze Lederjacke, die sie trug. Sah aus wie die von Keira Knightley im Film «Domino», in dem sie eine Kopfgeldjägerin spielte. Bashkim beobachtete die Tabani genau.

Thomas Baumann hatte in der Zentrale der Stadtpolizei Uraniastrasse eigentlich nichts zu suchen. Als Kommandant der Interventionseinheit «Skorpion» war er für die risikoreichen Situationen mit hohem Gewaltpotenzial wie Banküberfälle, Geiselnahmen oder Terroranschläge zuständig. Seine sechzig Grenadiere hatten alle eine harte Spezialausbildung absolviert und identifizierten sich hundertprozentig mit ihrer Aufgabe. In ihrem Besprechungsraum hielten sie sogar einen Skorpion der Gattung «Centruroides exilicauda» in einem Terrarium. Giftig, angriffig und furchtlos – eine ständige Erinnerung an die Eigenschaften, die diese Männer brauchten, um ihren Job zu tun.

Da Baumann in der Nähe zu tun hatte, wollte er die Mittschnitte des letzten Einsatzes – der Operation «Rammbock» – gleich selber holen. Es ging um einen Bijouterieüberfall an der Bahnhofstrasse, bei dem es dreisten Tätern trotz der neuen Sicherheitsvorkehrungen einmal mehr gelungen war, ihr Fahrzeug als Einbruchwerkzeug zu benutzen. Mit ihrem Auto hatten sie die Schaufenster zertrümmert, hatten Uhren, Juwelen und Schmuck im Wert von mehreren Hunderttausend Franken erbeutet und waren innerhalb kürzester Zeit verschwunden. Noch fehlte jede Spur von ihnen. Ein anonymer Anrufer hatte die Polizei informiert, dabei hatte es Ungereimtheiten gegeben, denen Baumann nachgehen wollte. Die Zeitangabe der Zentrale, die den Anruf entgegengenommen hatte, stimmte nicht mit derjenigen seiner eigenen Protokollführer überein. Es handelte sich zwar nur um wenige Minuten, doch die konnten für die Ermittlung entscheidend sein.

Baumann betrat die Zentrale. Reger Betrieb herrschte. Mehrere Telefone läuteten, der Drucker spuckte gerade eine Serie von Blättern aus – Detailkarten von Zürcher Stadtteilen, wie Baumann erkennen konnte – und der City Screen an der Wand blinkte rot.

Auf Linie 1 versuchte eine junge Polizistin, die er nicht kannte, einen Anrufer zu beruhigen, der ein Ufo über dem Zürcher Oberland gesichtet haben wollte. Sie verdrehte die Augen, als spräche sie nicht zum ersten Mal mit ihm, erklärte, dass es sich um Kleinflugzeuge bei einer Militärübung handle, doch der andere schien nicht überzeugt zu sein. Auf Linie 2 hörte Beat Moser aufmerksam zu, nickte mehrmals, machte sich Notizen und legte dann auf.

Er sah zu Thomas hoch und stöhnte. «Du glaubst gar nicht, mit was für schrägen Vögeln wir es täglich zu tun haben.»

Baumann fuhr sich über seine kurzgeschorenen Haare. «Kann ich mir vorstellen. Hör mal, ich suche die Mitschnitte der Operation ‹Rammbock›, sind die noch bei dir?»

«Klar.» Moser zog die unterste Schublade auf und überreichte ihm ein Klarsichtmäppchen mit Akten und CDs.

«Danke.» Baumann zeigte auf den riesigen Bildschirm an der Wand mit dem digitalen Zürcher Stadtplan. Zwischen Paradeplatz und Fraumünsterpost blinkte ein rotes Lämpchen in schnellem Rhythmus, begleitet von einem leisen, hohen Alarmton. «Hast du das kontrolliert?»

«Leuchtet erst seit ein paar Sekunden.» Moser ging zum City Screen und schaute sich an, welche der Institutionen, die einen direkten Draht zur 117 hatten, betroffen war. «Der Hauptsitz der ZCB. Wird wohl wieder ein Fehlalarm sein. Du weisst ja, dass 99 Prozent der eingehenden Alarme – »

«Ich weiss. Die Angestellten, die Putzfrau, der Techniker. Irgendwer kommt an den Notknopf, und ihr habt zu tun. Beklag dich nicht. Anderswo haben sie keine Arbeit.» Er dachte an seinen Aufenthalt in Südafrika im letzten Jahr. Für einen interkontinentalen Austausch war er zusammen mit zehn seiner Grenadiere nach Johannesburg gereist, um dort einer neu gegründeten Polizeieinheit Aufbauhilfe zu leisten. Diese hatte ihm die ärmsten Viertel gezeigt. Er hatte erlebt, was es hiess, wenn Tausende erwerbslos waren, die Gewalt überhandnahm und niemand da war, um sie zu stoppen.

«Ich beklag mich ja gar nicht», widersprach Moser. «Ich sag nur, das wäre der sechste Fehlalarm heute. Und es ist erst kurz nach neun. Zwei Banken, drei Postfilialen, eine Versicherung … ach, was soll’s. Wahrscheinlich ist Vollmond.» Er ging zurück zu seinem Arbeitstisch, rief die Bankenliste im Computer auf und scrollte durchs Alphabet, bis er bei der Zurich Credit Bank angelangt war. Da stand die Telefonnummer der Bank. Daneben der Sicherheitscode, den einer der Angestellten der Polizei mitteilen musste, damit diese wusste, dass es sich nicht um einen Ernstfall handelte. Baumann kannte den Code auswendig. 7 – 7 – 3 – 2. Meldete sich jemand mit der falschen Zahlenkombination oder nahm niemand ab, rückte die Polizei sofort aus.

Moser hob den Hörer und wählte die Nummer. Er trommelte mit den Fingern auf seinen Schreibtisch. «Nun komm schon», murmelte er.

Baumann hatte eigentlich gleich wieder an seine Arbeit zurückkehren wollen. Doch aus irgendeinem Grund blieb er stehen. Er ahnte, dass es mit der Auswertung der Mitschnitte der Operation «Rammbock» in nächster Zeit nichts würde. Sein Gefühl trog ihn selten.

Moser war ruhig geworden. Er runzelte die Stirn, wartete, sah Baumann an. «Da geht keiner ran.»

09:08

Das Telefon von Schalter A klingelte. Niemand nahm es ab. Nachdem es zwölfmal durch die Bankhalle geschrillt hatte, verstummte der Ton.

Parkers Blick war unverwandt auf Nora gerichtet. Nora versuchte, den Maskierten einzuordnen. Seine Augen waren dunkel, doch die Aussparungen der Maske waren zu klein, als dass Nora seine Gesichtszüge hätte erkennen können. Sie hatte keine Ahnung, wer er war. Auch seine Stimme kam ihr nicht vertraut vor. Aber das hatte nichts zu bedeuten. Sie hatte einst Dutzende von Tätern hinter Gitter gebracht, an deren Stimmen sie sich nicht mehr erinnern konnte. War es einer von ihnen? Hatte er sie in die Bank bestellt?

Nein, das war absurd, wieso sollte er das tun?

Nora war verwirrt. Endlich fragte sie: «Kennen wir uns?»

Der andere kniff seine Augen zu dünnen Schlitzen zusammen.

«Was ist, Alter?», rief Dracula von hinten. «Hauen wir jetzt ab oder nicht?»

«Aber sicher», gab der andere zurück, noch immer auf Nora hinunterschauend.

«Komm schon, Parker! Lass uns keine Zeit ver – »

«Keine Namen, du Idiot!» Frankenstein löste seinen Blick von Nora und stieg wütend über die am Boden Liegenden.

Nora nutzte die Gelegenheit. In Sekundenschnelle griff sie nach ihrem Handy in der Jackentasche. Um die Nummer 117 zu wählen, reichte es nicht, sie schaffte es nur, die Kurzwahlnummer 1 zu drücken, und steckte das Handy sofort zurück. Unter der 1 war Jans iPhone gespeichert. Er sollte mithören. Er würde verstehen und die Polizei verständigen.

«Wen kümmern unsere Namen!», spottete Dracula. «In einer Stunde sind wir schon aus dem Land! He, Leute! Der da ist Parker, ich bin Tony, und die Bullen können uns mal!»

«Halt die Fresse, Affenhirn!» Parker knallte ihm eine ins Gesicht.

Tonys Maske verrutschte, er richtete sie wieder gerade, murrte etwas.

«Ich wusste, es war ein Fehler, die Sache mit dir durchzuziehen», zischte Parker.

«Ist ja gut. Können wir endlich gehen? Wie viel Kohle hast du überhaupt zusammen?»

«Genug.» Parker eilte mit der gefüllten Sporttasche Richtung Ausgang.

«Wie viel? Nun sag schon!» Tony riss die Tasche an sich. Er öffnete sie, wühlte darin, schnappte sich ein paar Geldbündel und hielt sie Parker unter die Nase. «Ist das alles? Du hast gesagt, hier sind Millionen zu holen! Das sind höchstens Hunderttausend.»

«Es reicht für uns beide. Los, weg hier!»

«Das war nicht die Abmachung!», stiess Tony aus. «Mit diesen läppischen paar Kröten wirst du vielleicht glücklich. Ich hab was Besseres vor.» Er lief auf Furrer, den eingeschüchtert dreinblickenden Banker, zu. «Du da! Ich will den Schlüssel zum Untergeschoss!»

«Den – was? Ich verstehe nicht …» Furrer sah sich hilfesuchend um.

«Die Schliessfächer, Mann! Da liegt Schmuck und Gold in den – »

«Hör auf, Tony!», schrie Parker. «Wir hauen ab, aber sofort! Meinst du, die Bullen lassen uns in aller Ruhe die verdammten Goldbarren einpacken?»

«Wo siehst du denn einen Bullen? Keiner weiss, dass wir hier sind.»

«Das kann sich jeden Moment ändern. Zwei Minuten, nicht länger, das war der Plan.»

Reto Furrer räusperte sich. «Wenn ich etwas sagen dürfte …»

«Halt die Schnauze!», fauchte Parker.

«Lass ihn doch reden!» Tony beugte sich zum Bankangestellten hinunter. «Was möchtest du uns sagen, Milchgesicht?»

«Ich … unser Schlüssel nützt Ihnen nichts. Es braucht für jedes Fach jeweils einen der Bank und denjenigen des Schliessfachmieters.»

«Na, siehst du.» Parker lief am blutenden Wachmann vorbei auf die Glastür zu.

«Bleib stehen!» Tony richtete seine Waffe auf Parker. «Jetzt machen wir einmal, was ich sage! Ich glaube dem Käsegesicht nämlich nicht. Die können die Schliessfächer bestimmt öffnen.»

Furrer zuckte zusammen.

Parker drehte sich um. «Du vermasselst alles, du Schwachkopf!»

«Gib mir die Tasche!»

«Spinnst du?»

«Her mit der Tasche, Alter! Ich mein’s ernst! Wir füllen sie mit Gold und Juwelen.»

Parker ging unberührt zum Ausgang.

Tony schoss.

Der Hund bellte.

Parker zog sein Bein mit einem wütenden Schrei zurück. «Hast du den Verstand verloren? Um ein Haar hättest du mir den verdammten Fuss weggepustet!» In der Spitze seines Schuhs klaffte ein Loch. Eine zerfetzte, schwarze Socke kam zum Vorschein, ein bleicher, unverletzter Zeh.

«Sorry, Parker», murmelte Tony und wich ein paar Schritte nach hinten. «Ich wollte dich nicht treffen. Ich dachte nur – »

Parker preschte auf Tony zu und stiess ihm der Faust in die Brust, so dass er zurücktaumelte. «Du bist so ein Arschloch! Sollen wir uns hier streiten, bis die Polizei kommt? Wir sagten, das Ganze habe nur Erfolg, wenn es in kurzer Zeit über die Bühne geht.»

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9783858826473
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