Читать книгу: «Das Kainszeichen», страница 3

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Tillmann hatte es gewusst. Die richtigen Leute kamen erst noch, der Kerl hier von der regionalen Stelle hatte überhaupt nichts zu sagen. Der erlebte gerade zum ersten Mal einen echten Fall, den er so schnell nicht aus den Händen geben wollte. Hoffentlich würde die Polizei bald merken, dass Paul Berthold schuldig war und nicht Carla Manser. Tillmann gab seine Personalien an und sagte: «Nun können Sie mich von mir aus fragen, was Sie wollen.»

Carla sass auf dem Rücksitz des Streifenwagens, die Hände hinter dem Rücken in Handschellen. Kantonspolizist Rolf Lutz fuhr. Neben ihm befand sich sein Kollege. Langsam dämmerte der Morgen. Der Westen lag noch im Dunkeln, von Osten her tauchten die ersten rötlichen Schleier am Himmel auf. Hinter ihnen folgte das zweite Auto mit Berthold. Zum Glück hatten sie sie nicht zusammen in einen Wagen verfrachtet. Aber das gehörte wohl zum Vorgehen. Sie und Berthold könnten sich ja absprechen, ihre Alibis manipulieren oder weitere Ritualmorde planen.

Stop, sagte sie sich. Kein Zynismus. Du hast nichts Falsches getan, es wird sich alles aufklären. Nun erst wurde ihr richtig bewusst, dass ihr Ex-Mann tot war. Das Bild seines blassen Körpers auf dem Fabrikboden liess sie nicht mehr los.

Als sie Mark, einen gutaussehenden Architekten, damals kennengelernt hatte, hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Spontan und unkompliziert waren sie gewesen, er fast zehn Jahre älter als sie, aber viel jünger aussehend. Sie hatten zu schnell geheiratet. Schon bald begannen die Schwierigkeiten. Mark ging fremd. Anfänglich tolerierte sie seine Eskapaden und versuchte, ihn zu verstehen. Doch es wurde immer schlimmer. Sie fingen an, sich zu streiten, sich absichtlich zu verletzen und auf dem Tiefpunkt ihrer Beziehung sogar handgreiflich zu werden. Carla hatte einen Teller nach ihm geworfen, er ihr einen Faustschlag verpasst. Beiden wurde klar, dass ihre Ehe zu Ende war. Da war Eveline gerade mal zweijährig gewesen. Sie liessen sich scheiden. Lange hatte sie nichts mehr von ihm gehört und ihn keine Sekunde vermisst. Ihre gemeinsame Tochter war für sie das Beste, das dieser Ehe entsprungen war.

Siedendheiss überlief es Carla: Jemand musste Eveline informieren, dass sie ihren Vater verloren hatte.

«Was passiert jetzt mit mir?», fragte sie nach vorn.

«Sie kommen ins Propog», knurrte Lutz, als müsste ihr das etwas sagen.

«Was ist das?»

Lutz antwortete nur widerwillig. «Das provisorische Polizeigefängnis. Morgen sehen Sie den Staatsanwalt. Der entscheidet, ob Sie in Untersuchungshaft bleiben.»

Sie rutschte auf dem Sitz herum und beugte sich nach vorn. «Wie lange dauert so eine Untersuchungshaft?»

«Wie soll ich das wissen?», stiess Lutz hervor. «Einige sind nach einem Tag wieder auf freiem Fuss, wenn die Indizien nicht reichen. In Ihrem Fall allerdings …» Er schaute sie eindringlich im Rückspiegel an. «Wenn Sie Glück haben, werden Sie nach drei Monaten aus der U-Haft entlassen.»

«Drei Monate!», stiess sie aus. In Sekundenschnelle rasten Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei: im Stich gelassene Patienten, enttäuschte Kolleginnen, eine bekümmerte Tochter.

«Und danach», fuhr Lutz ungerührt fort, «werden Sie eine sehr lange Zeit im Frauengefängnis verbringen. Ich tippe auf lebenslänglich.»

«Was?», schrie sie. «Ich habe doch gar nichts getan!»

«Das sagen alle. Aber Sie sind so was von schuldig: Blutige Tatwaffe in der Hosentasche, blutverschmierte Hände und dann das Opfer, Ihr Ex-Mann. Selten jemanden abtransportiert, der verdächtiger daherkam. Doch das ist nicht meine Sache. Erzählen Sie Ihr Unschuldsmärchen dem Staatsanwalt, und lassen Sie mich in Ruhe.» Er konzentrierte sich wieder aufs Fahren, sein Kollege warf ihm einen Seitenblick zu und murmelte etwas, das sie nicht verstand.

Carla war erschüttert. Die sprachen hier von Monaten. Oder Jahren. So weit durfte es niemals kommen! Der Staatsanwalt musste einsehen, dass sie nichts verbrochen hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können, Bertholds Aufforderung zu folgen und zur Fabrik zu fahren! Das Gebäude zu betreten. Das Messer an sich zu nehmen.

Doch wann hätte sie aussteigen sollen? Hätte sie Berthold nach dem Anruf einfach sich selber überlassen sollen, damit er sich umbrachte? Hätte sie im Auto bleiben sollen, als er aus dem Dunkeln auftauchte? Das hatte sie versucht, aber er war schneller gewesen. Hätte sie ihm seine Waffe lassen sollen? Damit er ihr das Messer in den Rücken rammte? Nein, sie wusste beim besten Willen nicht, wie sie sich anders hätte verhalten können. Das Ganze war eine Aneinanderreihung unglücklicher Umstände. Wer konnte ihr nun helfen?

«Bekomme ich einen Anwalt?», fragte sie.

«Ich habe Ihnen Ihre Rechte bereits erläutert», brummte Lutz.

«Tut mir leid, ich war zu durcheinander, ich habe nicht alles gehört.»

«Ich sagte, wir stellen Ihnen einen Pflichtverteidiger zur Verfügung, wenn Sie keinen eigenen Anwalt haben.»

«Danke.» Carla hatte keinen. Nachdem ihre damalige Scheidungsanwältin in den Ruhestand getreten war, war Carla nie mehr in eine Situation geraten, in der sie juristischen Beistand nötig gehabt hätte. Von Pflichtverteidigern wusste sie nichts. Erledigten die ihre Arbeit kompetent? Wen kannte sie sonst noch, der so einer Lage gewachsen war?

«Schon gut», lenkte Lutz ein.

Carla merkte ihm an, dass er seinen schroffen Ton bedauerte. Tatsächlich sagte er aus heiterem Himmel: «Nächste Woche werde ich pensioniert. Ich bin müde vom ewig Gleichen.» Dann fragte er zusammenhangslos: «Sind Sie eigentlich mit dem verschollenen Umweltaktivisten verwandt?»

«Mit Bruno Manser? Nein, aber das werde ich immer wieder gefragt.»

Sie fuhren an Zollikon vorbei und näherten sich dem Bahnhof Tiefenbrunnen. Vereinzelt kamen ihnen Autos auf der Gegenfahrbahn entgegen. Es wurde heller. Auf einmal wusste Carla, an wen sie sich wenden könnte: an Nora Tabani. Carla hatte die junge Frau, deren Vater tragisch ums Leben gekommen war, eine Weile lang psychologisch beraten. In ihrer ehemaligen Gemeinschaftspraxis am Kreuzplatz, wo sie einen Tag pro Woche gearbeitet hatte. Nora Tabani war voller Wut und Rachegefühle gewesen. Statt sich mit ihrer Trauer auseinanderzusetzen, sprach sie immer davon, den Mörder zur Strecke zu bringen. Sie quittierte ihren Job als Fotografin, liess sich zur Polizistin ausbilden und wurde später Privatdetektivin.

Nachdem sie die Beratungen offiziell abgeschlossen hatten, waren sie sich einige Male über den Weg gelaufen und hatten zusammen etwas getrunken. Carla hatte ihr das Du angeboten. Nora hatte ihr von schwierigen Fällen erzählt, die sie mit ihrem Partner gelöst hatte. Carla war beeindruckt gewesen, hatte zum Spass gesagt, wenn sie einmal einen Mörder jagen müsse, würde sie sich an Nora wenden. Sie hatten beide gelacht. Im «Odeon» am Limmatquai, mit einem Prosecco vor sich.

Und jetzt war es so weit: Carla hatte vor, einen Mörder zu jagen. Das heisst, jemand anders musste das für sie tun. Nora. Wenn die Polizei Carla für eine Mittäterin oder womöglich die Drahtzieherin hielt, musste eine Detektivin ihre Unschuld beweisen. So schnell wie möglich. Jeder Tag in einer Gefängniszelle war einer zu viel.

Bei der Festnahme in der Fabrik hatten die Beamten ihr das Messer abgenommen, sie aber nicht abgetastet. Sonst hätten sie das Handy gefunden. Es steckte in der anderen Hosentasche, hinten links. Später würde man es ihr bestimmt abnehmen. Das bedeutete, sie musste sofort handeln.

Der Streifenwagen erreichte die Stadtgrenze. Lutz hielt vor einer roten Ampel.

Carla wand sich unauffällig, versuchte, mit den aneinandergepressten Händen in ihre Jeans zu greifen. Es war nicht einfach, aber sie schaffte es. Sie hielt ihren Kopf gerade, starrte auf die Fahrbahn. Sie zog das Mobiltelefon hervor. Es lag seitenverkehrt in ihren Fingern. Sie drehte es und befühlte die Konturen der Tasten. Die 5 hatte eine kleine Erhöhung, daran orientierte sie sich. Sie musste die Nachricht verschicken, ohne einen Blick auf das Display werfen zu können. Wäre sie vierzig Jahre jünger gewesen, hätte ihr das vermutlich keine Probleme verursacht. Jugendliche konnten in atemberaubendem Tempo SMS versenden. Carla brauchte normalerweise beide Hände dafür und stellte sich wie ein Holzfäller beim Seidenspinnen an.

Sie rief sich die Menüführung ihres Geräts in Erinnerung. Fuhr mit den Fingerspitzen über die Tasten. Drückte. Zuerst das Hauptprogramm. Klick. In der Mitte befand sich das Brief-Symbol. Klick. Dann meinte sie sich zu entsinnen, dass sie die Wahl hatte zwischen SMS, MMS und E-Mail. Sie war ziemlich sicher, dass SMS sich zuoberst auf der Liste befand. Klick.

Lutz hustete. Carla erschrak. Der Wagen fuhr auf der Bellerivestrasse. Sie näherten sich der Innenstadt.

«Nachricht verfassen» kam als Nächstes. Klick. Nun tauchte wohl das leere Display auf. Glaubte sie jedenfalls. Nur nicht zu viel überlegen. Einfach ganz locker die Tasten betätigen. Wie die Jugendlichen.

Lutz hielt erneut vor einer roten Ampel, klopfte unruhig aufs Lenkrad. Dann wechselte er ein paar Worte mit seinem Kollegen. Der warf einen kurzen Blick nach hinten. Carla lächelte. Er schaute wieder nach vorn.

Wo war wohl dieses Propog? Blieb ihr noch genügend Zeit, die Nachricht zu übermitteln?

Carla schrieb, so schnell sie konnte, hoffte, dass die Worte einen Sinn ergaben. Sie drückte auf «Weiter». Dann musste sie das Adressbuch finden. Klick. Klick. Sie kannte drei Personen, deren Namen mit «N» begannen: Nick, Nora und Norbert. Nora war also die zweite. Oder die dritte? Hatte sie Nicoles Nummer letzthin gelöscht oder es nur vorgehabt? Wenn das SMS bei der ehemaligen Nachhilfelehrerin ihrer Tochter landete, wäre das mehr als peinlich. Carla hatte keine Ahnung, ob sie richtig lag, doch sie entschied sich für den zweiten Namen der Liste – falls sie sich nicht schon längst in den Tiefen des Handymenüs verirrt hatte. Vielleicht hatte sie soeben die Fotosammlung aufgerufen, ihre klassischen Musikstücke gelöscht oder den Wecker gestellt.

Lutz erreichte das Bellevue, nahm den Weg über die Quaibrücke Richtung Bürkliplatz.

Carla drückte auf «Senden» und schickte die Nachricht ab. Sie wollte das Handy zurück in die Tasche stecken, da fiel es ihr hinunter und landete auf dem Teppich.

«Was war das?», bellte Lutz.

«Nichts», sagte sie.

Sein Kollege drehte sich um, schaute nach unten und rief: «Die hat ein Handy! Wieso wurde es ihr nicht abgenommen?»

«Was fragst du mich?», gab Lutz zurück. «Das wäre deine Aufgabe gewesen!»

Der andere beugte sich über die Lehne nach hinten und langte hinunter. Erst erreichte er den Boden nicht, seine Finger tasteten auf dem Teppich herum, dann fanden sie das Mobiltelefon. Er hob es auf, murmelte «verdammt noch mal!» und steckte es ein.

Kurz darauf trafen sie beim Kasernenareal ein. Dicht gefolgt vom zweiten Streifenwagen, in dem Berthold mit wutverzerrtem Gesicht sass. Lutz zog Carla aus dem Auto und packte sie an den Oberarmen. Er führte sie zum Gebäude. Sie warf einen Blick zurück und sah, wie die ersten Sonnenstrahlen dieses Tages einen rosa Schimmer über die Stadt legten. Dann schloss sich die Tür hinter ihr. Es klang, als wäre es für immer.

Nora schreckte hoch, weil sie ein Piepsen vernommen hatte.

«Gregor?», murmelte sie.

Sie war völlig konfus. Wo war sie? Sie setzte sich auf, merkte, dass sie noch immer ihre Kleider und Schuhe trug und auf dem unbequemen Klappbett in ihrem Büro eingenickt war. Es war hell geworden, doch Trams und Autos hörte sie noch keine. Was war das für ein Ton gewesen? Er wiederholte sich nicht. Wahrscheinlich nur ein Traum. Oder einer der Hausbewohner, der seine Kaffeemaschine eingeschaltet hatte. Die Wohnungen waren so hellhörig, dass man sogar das Husten der anderen mitbekam.

Sie linste auf die Uhr, sah, dass sie noch eine Weile dösen konnte, bevor Jan auftauchen würde. Sollte sie die Turnschuhe ausziehen und sich etwas gemütlicher auf der Matratze einrichten? Irgendwo musste doch noch ein Kissen sein. Sie drehte den Kopf. Das kleine Hirsekissen lag auf dem Boden. Schläfrig langte sie danach, aber es war zu weit weg. Sie fühlte sich zu müde, um aufzustehen und es zu holen. Kurz bevor sie wieder einschlummerte, dachte sie: Dieser Piepston, das war ein SMS. Vermutlich von Sonja. Hat Zeit bis später.

Jan Berger stellte seinen klapprigen Renault in der Fröhlichstrasse ab und ging ein paar Schritte. Eigentlich hatte er nicht vorgehabt, mit dem Auto zu kommen, aber er war spät dran gewesen, weil Monika beim Frühstück noch über das neue Sofa geredet hatte, das sie kaufen wollten. Doch den Wagen zu nehmen, war ein Fehler gewesen. Er hatte so lange im Stau gestanden, dass er mit dem Tram schneller vorwärtsgekommen wäre. Seit sie zusammen eine gemeinsame Wohnung in Zürich-Wiedikon bezogen hatten, war Monika Feuer und Flamme, was die Einrichtung betraf. Ursprünglich hatte er geplant, zu ihr zu ziehen, seine Möbel mitzubringen und mit den ihren zu kombinieren. Doch die Mischung der beiden Wohnstile hätte grauenhaft ausgesehen. Sie beschlossen, ganz neu anzufangen, pilgerten von Möbelmesse zu Möbelmesse und machten aus ihrem neuen Heim ein Bijou.

Jedesmal, wenn er an Monika dachte, merkte er, was für ein Glückspilz er war. Sie waren beide vierzig und hatten völlig unerwartet die Liebe ihres Lebens gefunden. Monika war die Frau, die er sich immer gewünscht hatte. Sie war nicht nur ausgesprochen charmant und intelligent, sie sah auch gut aus. Ein Geschenk, das er nie zu erhalten gewagt hätte. Er selbst war kein Adonis, da machte er sich keine Illusionen. Noch immer etwas zu viel Speck auf den Rippen, noch immer ziemlich unsportlich. Und mit täglich schwindender Haarpracht gesegnet. Er ging davon aus, dass man ihn wegen seiner inneren Werte schätzte, und hielt es genauso. Er beurteilte die Menschen nach ihren Taten, nicht nach ihrem Aussehen. Natürlich war er nicht immun gegen weibliche Schönheit, aber er hatte nie ernsthaft in Betracht gezogen, dass eine dieser wirklich aussergewöhnlichen Frauen einmal auf ihn abfahren würde. Doch genau das war geschehen!

Auf seinen Lippen bildete sich ein Lächeln. Er überquerte die Seefeldstrasse und betrat die «Backbar», ein Bäckerei-Café, in dem die Leute eine Kleinigkeit essen konnten. Schon zu dieser frühen Stunde war es drückend heiss. Kein Lüftchen wehte, niemand trug mehr als das Allernötigste. Unter seinen Achseln hatten sich Schweissflecken gebildet, und ein feuchter Film lag auf seiner Stirn.

Er betrachtete die Vollkornbrötchen, die für Nora viel zu gesund aussahen, kaufte dann zwei Zimtschnecken und verliess den Laden Richtung Höschgasse. Als er an der Kieselgasse vorbeikam, zog ein bärtiger Mann einen kleinen Hund an der Leine zu sich heran, der gerade ein Häufchen hinterlassen hatte. Der Bärtige schaute sich um, ob ihn jemand beobachtete, stufte Jan offensichtlich als harmlos ein und ersparte sich das Entfernen des Drecks. Er zerrte an der Leine, zischte dem Tier etwas zu, dieses folgte ihm widerstrebend, dann war er verschwunden.

Jan ging weiter. Ein paar Sekunden später stockte er.

Das Hündchen war ihm bekannt vorgekommen. Grau, zerzaust, wuselig. Na, klar! Das war Daisy, Miroslavs vermisstes Haustier. Es sah genauso aus wie auf den Fotos. Dieser Typ hatte die Dreistigkeit, mit seiner Beute ganz in der Nähe, wo er sie her hatte, Gassi zu gehen. Jan eilte zurück. Er folgte der Kieselgasse, erreichte die Wildbachstrasse und schaute sich um: zwei ältere Frauen, ein Geschäftsmann, ein Junge auf einem Skateboard. Kein Mann mit Hund. Jan suchte die umliegenden Strassen ab, doch vom Dieb keine Spur. Aufs Geratewohl rief er: «Daisy!»

Kein Bellen.

Ein paar Mädchen, die an ihm vorbeigingen, kicherten und äfften ihn nach: «Daisy! Daisy!»

Jan ersparte es sich, den Hund mit weiteren Rufen herbeilocken zu wollen. Er schickte ein SMS an Nora: «Es wird später.» Dann durchstreifte er noch einmal die Umgebung, guckte in Hinterhöfe, schaute in Vorgärten. Umsonst. Nach einer Weile gab er auf. Das Ganze war zu ärgerlich.

Enttäuscht traf er an seinem Arbeitsort ein. Er stieg die Treppen hoch, öffnete die Tür des Detektivbüros – und brach in Lachen aus. Nora lag auf einem Klappbett. Auf einem, das seinem Namen alle Ehre machte: Es war zusammengeklappt.

Das Kopfteil hing schief herab, die Verbindungsstange der Vorderfüsse war unter der Matratze eingeknickt, eine Sprungfeder stach hervor und ragte in die Höhe. Nora schien von alledem nichts zu bemerken. Ihr Atem ging ruhig und regelmässig. In einer Stellung, die Jan keine Minute ausgehalten hätte, mit abgewinkeltem Arm und verdrehter Hüfte, schlief sie und pfiff leise aus der Nase.

«Aufwachen, Chef!», sagte er. Als sie sich nicht rührte, tippte er sie an der Schulter an.

Ruckartig setzte sich Nora auf, starrte ins Leere und murmelte verwirrt: «Sonja?» Dann entdeckte sie ihn. «Oh, du bist es.» Sie rieb sich den Schlaf aus den Augen, strich ihr zerknittertes T-Shirt glatt, kletterte vom Gestell herunter – und knallte kopfvoran auf den Boden. «Shit! So ein heimtückisches Teil!» Kurz darauf schnupperte sie in die Luft. Ihr Gesicht hellte sich auf. «Du hast etwas Süsses mitgebracht?»

Er grinste. «Zimtschnecken. Ich wollte eigentlich was Vollwertiges kaufen. Dann dachte ich, das isst du mir nie.»

«Du bist eine Perle.»

«Ich weiss.» Er ging in die Büroküche, machte einen Kaffee für Nora und einen Grüntee für sich. Als er mit zwei Tassen zurückkam, war Nora fluchend dabei, ihr temporäres Nachtlager zusammenzubauen und zur Seite zu stellen. Währenddessen erzählte sie ihm, dass ihre Mutter heute eintreffe und sie, Nora, noch eine Nacht auf diesem Ungetüm verbringen würde. Sie setzten sich beide an Noras Pult, assen Süsses, tranken Bitteres und besprachen den Tag. Jan würde sich um das gestohlene Hündchen kümmern, nun, da sie wussten, dass es in der Nachbarschaft gefangengehalten wurde.

Nebst dem Daisy-Fall gab es noch zwei weitere Aufträge, an denen sie arbeiteten. Eine Kioskverkäuferin beim Bahnhof Enge verdächtigte ihre Aushilfe, Zigarettenstangen zu klauen, doch die junge Teilzeitangestellte leugnete hartnäckig, etwas damit zu tun zu haben. Und dann war da noch der Achtzigjährige in Schwamendingen, der seiner Frau vorwarf, eine Affäre mit dem Hausmeister zu haben. Wiederholt hatte er die beiden mit geröteten Gesichtern aus der Waschküche kommen sehen. Er forderte von Jan und Nora «aussagekräftige Inflagranti-Fotos». Nora hatte sich des Eindrucks nicht erwehren können, er wolle sein Sexleben – zumindest jenes, welches er mit sich selber pflegte – mit den Bildern etwas ankurbeln. Es würde eine langwierige Beobachtung werden, doch wenn er Fotos haben wollte, sollte er Fotos kriegen.

«Ich werde heute vermutlich genug mit Sonja zu tun haben», sagte Nora. «Kommst du klar mit allem?»

«Sicher.» Jan schleckte sich die Krümel von den Fingern. «Als Erstes werde ich mich auf die Suche nach Miroslavs Hund machen. Er hat kläglich ausgesehen.»

«Tatsächlich kläglich?» Nora schien etwas einzufallen. «Der Piepston», murmelte sie und griff nach ihrem Mobiltelefon. «Ich habe in der Nacht ein SMS erhalten, das ich noch nicht gelesen habe.»

«Was ist denn das wieder für eine Assoziation?»

«Na ja, es hatte irgendwie einen kläglichen Unterton.»

«Nora! Handys haben keine Untertöne.»

«Meins schon.» Sie starrte aufs Display und runzelte die Stirn. «Na, was hab ich gesagt! Das ist ja unglaublich! Schau dir das mal an.»

«Was denn, Chef?»

«Eine Nachricht von Carla Manser. Ich kenne sie von früher. Hier, lies selbst.» Sie reichte ihm das Handy hinüber, und er las:

«Bhn wegen mosd festgenonen wordfn missverståndnis bin unschvldig bitte melde dicg.»

«Mosd?» Jan betrachtete die Tippfehler und dachte eine Weile nach. «Das soll wohl Mord heissen. Sieht aus, als hätte sie die Nachricht nicht sehen können, während sie schrieb.»

Nora nickte. «Handschellen hinter dem Rücken.»

«Du meinst, sie hat die Botschaft auf dem Weg ins Polizeigefängnis verfasst?»

Nora nickte. Sie schob sich den letzten Bissen der Zimtschnecke in den Mund, dann ging sie ins Bad, spritzte sich Wasser ins Gesicht und trocknete sich ab. Mit rotgerubbelten Wangen und entschlossenem Ausdruck, den er gut von ihr kannte, kam sie zurück. «Scheint, als hätte ich heute doch noch anderes zu tun, als meiner Mutter Obdach zu bieten.»

«Und das wäre?»

«Ich knöpfe mir Mike vor. Der wird wissen, worum’s geht.»

Carla ging auf und ab. Fünf Schritte hin, fünf Schritte zurück. Für mehr reichte der Platz nicht. Sie schätzte ihre Zelle auf acht Quadratmeter. Rauhe Wände, schmutzigweisslich, in den Ecken fast schwarz. Eine Pritsche, ein Waschbecken, ein halbhohes Mäuerchen, hinter dem eine Toilette ohne Klobrille stand. Gleich daneben die Tür, in der ein Guckloch angebracht war, durch das die Wärter schauen konnten, was sie tat. Manchmal verdunkelte es sich für einen Moment, dann stellte sie sich vor, wie jemand hindurchspähte und sie beobachtete. Wenn sie auf dem Klo sitzen würde, könnten sie ihren Oberkörper sehen. Keine Privatsphäre, nicht mal im intimsten Bereich. Verständlich, wenn man an die richtigen Kriminellen dachte, die normalerweise hier sassen, aber unangenehm. Bis jetzt hatte sie vermieden, das WC zu benutzen, doch viel länger konnte sie es nicht mehr hinausschieben.

Von hoch oben liess ein kleines, vergittertes Fenster etwas Helligkeit in die Zelle. Was draussen war, konnte Carla nicht sehen. Nur ein Stück Himmel erkannte sie. Wolkenlos.

Heiss war es hier drin, kaum auszuhalten. Dieser Sommer zeigte einmal mehr, dass die Klimaerwärmung längst in vollem Gange war. Die Wände, der Boden, der ganze Raum waren aufgeheizt. Abgestandene Luft mit undefinierbaren menschlichen Geruchsnoten. Urin. Schweiss. Und Angst.

Vor ein paar Stunden hatten sie sie hierher gebracht, und bereits hatte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Sie hatten ihr alles abgenommen. Die Uhr, den Gürtel, den Fingerring, den Eveline ihr von ihrer letzten Reise mitgebracht hatte, und selbstverständlich ihre Ausweise und das Geld. Mehr hatte sie nicht auf sich getragen.

Sie versuchte, kein Selbstmitleid aufkommen zu lassen, sondern einen klaren Kopf zu bewahren. Es war ein Missverständnis, ein folgenschweres, aber eines, das sie nachvollziehen konnte. Wäre sie Polizistin gewesen und hätte eine Frau neben Marks Leiche angetroffen, wäre sie auch skeptisch gewesen. Wo stand geschrieben, Psychiaterinnen verübten keine Morde? Nein, sie durfte es nicht persönlich nehmen, durfte die Nerven nicht verlieren. Sie musste so schnell wie möglich versuchen, das Ganze zu klären.

Wie sah das eigentlich rechtlich aus? Konnte man Schadenersatz oder Schmerzensgeld fordern, wenn man über längere Zeit unschuldig eingesperrt gewesen war? Oder gehörte das einfach zu einer Ermittlung, und wer Pech hatte, an einem Tatort angetroffen zu werden, hatte – naja, eben Pech? Sie würde später ihren Pflichtverteidiger danach fragen. Nicht, dass Geld das Wichtigste war. Aber falls dieser Aufenthalt hier länger dauern sollte, musste sie das Thema ansprechen. Sie hoffte, die Sache würde sich in ein, zwei Tagen erledigt haben. Heute nachmittag würde sie die ermittelnde Staatsanwältin treffen, hatte man ihr gesagt. Möglicherweise hatte Carla voreilig gehandelt, als sie Nora den Hilferuf geschickt hatte. Zwar konnte es sein, dass sie am Abend schon wieder auf freiem Fuss war, aber geschadet hätte es nicht. Carla war froh, dass es sich um eine Staatsanwältin handelte. Obwohl sie natürlich nicht davon ausgehen konnte, eine Frau würde gnädiger mit ihr umspringen als ein Mann.

Hin und her. Hin und her. Fünf Schritte in die eine Richtung, fünf Schritte in die andere. Nach einer Weile blieb sie stehen und schaute zum Fenster hoch. Eine dünne Schleierwolke zog vorüber, zwei Tauben flatterten vorbei. Dann war der Flecken Himmel wieder strahlend blau. Sie wartete, ob noch mehr Vögel auftauchten, doch sie sah keine mehr.

«Alles kommt gut, Carla», flüsterte sie vor sich hin, so liebevoll, wie sie es jeweils zu ihren Patienten sagte. «Alles kommt gut.» Doch sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen aus den Augen liefen.

Paul Berthold verfolgte das vielbeinige Krabbeln. Quer durch seine Zelle verlief eine Ameisenstrasse. Er kniete sich nieder und beobachtete die Insekten, die in Reih und Glied hintereinander hermarschierten. Es waren Dutzende. Bestimmt würden es bald Hunderte sein. Berthold suchte den Ursprung der Invasion und sah, dass die schwarzen Tierchen aus einem Spalt in der Wand ins Innere drangen. Der Verputz rings um die schmale Öffnung war abgeblättert, immer mehr Ameisen strömten herein. Berthold wischte sich über den nackten Oberkörper. Er hatte sein Hemd ausgezogen, weil es so verdammt schwül war. Seine bleiche, haarlose Brust glänzte vor Feuchtigkeit.

Ob sie auch oben ohne in ihrer Zelle sass? Ob ihr Schweisstropfen über die Brüste liefen? Beim Gedanken an Carla Manser versteifte sich sein Penis. Berthold wusste, dass sie ganz in der Nähe untergebracht war. Nah genug, um seine Phantasie anzuregen. Seit er die Medikamente heimlich abgesetzt hatte, fühlte er zwischen den Beinen wieder etwas.

Er betrachtete erneut die Ameisen. Nun hatten die Späher die gegenüberliegende Wand entdeckt, die anderen folgten ihnen, dann verschwanden sie unter dem Türspalt. Eine scherte links aus, schien etwas aufgespürt zu haben, umkreiste es und zog daran. Es war ein Brotkrümel. Zwei weitere kamen herbei, ein aufgeregtes Treiben entstand, dann schleppten vier von ihnen den hellen Brosamen Richtung Ausgang. In der Mitte des Trupps bewegte sich ein Insekt, das etwas grösser war als die anderen. Sicher die Königin.

Berthold robbte neben der Kolonne her, bis er auf ihrer Höhe war. Er betrachtete ihren feingliedrigen Körper. Sie überholte ihre Vorgängerin und krabbelte nun dicht hinter einer anderen Ameise. Da merkte Berthold, dass sie gar nicht so gross war. Nein, das war keine Königin. Königinnen liessen sich bedienen und begatten und legten Eier am Laufmeter. Diese hier war eine ganz gewöhnliche Arbeiterin.

Er zerdrückte sie.

Sogleich kamen andere herangeeilt, liefen aufgeregt zu der sich windenden Ameise hin und betasteten sie mit den Fühlern, als wollten sie ihr helfen. Berthold zerquetschte eine nach der anderen. Er befeuchtete seinen Zeigefinger, tippte auf die toten Insekten und ass sie auf. Sie schmeckten bitter.

«Perversling», sagte eine Stimme über ihm.

Berthold fuhr zusammen. Er hatte ganz vergessen, dass er nicht allein war.

Der Afrikaner, mit dem er die Zelle teilte, lag auf der oberen Matratze des Kajütenbettes auf dem Bauch. Er hatte seinen Mund abschätzig verzogen und starrte zu Berthold hinunter. «Du bist echt krank.»

Berthold leckte seine Finger ab und erwiderte nichts.

Der Afrikaner schnalzte mit der Zunge. «Ein armes, krankes Schwein. So einer wie du überlebt hier nicht lange.» Er drehte sich zur Wand und stiess die Wolldecke mit dem Fuss zur Seite.

«Wir werden sehen.» Berthold starrte auf die Ameisen am Boden. Die meisten waren tot. Ein paar lebten noch und krümmten sich im Todeskampf. Ein abgetrennter Hinterleib zuckte.

Nora legte die Füsse auf ihren Schreibtisch und wählte die direkte Kripo-Nummer, die sie auswendig kannte. Sie liess es zehnmal läuten. Ihr ehemaliger Polizeikollege ging nicht ran. Danach versuchte sie es auf seinem Handy.

Sofort meldete er sich: «Salzmann. Richtige Nummer, falscher Zeitpunkt. Bitte fass dich kurz, Tabani.»

«Dir auch einen schönen guten Morgen», gab Nora zurück. «Ich muss dich sehen. Es geht um Carla Manser.» Als sie hörte, wie er geräuschvoll Atem holte, fügte sie schnell hinzu: «Nur kurz. Ein paar Fragen.»

Ein Quietschen drang aus dem Hörer, als stünde Mike an einer Kreuzung, an der gerade ein Tram um die Kurve ächzte. «Tabani, du behauptest nicht im Ernst, du seist mit dem Manser-Fall beschäftigt.» Die Verbindung war schlecht, es knackte in der Leitung.

«Nun ja, ich –»

«Die Leiche ist ja noch warm! Woher um alles in der Welt… Egal, ich rege mich nicht auf. Nein, Salzmann, du regst dich nicht auf…» Eine Tramglocke schrillte, er keuchte und schien die Strasse zu überqueren. «Ich habe demnächst einen Gesprächstermin im ‹Starbucks› am Stauffacher. Komm einfach her, ein paar Minuten kann ich dir geben, okay?»

«Bin schon unterwegs.»

Nora warf einen Blick ins andere Bürozimmer, wo Jan mit atemberaubender Geschwindigkeit einen Text in den Computer hackte, und fragte ihn: «Alles klar?»

Jans Finger galoppierten weiter über die Tastatur, während er zu ihr hochsah. «Alles klar, Chef. Ich hab hier bis Nachmittag zu tun.»

Dann verliess sie im Eiltempo das Haus, erwischte ein 2er-Tram und war bald danach am Stauffacher. Sie trat in den «Starbucks». Ein paar Leute sassen vor ihren Getränken und lasen Zeitung. Mike war nicht im unteren Stock. Sie holte sich einen Kaffee, stieg nach oben und entdeckte Mike neben einem Grüppchen Studentinnen, die an ihren Laptops arbeiteten. Er sprach mit einem jungen Typen, der eine Kapuzenjacke trug, und schien Nora nicht bemerkt zu haben.

Nora setzte sich an ein Tischchen neben der Treppe und beobachtete Mikes gebieterische Gesten, während er redete. Sein Gegenüber wirkte beeindruckt, um nicht zu sagen eingeschüchtert; seine ganze Körperhaltung drückte Unterwerfung gegenüber einem Alphatier aus.

Nora lächelte vor sich hin. So ging es allen am Anfang. Mike war ein Bär. Nicht nur gross und massig, mit grauem, aber beneidenswert dichtem Haar, sondern auch mit einer Stimme ausgestattet, die ihm die Opern-Hauptrolle als Bass eingebracht hätte. Viele unterschätzten ihn. Er sprach laut und als typischer Berner langsam, was unerfahrene Zürcher zur irrigen Annahme verleitete, er denke auch nicht allzu schnell. Doch Mikes Oberstübchen funktionierte mehr als einwandfrei.

Nun sah er kurz zu ihr hinüber und zwinkerte ihr zu. Die Diskussion der beiden Männer schien zu einem Ende zu kommen. Der jüngere nickte ein paarmal folgsam, schüttelte Mikes Pranke und machte sich dann erleichtert aus dem Staub.

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