Читать книгу: «Das Kainszeichen», страница 2

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Das Bizarrste, was Carla in ihrer Tätigkeit erlebt hatte, war der nihilistische Wahn eines Patienten, der am Cotard-Syndrom litt. Er war felsenfest überzeugt, tot zu sein. Nichts konnte ihn von seiner Meinung abbringen. Carla wies ihn auf seine Atembewegungen hin, die er aber als letztes Zucken seines verrottenden Kadavers deutete. Sie erklärte ihm, dass ihre Gespräche zwischen zwei lebenden Menschen stattfanden. Er nannte es neuronales Aufflackern im Verwesungsstadium. Als sich seine psychotischen Halluzinationen verschlimmerten, stellte er jegliche Bewegung ein, lag nur noch auf dem Rücken mit auf der Brust gefalteten Händen und wartete darauf, dass sich sein Körper zersetzte. Ohne sich der Absurdität seiner Lage bewusst zu sein, erzählte er von seinen sich auflösenden Organen, seiner stinkenden, mit Totenflecken übersäten Haut und seinen Augäpfeln, die in den Höhlen verfaulten. Ein Zustand, der für gesunde Menschen nicht einfühlbar war. Ein manifestiertes Bild des Grauens.

Plötzlich zuckte Carla zusammen. Da war es wieder, das Geräusch.

Etwas schepperte an ihrem Auto. Jemand war hier. Sie wirbelte herum.

Reflexartig schaltete sie die Scheinwerfer ein. Der Lichtkegel beleuchtete wadenhohes Unkraut und endete an einer Fabrikmauer, deren Verputz abbröckelte. Sie hörte ein Kratzen und das Knirschen von Kies. Dann tauchte Bertholds Gestalt vor der Scheibe auf. Sein bleiches Gesicht. Mit wild hämmerndem Herz sah sie zu ihm hoch. Seine Wangen und seine Stirn waren blutverschmiert. In der Hand hielt er ein Messer.

Nora stand unschlüssig in ihrem Büro und starrte auf das noch immer geöffnete Mail. Inzwischen war es halb vier Uhr morgens. Sie war hellwach und klar im Kopf. Sich nun schlafen zu legen, hatte keinen Sinn mehr. Sie fuhr den Laptop herunter, schloss den Deckel und trank den letzten Schluck des kalten Kaffees. Von draussen erklang das Lied einer einzelnen voreiligen Amsel, was sogleich ein mehrstimmiges Miauen zur Folge hatte. Wie zum Hohn legte der Vogel an Gesangsintensität noch etwas zu, worauf die Katzen erst recht schrien.

Nora stieg die Treppe vom ersten Stock zu ihrer Mansarde hoch und sah sich um. Zu chaotisch für Sonja. So konnte sie sie hier nicht einquartieren. Der Boden war übersät mit Dingen, die nicht auf einen Boden gehörten. Zeitschriften, Socken, Fachliteratur, Stifte, Coladosen, zwei Sonnenbrillen und ein angebissenes Käsebrot, das auf einer leeren Pizzaschachtel lag. Die Bettdecke war zerknautscht, der winzige Küchentisch voller Brotkrümel, im Spülbecken stapelte sich das ungewaschene Geschirr. Trotz dieser für andere nur schwer nachvollziehbaren Unordnung – da machte Nora sich nichts vor – wirkte ihr kleines Reich gemütlich. Das bekam sie immer wieder zu hören. Der alte Parkettboden knarrte sympathisch, die unrenovierte Kombination in der Küche, welche nahtlos in das einzige Zimmer mündete, aus dem die Mansarde bestand, hatte etwas Liebenswertes, das man heutzutage kaum mehr antraf. Wie eine in die Jahre gekommene Tante, deren Kleidung längst nicht mehr der aktuellen Mode entsprach, deren Ansichten antiquiert waren und deren Frisur bestenfalls für eine mittelalterliche Komödie taugte – und die man dennoch nicht anders als innig lieben konnte.

Nora machte sich daran, ihr Reich sonjatauglich zu gestalten. Sie zog die Bettwäsche ab, schmiss sie in den Wäschekorb und bezog die Matratze frisch. Dann hob sie die verstreuten Dinge vom Boden auf und legte die Zeitungen auf den Altpapierhaufen im Bad. Sie warf die leeren PET-Flaschen in die Recyclingkiste daneben und begann, das Geschirr abzuwaschen. Hoffentlich weckte das Scheppern und Klappern die anderen Hausbewohner nicht auf. Das warme Wasser, das ihr über die Hände rann, drückte ihr erneut den Schweiss aus den Poren. Die Luft hatte sich keinen Deut abgekühlt.

Nora versorgte Teller, Gläser und Besteck, reinigte die verkrusteten Herdplatten und wischte den Bistrotisch sauber. Es gefiel ihr. War lange her, seit ihre Wohnung derart sauber gewesen war. Weil sie gerade so im Schwung war, staubte sie auch gleich noch die Fenstersimse und den Schrank ab. Sie stieg auf einen Stuhl und erlaubte sich den völlig unnötigen Luxus, die obere Abdeckung der Küchenschränkchen zu reinigen. Guter Gott, was da für Staubmassen lagen! Fingerdick, bestimmt noch Überbleibsel von den Vormietern. Die Fusseln wirbelten auf und brachten sie zum Niesen. Sie schob die grauen Bäusche angewidert in einen Plastiksack und knotete ihn zusammen.

Als alles getan war, stieg sie zufrieden herunter und griff nach dem Staubsauger, um der Mansarde noch den letzten Schliff zu verpassen. Dann hielt sie inne. Nein, das konnte sie nicht tun mitten in der Nacht. Ihr Staubsauger röchelte wie ein Rhinozeros und würde das halbe Seefeld aus dem Schlaf reissen. Schade, nun, da sie so schön dabei war. Aber das musste sie auf später verschieben. Sie stellte ihn wieder zurück und betrachtete ihr Werk. Grossartig. Etwas gewöhnungsbedürftig, diese ganze Ordnung, aber grossartig.

Sie schaute zu ihrem Chamäleon hinüber, das seine gigantischen Nasenhöcker an die Scheibe des Terrariums drückte. Heute war Gregor gelbgrünlich mit einem Hauch ins Türkis. Er fixierte einen Punkt in der Ferne, wahrscheinlich ein für Nora unsichtbares Insekt, das er gerne verspeist hätte.

«Na? Was sagst du dazu, mein Lieber?», flötete sie. «Blitzblank haben wir’s jetzt.»

Gregor verzog keine Miene.

«Ich weiss schon. Du willst nicht zugeben, dass du mich auch magst», sagte sie, um das leider einseitige Gespräch nicht verebben zu lassen. Sie kniete sich zu ihm hin, nahm ihn vorsichtig heraus und sah in seine riesigen Kulleraugen. «Lass dich doch mal etwas gehen. Das wäre gut für dein seelisches Wohlbefinden.»

Gregor wahrte sein Pokerface, blieb reglos auf ihrer Hand sitzen und schwieg. Kürzlich hatte er zum ersten Mal Anstalten gemacht, sie als lebendiges, wenn auch untergeordnetes Reptil zu betrachten, doch das schien ein einmaliger Ausrutscher gewesen zu sein. Nora setzte ihn auf den Boden. Er hob seinen Kopf überheblich in die Höhe und stolzierte schnurstracks zur Heizung hinüber, die er vom Winter her als warm in Erinnerung hatte.

«Sie ist nicht an, mein Kleiner. Es ist Sommer. Heiss, wie du es liebst.»

Gregor schob seine Schnauze zwischen zwei Radiatorwindungen und verharrte in dieser Position.

Nora liess ihn eine Weile in Ruhe und machte sich nochmals einen Kaffee. Sie setzte sich an den Küchentisch und betrachtete den Kühlschrank, auf dem ein Dutzend Fotos mit Magneten befestigt waren. Ihr ehemaliger Polizeikollege Mike hielt einen Riesenfisch an der Angel und strahlte in die Kamera. Svetlana, die Präparatorin vom Institut für Rechtsmedizin, zog eine Grimasse, die ihr die Hauptrolle in einem Frankenstein-Remake eingebracht hätte. Nora war auf einem Gruppenfoto bei einem Dolomiten-Trekking zu sehen. Sonja und Noras Vater in jugendlichem Alter auf einer Venedig-Reise. Noras Blick blieb an einem Bild von Jan und Monika hängen, das an ihrer Hochzeit aufgenommen worden war. Im Hintergrund das Stadthaus und mehrere winkende Leute. Jan, ihr Partner, mit dem sie schon einige verzwickte Fälle gelöst hatte, sah so glücklich aus, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Erst kürzlich war er aus seinen Flitterwochen auf Madeira nach Hause gekommen. Nach der Rückkehr hatte er seine Arbeit wieder aufgenommen, so gewissenhaft, wie sie es von ihm kannte. In drei Stunden würde er im Büro eintreffen. Es war fünf. Plötzlich fühlte sie die Müdigkeit über sich hereinbrechen.

Sie setzte Gregor in sein Terrarium zurück, was er mit vorwurfsvollem Blick quittierte. Dann zog sie das Klappbett hinter dem Schrank hervor und schleppte es die Treppe hinunter in ihr Büro. Sonja konnte die Mansarde für einen Tag haben, aber Nora würde nicht mit ihr auf so engem Raum übernachten, sie würde hier unten schlafen. Sie stellte das Klappbett neben dem Schreibtisch auf und setzte sich darauf. Es quietschte. Eine der Stahlfedern bohrte sich in ihren Hintern. Nicht wirklich bequem, doch für eine Nacht würde es gehen. Nora gähnte. Nur einen Augenblick ausruhen, sagte sie sich, nur kurz entspannen. Eigentlich wollte sie die Zeit, bis Jan eintrudelte, für administrative Arbeiten nutzen, schliesslich hatte es keinen Wert mehr, sich noch hinzulegen…

Einen Atemzug später war sie eingenickt.

Carla starrte auf den blutverschmierten Berthold. Auf sein Messer. Auf seine zitternden Lippen. Bevor sie die Autoverriegelung betätigen konnte, riss er die Tür auf.

«Raus!», schrie er und hielt ihr die Waffe vors Gesicht. Speichel lief ihm vom Mund herunter. Er wischte ihn mit dem Handrücken weg. «Steigen Sie aus!»

Carla spürte ihren hämmernden Puls, doch sie dachte nicht daran, sich von ihrem neuen Patienten terrorisieren zu lassen. Wenn er sich gefasst hatte, würde sie auf ihn eingehen und eine Lösung für ihn finden. Aber das ging zu weit. Sie drehte den Schlüssel und startete den Mini. Wollte das Pedal durchtreten und losbrausen. Doch Berthold war schneller. Er beugte sich ins Wageninnere und zerrte sie nach draussen. Ihr Kopf knallte ans Autodach. Sofort schlug er die Fahrzeugtür hinter ihr zu.

Ihr Schädel pochte schmerzhaft. Sie versuchte, Berthold abzuschütteln, stolperte, rappelte sich vom Kies hoch und rief: «Hören Sie auf! Sie machen alles nur noch schlimmer!»

Sein Kinn zitterte, als würde er gleich weinen, seine Augen glänzten im Scheinwerferlicht.

Langsam streckte sie ihre offene Hand aus. «Geben Sie mir die Waffe, Herr Berthold. Ich werde Ihnen helfen. Aber das kann ich nicht, wenn Sie mich bedrohen.»

Er fuchtelte mit dem Messer herum. Sie musste möglichst ruhig bleiben. Flüchten war keine gute Idee. Wenn Berthold hinter ihr herjagte, war er gefährlicher, als wenn er ihr gegenüber stand.

Blitzschnell, so überraschend, dass sie es nicht kommen sah, ritzte er ihre Wange.

Sie zuckte zusammen. Befühlte ihre Haut, spürte das Blut. «So nicht, Berthold! Was immer Sie getan haben, wir werden –»

«Sie kapieren es nicht!», schrie er. Er schien seinen Körper nicht mehr unter Kontrolle zu haben. Sein Stand war unsicher, seine Schultern bebten. «Ich will Ihnen doch nichts tun! Aber Sie müssen mitkommen!»

Carla warf einen Blick nach hinten. Wo blieb bloss die Polizei, verdammt noch mal? Keine Motoren zu hören, kein Blaulicht zu sehen. «Erst geben Sie mir das Messer», sagte sie.

Er schüttelte den Kopf. Tränen liefen ihm über die Wangen. «Wenn ich das tu, hauen Sie ab.»

Sie hatte in all den Jahren schon etliche brenzlige Situationen mit ihren Klienten erlebt, doch so hatte sich noch keiner verhalten. Zur Not würde sie sich mit Händen und Füssen wehren, aber wichtiger als körperlicher Einsatz war, dass sie die Nerven nicht verlor. Sie musste auf Berthold eingehen.

«Was wollten Sie mir zeigen?», fragte sie.

«Da lang.» Er wies auf das Fabrikgebäude auf dem von Gras überwucherten Gelände.

«Das Messer, Berthold. Ich verspreche Ihnen, dass ich freiwillig mitkomme.»

Er heulte auf wie ein verletztes Tier. «Alle versprechen einem alles! Und niemand hält sein Wort.»

Auf einmal tat er ihr leid. Sie erkannte in dem grossen, ungelenken Mann das Kind, das betrogen worden war und vielleicht niemals Liebe erfahren hatte. Wieder hielt sie ihm die Handfläche hin. «Vertrauen Sie mir. Ich komme mit Ihnen, und wir schauen uns das Ganze an. Sie werden Hilfe erhalten.»

Er kapitulierte. Schlug den Blick nieder. Dann reichte er ihr die Waffe.

Sie schob sie in ihre hintere Hosentasche und atmete erleichtert auf. «Danke. Das haben Sie gut gemacht.»

Er ging Richtung Fabrikeingang. Sie folgte ihm. Im Lichtkegel des Autoscheinwerfers überquerten sie den Platz.

«Ich hab gesagt, dass ich wieder töte», schniefte er und schneuzte den Rotz auf den Boden. «Es ist ein Zwang. Keine Ahnung, wie ich hergekommen bin. Plötzlich war ich da und brachte ihn um.»

«Ihn?»

«Den Mann. Ich weiss nicht, wer er ist.» Er blieb stehen und starrte sie lauernd an. «Haben Sie etwa gedacht, ich ermorde einen, den ich kenne?»

Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe gar nichts gedacht.»

«Sie sind doch meine Therapeutin, oder?», fragte er, und in seiner Stimme schwang unüberhörbares Misstrauen.

«Das bin ich.»

«Dann müssen Sie mir glauben. Ich wollte das nicht.»

«Ich glaube Ihnen.»

Er stiess ein höhnisches Lachen aus und schaute mit Verachtung auf sie herunter. «Lernt Ihr das in eurer Ausbildung? Den Irren immer schön recht geben? Ich sage Ihnen was.» Seine Augen verengten sich. Keine Spur von Weinerlichkeit war mehr in seiner Stimme. Nur noch Eiseskälte. «Sie könnten die Nächste sein.»

Carla spürte das Pulsieren ihrer Halsschlagader. Das Messer in ihrer Hosentasche gab ihr Sicherheit. Oder hatte er noch eines? Vielleicht war sie dabei, den grössten Fehler ihres Lebens zu machen, indem sie mitten in der Nacht diesem schwer gestörten Menschen ins Ungewisse folgte. Hatte er vor, sie ebenfalls zu töten? Sie horchte, vermeinte, in der Ferne Fahrzeuge wahrzunehmen, die sich näherten. Doch sie hatte sich getäuscht. Ausser Grillenzirpen war nichts zu hören. Noch war es stockfinster, aber bald würde die Morgendämmerung einsetzen.

Berthold drehte sich abrupt um, ging weiter und erreichte den Eingang der Halle. Er stemmte die Tür auf. Sie knarrte in den Angeln.

Carla verscheuchte die beängstigenden Gedanken. Berthold würde ihr nichts antun. Demnächst träfe die Polizei ein. Und Lorenz Tillmann. Berthold würde, wenn er tatsächlich erneut gemordet hatte, wieder in die geschlossene Abteilung verlegt werden. Dort wäre einer ihrer Kollegen für ihn zuständig, sie selbst betreute ausschliesslich Entlassene. In Kürze wäre diese Nacht eine weitere denkwürdige Episode ihrer Arbeit als Psychiaterin. Seit sie ihre Praxis eröffnet hatte, hatte sie Einblick in diverse unkonventionelle Lebensläufe erhalten. Einer ihrer Patienten war nach der Pensionierung nach Russland ausgewandert, um einen heruntergewirtschafteten Bauernhof auf Vordermann zu bringen. Ein anderer, ein Geschichtslehrer, hatte sich zum Atemtherapeuten umschulen lassen. Eine Patientin war eine international gefeierte Künstlerin geworden. Eine weitere hatte sich scheiden lassen und ihren Ex-Mann zwei Monate später wieder geheiratet. Doch die meisten ihrer Ehemaligen führten inzwischen ein normales Leben, arbeiteten, hatten Kinder und pflegten ihre Hobbies. Das Schlimmste, das sie je erlebt hatte – nebst der Sache mit dem Börsenmakler –, war eine junge, selbstmordgefährdete Mutter gewesen, die nach Paris gereist war und Carla vom Eiffelturm aus ein Handyfoto geschickt hatte mit den Worten: «In einer Stunde springe ich.» Carla hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, mit den französischen Behörden Kontakt aufgenommen und es geschafft, die Frau von ihrem Vorhaben abzubringen. Sie würde auch diese Situation meistern.

Sie traten in die Fabrikhalle. Eine Metalltreppe führte nach oben. Von weit her flackerte es schwach wie von einer Kerze, sonst war es stockdunkel. Berthold forderte sie auf, voranzugehen, schob sie die Stufen hoch und folgte ihr dicht auf den Fersen. Es roch nach Eisen. Carla versuchte, etwas zu erkennen, sie hielt sich am Geländer fest, tastete sich ihm entlang. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis. Carla und Berthold kamen in das obere Geschoss, gelangten zu einem Brückengang, der quer über die Halle führte. Unter ihnen klaffte der Abgrund. Schemenhaft waren Maschinen zu erkennen, alte Rollen und Walzen für die Papierherstellung. Ihre Schritte hallten unnatürlich laut in der Stille des Gebäudes. Carla warf einen Blick zu den grossen Fenstern, deren Scheiben zersplittert waren.

Als sie das andere Ende erreicht hatten, lotste Berthold sie dem Licht entgegen, drängte sie um eine Ecke und stiess sie in einen Nebenraum, der mit Mäusedreck übersät war. Auf einem Ziegelstein stand eine Laterne. Die Flamme züngelte im Luftstrom, als sie eintraten, und warf bizarre Schatten an die Wände. Berthold krächzte, zeigte auf den Boden.

Bis zu diesem Moment hatte Carla darauf gehofft, das Ganze stelle sich als Wahnbild ihres Patienten heraus, doch nun sah sie, dass Berthold die Wahrheit gesagt hatte. Sie starrte auf die Leiche.

Der Mann lag in einer Blutlache auf dem Rücken, die Arme an der Seite, den Blick ins Leere gerichtet. Seine Kehle war aufgeschlitzt. Auf seiner Stirn prangte ein rotes Kreuz.

Die Tat des Kainszeichenmörders.

Carla konnte nicht glauben, was sie da sah. Es war schlimmer, als sie es sich ausgemalt hatte. Viel schlimmer. Sie kannte den Toten.

Bevor sie die Tatsachen richtig einordnen konnte, passierte Mehreres gleichzeitig: Scheinwerfer strahlten auf, zuckten durch die Fenster, erhellten die Geräte in der Fabrik und erloschen wieder. Autos fuhren über den Kiesplatz. Die Motoren verstummten. Es folgten Schritte, flüsternde Laute, dann ein Rumpeln, als sei jemand gegen ein Hindernis gestossen.

Berthold rief: «Wer ist das? Haben Sie mich verraten?» Dann begann er zu schluchzen. «Die Stimmen haben es mir befohlen!» Er packte Carlas Hände mit seinen blutbesudelten Fingern und flüsterte: «Nicht ich war es – die Stimmen sind schuld! Sie haben mich gezwungen!»

Nun dröhnte Getrampel durch die Halle, und die Zickzackstrahlen mehrerer Taschenlampen huschten die Wände entlang. Gleich darauf drangen fünf bewaffnete Polizisten in den Raum und erfassten die Situation sofort.

«Kantonspolizei. Rolf Lutz», sagte ein korpulenter Mann mit solch schräger Nase, als sei sie ihm mehr als einmal gebrochen worden. «Haben Sie uns gerufen?»

Carla nickte.

Berthold warf ihr einen vernichtenden Blick zu.

«Treten Sie zur Seite», befahl Lutz und machte eine herrische Geste.

Carla wich zurück. Berthold wollte fliehen, doch einer hielt ihn fest. Berthold langte nach Carlas Hosentasche, versuchte, das Messer zu ergreifen. Er schnitt sich dabei. Blut quoll aus seinem Daumen, ein Tropfen fiel auf den Boden. Carla wehrte Berthold ab. Drei Pistolen waren auf ihn gerichtet, während ein Polizist ihm Handschellen anlegte. Berthold brüllte, schlug und trat um sich, doch gegen die eisernen Griffe der Uniformierten konnte er nichts ausrichten.

«Gott sei Dank», entfuhr es Carla. Dann sah sie wieder ungläubig auf den Toten. Was hatte das zu bedeuten?

«Von wo aus haben Sie uns angerufen?», fragte Lutz.

«Von unterwegs», sagte sie, «Paul Berthold ist mein Patient.»

«Sind sie Ärztin?»

«Psychiaterin.»

«So, so, Psychiaterin.» Lutz verzog das Gesicht. «Sie haben uns also von unterwegs aus verständigt. Sie waren nicht etwa schon länger hier, Frau… ?»

«Nein, ich –»

«Wie ist Ihr Name?»

«Carla Manser.» Wo blieb nur Tillmann? Er hatte ihr doch versichert, so schnell wie möglich herzukommen.

Das Knistern eines Funkgerätes war zu hören, dann ertönte eine Stimme: «Toni, bitte melden. Toni, hörst du mich?»

Einer der Polizisten sprach ein paar Worte in das Gerät, dann steckte er es zurück in die Jacke.

Lutz trat einen Schritt näher und starrte forschend auf Carla, deren Blick unverwandt auf den Leichnam gerichtet war. «Kennen Sie den Toten?»

Carla schwieg.

«Antworten Sie. Aber denken Sie daran: Was immer Sie sagen, kann vor Gericht gegen Sie verwendet werden.» Er erklärte ihr ihre Rechte, wie sie es schon so oft in TV-Krimis gehört hatte.

«Was soll das heissen? Ich bin diejenige, die Sie gerufen hat!»

«Ich frage Sie noch einmal, Frau Manser: Kennen Sie diesen Toten?» Sein Blick wanderte ihren Körperkonturen entlang und verweilte auf ihren Händen, die rot von Bertholds blutigen Fingerabdrücken waren.

Carla schloss einen Moment die Augen. Was sich hier abspielte, war unfassbar. Dann schaute sie wieder auf die Leiche, betrachtete das starre Gesicht, die markanten Wangenknochen und die geschwungenen Brauen, die ihr so vertraut waren. Ihre Stimme hörte sich fremd an, als sie murmelte: «Ja. Der Tote ist Mark Manser. Mein Ex-Mann.»

Lutz nickte befriedigt. Er richtete seine Pistole auf Carla. «Und jetzt nehmen Sie ganz langsam Ihr Messer aus der Tasche und legen es auf den Boden.»

«Das ist nicht mein Messer.»

«Los, machen Sie schon!»

Wie in Trance griff Carla in ihre Hosentasche und legte die Waffe vor ihre Füsse.

«So ist gut, Frau Manser.» Er nickte einem Kollegen zu, der das Messer aufhob und in eine Plastiktüte versorgte, dann bellte er: «Nehmt sie fest!»

Ein Ruck ging durch die Gruppe Polizisten. Zwei Männer packten sie, und die Handschellen schnappten zu.

Lorenz Tillmann fegte über die Strasse. Kein Mensch unterwegs. Der Klinikleiter kannte alle Radarfallen auf dieser Strecke, drosselte das Tempo, sobald er sich einer näherte, gab wieder Gas, nachdem er sie passiert hatte. Er wohnte in Zürich-Fluntern und erreichte in Windeseile die Stadtgrenze, raste am Tiefenbrunnen vorüber, liess Zollikon hinter sich, brauste durch Küsnacht. Der See lag still da, die Lichter des anderen Ufers reflektierten im Wasser.

Sein weisser Chrysler gab her, was in ihm steckte. Einen Moment genoss Tillmann die Geschwindigkeit, das stroboskopartige Vorbeiflitzen der Strassenlaternen, dann schalt er sich dafür. Das war nun wirklich nicht der Augenblick, sich dem Temporausch hinzugeben. Eine seiner fähigsten Kolleginnen war in Bedrängnis, befand sich vielleicht genau in diesem Augenblick in einer äusserst prekären Lage.

Als Carla Manser – er siezte sie, wie er es mit allen Mitarbeitern tat, das war er seiner Stellung schuldig – ihn aus einem verworrenen Traum gerissen hatte, war er schlagartig wach gewesen. Sie erzählte ihm von Bertholds Anruf und dass sie unterwegs zur alten Fabrik sei. Tillmann kannte die Fabrik.

Wenn ihr etwas zustiess, würde er sich das nie verzeihen. Er hatte das Gutachten über Paul Berthold ausgestellt. Nach wie vor war er davon überzeugt, dass von seinem ehemaligen Patienten keine Gefahr ausging. Er hatte ihn über Jahre beobachtet und seine Entwicklung dokumentiert. Beim Einzug in die Aussenwohngruppe hatte er Berthold sogar in dessen Zimmer besucht, und Berthold hatte sich über die neue Freiheit gefreut. Zu acht bis zehnt lebten die Ehemaligen in je einem der vier Häuschen auf dem Klinikgelände, etwas abseits der Hauptgebäude. Sie durften ein- und ausgehen, wie sie wollten, kochten zusammen, verbrachten die Abende miteinander. Die einzige Auflage war, dass sie um zweiundzwanzig Uhr zurück sein und dort übernachten mussten. Eine Nachtwache war im Nebenzimmer, ein Betreuer tagsüber immer ansprechbar. Tillmann war stolz auf dieses Konzept für die Langzeitpatienten. Er erzielte bessere Verläufe, und die Klinikinsassen kamen eher zurecht, als wenn sie nach ihrem Austritt von einem Tag auf den andern auf sich allein gestellt gewesen wären.

Die frisch ausgetretenen Patienten überliess Tillmann für die wöchentlichen zwei Nachbetreuungssitzungen jeweils Carla Manser. Er mochte sie und schätzte ihre Arbeit. Sie war engagiert und verfügte über ein Einfühlungsvermögen, das ihm fehlte. Er war ehrlich genug, sich dies einzugestehen, auch wenn er es niemals laut zugegeben hätte. Frauen – das war kein Klischee, er hatte es immer wieder erlebt – waren Expertinnen, was Gefühle betraf. Kleinste, nonverbale Zeichen und zwischen den Zeilen versteckte Botschaften erfassten sie intuitiv. Natürlich nicht jede gleich effizient, aber jede besser als ein Mann. Das war auch in Ordnung so. Männer waren dafür die erfolgreicheren Forscher, davon war er überzeugt. Sie gingen der Sache auf den Grund. Mitfühlen und Verstehen war gut und recht, aber nicht genug. Tillmanns Ehrgeiz bestand darin, psychische Störungen nicht nur zu lindern, sondern zu heilen. Das war bereits als Kind sein Traum gewesen.

Aufgewachsen in einer Akademikerfamilie, Mutter Neurologin, Vater Psychiater, war ausgerechnet Tillmanns drei Jahre älterer Bruder Sebastian von einer heimtückischen Geisteskrankheit betroffen gewesen, für die damals niemand einen Namen gehabt hatte, bei der es sich aber vermutlich um eine besonders gravierende Form der Depression gehandelt hatte. Während Lorenz schon als Junge stämmiger und robuster als Sebastian war, zog sich dieser in sein Schneckenhaus zurück und wurde immer wortkarger. Er sprach nur noch mit seinen imaginären Freunden. Vater regte seinen Ältesten zu sportlichen Aktivitäten an, Mutter beschenkte ihn mit teuren Spielsachen, doch beides nützte nichts. Sebastian verwelkte innerlich. Lorenz musste es mit ansehen, und es brach ihm das Herz. Nach einer Lungenentzündung erholte sich Sebastian nicht wieder. Er vegetierte noch ein paar Wochen dahin. Und erhängte sich dann im Keller. Lorenz, zehn-jährig, verschwitzt nach dem Fussballspiel, fand den toten Bruder am Strick.

Damals hatte er sich geschworen, das Leiden auf der Welt zu verringern. Er träumte von einem riesigen Forschungslabor, in dem er so lange herumtüfteln wollte, bis er eine magische Pille entwickelt hatte, die alles menschliche Unglück zum Verschwinden brachte.

Tillmann lächelte wehmütig vor sich hin, als er daran dachte. Wenn es nur so einfach gewesen wäre. Vom Heilen qualvoller Störungen war er noch meilenweit entfernt. Immerhin hatte er Medizin studiert und sich für die Psychiatrie entschieden. Etwas anderes war nie in Frage gekommen. Er hatte es bis an die Spitze geschafft. Seinen Mitarbeiterstab führte er mit straffer Hand, wohlwollend, aber klar. Manche nannten ihn autoritär, sogar machtbesessen, das wusste er. Doch sie irrten sich. Er war nur ein Mann mit einem Ziel. Einer, der seine Visionen nicht aufgegeben hatte.

Er erreichte Erlenbach und fuhr langsamer. Er hoffte, dass er rechtzeitig eintraf und dass Carla Manser nichts zugestossen war. Links ging eine Strasse hoch. Er bremste ab, schaltete einen Gang herunter und fuhr ein Stück hinauf. Nach hundert Metern merkte er, dass er zu früh abgebogen war, wendete und nahm die nächste Abzweigung.

Er erkannte die Fabrik schon von weitem. Sie war lichtüberflutet. Mehrere Streifenwagen standen mit offenen Türen herum, grelles Scheinwerferlicht beleuchtete die Szenerie. Reifenabdrücke waren auf dem Boden zu sehen. Überall eilten Leute umher, riefen sich kurze Anweisungen zu, steckten das Gelände ab und suchten mit Taschenlampen nach Spuren.

Tillmann parkierte den Chrysler neben einem verrosteten Zaun und stieg aus. Sofort kam ein Polizist auf ihn zu. Er scheuchte Tillmann mit resolutem Winken weg. «Kein Zutritt! Verlassen Sie bitte das Areal!»

«Was ist denn passiert?», fragte Tillmann und trat ihm einen Schritt entgegen.

Der Uniformierte hinderte ihn am Weitergehen. «Dies ist eine polizeiliche Untersuchung. Unbefugte haben sich fernzuhalten.»

Ein anderer wurde auf sie aufmerksam und rief: «Was ist los, Koller? Wer ist das?»

«Bereits der erste Schaulustige!», gab Koller abschätzig zurück.

«Ich bin nicht aus Neugier hier», verteidigte sich Tillmann. «Ich bin der Leiter der Klinik ‹Seeblick›. Eine unserer Psychiaterinnen hat mich angerufen.»

«Carla Manser?»

«Genau.»

«Tommy!», schrie Koller quer über den Platz. «Wir haben hier einen möglichen Zeugen!»

«Bring ihn her!», kam es zurück.

«Folgen Sie mir», meinte Koller und führte Tillmann zu einem Kollegen mit scharfen Gesichtszügen, der arrogant lächelte: «Sie müssen sich von mir ein paar Fragen gefallen lassen, Herr –»

«Tillmann. Doktor Tillmann.» Seinen Titel zu erwähnen, konnte unter diesen Umständen nicht schaden.

«Doktor Tillmann. Was führt Sie hierher?»

Tillmann erklärte in wenigen Worten, wie er informiert worden war, und wollte dann wissen: «Wo ist Frau Manser?»

«Das kann ich Ihnen leider nicht mitteilen.»

Tillmann spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. «Sie ist doch nicht etwa … es geht ihr doch gut, oder?»

«Sie lebt, falls Sie das meinen», gab der Uniformierte zurück. «Sie ist unverletzt. Wenigstens beinah.»

«Was soll das heissen? Hat Berthold ihr etwas angetan?»

«Nur ein Kratzer auf der Wange.»

«Kann ich sie sehen?»

«Unmöglich.»

Tillmann schaute ihn fragend an. «Aber Sie sagten doch –»

«Ich sagte, es geht ihr gut», erwiderte der Polizist barsch und verschränkte die Arme vor der Brust. «Ich sagte nicht, sie sei hier. Und nun zu Ihnen.»

«Moment!» Tillmann hatte sich vom ersten Schock erholt. Carla Manser war am Leben, das war die Hauptsache. Doch er hasste es, wenn sich jemand so vor ihm aufspielte. Dass er bisweilen ähnlich auftrat, war ihm bewusst, aber das war etwas anderes. Er hatte schliesslich einen verantwortungsvollen Posten. Dieser Ordnungshüter hier war ein kleiner Wichtigtuer, der vor seinem Vorgesetzten den Bückling machte, darauf hätte Tillmann gewettet. «Ich will wissen, was passiert ist. Frau Manser arbeitet eng mit mir zusammen. Klären Sie mich auf, danach beantworte ich gern Ihre Fragen.»

Der Polizist herrschte ihn an: «Wir sind Ihnen überhaupt keine Auskunft schuldig! Ich informiere Sie freiwillig.»

Tillmann verbiss sich eine Antwort.

Der andere fuhr fort: «Es liegt ein Tötungsdelikt vor. Carla Manser wurde festgenommen.»

«Wie bitte – festgenommen? Wie um alles in der Welt konnte das passieren? Und wer wurde getötet?»

«Kein Kommentar.»

«Aber Frau Manser kann unmöglich –»

«Die Situation war eindeutig.»

Tillmann brauchte einen Moment, um das zu verdauen. «Und Berthold? Haben Sie ihn ebenfalls verhaftet?»

«So ist es.»

«Sie behaupten doch nicht allen Ernstes, die beiden hätten gemeinsame Sache gemacht! Das ist absolut lächerlich!»

«Ich behaupte gar nichts. Ich kläre auf.» Der andere steckte seine Hände in die Hosentaschen und liess den Blick über seine Kollegen schweifen.

Tillmann schüttelte verständnislos den Kopf. Die Psychiaterin Manser in Polizeigewahrsam. Das war ungeheuerlich. Womöglich stürzte sich schon bald die Boulevardpresse darauf und zog seine Klinik in den Dreck.

Der Uniformierte fuhr fort: «In Kürze werden die Kripo-Kollegen aus Zürich eintreffen. Polizeifotografen, Spurensicherung, Gerichtsmediziner. Bis dann muss ich Sie hierbehalten, die werden mit Ihnen sprechen wollen. Aber ich nehme ihnen schon mal etwas Arbeit ab.» Er zückte einen Notizblock, schraubte einen Kugelschreiber auf und ratterte: «Name, Adresse, Telefonnummer, Arbeitsort?»

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9783858825865
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