Читать книгу: «Vergewaltigung», страница 3

Шрифт:

Trotzdem ist die Tatsache, dass Frauen nicht primär durch Schokolade und Liebeserklärungen und Babys sexuell erregt werden,84 wohl so überraschend, dass sie immer wieder mit wissenschaftlichen Experimenten bewiesen werden muss. Bis vor kurzem wurden Daten mit dem bewährten Mittel des Fragebogens erhoben. Proband*innen bekamen Bilder oder Filme zu sehen und kreuzten an, was sie ansprach. Wenig überraschend kam dabei genau das heraus, was erwartet wurde: Männer reagierten mehr oder minder stark auf visuelle Reize wie Brüste oder andere Geschlechtsteile, während Frauen nicht durch sexuelle Stimuli erregt wurden, sondern durch emotionale. Bei anonymen Befragungen fielen die Ergebnisse etwas anders aus, aber grundsätzlich schienen Menschen, wenn es um Sex ging, in erster Linie eines zu tun: zu lügen.

Oder sich selbst anzulügen. Oder nicht mitzubekommen, wie ihre Körper reagierten. Deshalb maß J. Michael Bailey, Professor für Psychologie an der Northwestern University in Illinois, 2002 in einer groß angelegten Studie die Reaktionen auf Bilder mit sexuellem Inhalt direkt an den Genitalien.85 In der Gruppe der männlichen Testpersonen wurden heterosexuelle Männer laut Selbstauskunft am meisten durch Pornos mit heterosexuellem Sex erregt, gefolgt von lesbischem und schließlich schwulem Sex. Bei homosexuellen Männern war es umgekehrt. Auch in der Gruppe der weiblichen Testpersonen stuften lesbische Frauen laut Selbstauskunft lesbische Pornos als am stimulierendsten ein, danach heterosexuelle und an letzter Stelle schwule (und heterosexuelle Frauen anders herum) – bloß dass ihre Genitalien eine komplett andere Geschichte erzählten: Durchblutung und Feuchtigkeit war bei jeder Form von homosexuellem Sex am intensivsten, während heterosexuelle Akte zwar niedrigere Werte erzielten, doch sogar kopulierende Bonobos bekamen eine Reaktion.

Die Studie krankte an allem Möglichen: dass sie nur in den Kategorien Männer/Frauen sowie heterosexuell/homosexuell konzipiert war und dass Sex ausschließlich in den Genitalien verortet wurde. Was sie jedoch eindeutig widerlegte, war der Sex-Mythos: »Dass Männer, wenn es um Sex geht, eher auf visuelle Reize reagieren als Frauen, und sowieso immer Sex haben wollen.«86

Doch sobald es um Frauen und Erregung geht, ist das Überraschendste an den bahnbrechenden neuen Erkenntnissen, dass diese bereits als bahnbrechend betrachtet werden.

Damit nicht genug, muss das Gegensatzpaar Männer-visuell/Frauen-emotional wieder und wieder widerlegt werden. Heather Rupp vom Kinsey Institute maß zusammen mit Kim Wallen, Professor für Psychologie und Neuroendokrinologie an der Emory University, die Zeit, die Proband*innen erotische Bilder ansahen, ohne den Blick abzuwenden.87 Selbst im Hundertstelsekundenbereich gab es keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Testpersonen. Darauf zeigten sie ihnen Bilder von Sonnenuntergängen, um herauszufinden, ob sie beim Betrachten von Sex größere Hirnaktivität aufwiesen. Selbstverständlich. Spannend wurde es allerdings bei der Auswertung, welche Teile der Bilder sich Wallens und Rupps Proband*innen anschauten. Eye Movement Tracking enthüllte, dass Männer mehr Zeit mit Gesichtern verbrachten, Frauen, die keine hormonelle Empfängnisverhütung benutzten, bevorzugten dagegen Genitalien und Frauen mit hormoneller Empfängnisverhütung die Kleidung der abgebildeten Personen und den Hintergrund. So viel zu der These, dass Männer immer zuerst auf die Titten schauen.

Auch ist aktives weibliches Begehren ja keineswegs eine Erfindung der sexuellen Revolution oder der feministischen Revolution oder der sexuellen feministischen Revolution, sondern seit Jahrhunderten der sprichwörtliche weiße Elefant im Raum. Als Rom 2011 das Archiv der Apostolischen Pönitentiarie für Wissenschaftler*innen öffnete, fanden diese darin Tausende von Briefen aus dem 15. Jahrhundert, in denen Frauen vor dem obersten Gerichtshof der katholischen Kirche ihre sexuelle Befriedigung einklagten.88

Deshalb ist es so bezeichnend, dass Laurie Penny, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in ihren Texten gerade Unsagbare Dinge – so der Titel eines ihrer Bücher – auszusprechen, reflektiert: »Als ich Unsagbare Dinge schrieb, wollte ich ursprünglich über meine (positiven) sexuellen Erfahrungen schreiben. Aber am Ende entschied ich mich dagegen, weil mich Journalist*innen sonst nur danach gefragt hätten. Und das bedauere ich inzwischen. Mir ist aufgefallen, dass ich es in meinen politischen Texten leichter fand, darüber zu schreiben, dass ich vergewaltigt worden bin, als über all den Sex, den ich selbst wollte.«89

Sexing the Difference III: Nein heißt nein!

Ein Buch hat die Art, wie wir über Vergewaltigung sprechen, radikaler verändert als jedes andere Werk des 20. Jahrhunderts – ja, ihm wird sogar das Verdienst zugeschrieben, die »Verschwörung des Schweigens«90 durchbrochen zu haben, so dass wir überhaupt darüber reden: Susan Brownmillers Bestseller Gegen unseren Willen von 1975 war eines der ersten Bücher der US-amerikanischen Frauenbewegung der 1970er Jahre, das vom Mainstream nicht nur akzeptiert, sondern förmlich gefeiert wurde. Brownmiller galt als Pionierin, »die die Existenz von Vergewaltigung, die von Historikern bisher ignoriert oder trivialisiert worden ist, als treibenden Faktor der Weltgeschichte enthüllt hat«.91 Das Buch löste eine breite Debatte aus, in deren Folge die Rechtsprechung zuerst in den USA und daraufhin in zahlreichen weiteren Ländern geändert wurde, und 1976 wählte das Time Magazine Brownmiller zur Frau des Jahres.

Dass Gegen unseren Willen derartige Auswirkungen hatte, lag daran, dass das Buch nicht nur die Geschichte eines Verbrechens erzählte, sondern anhand von Vergewaltigung eine Analyse der herrschenden Gesellschaftsordnung lieferte. Nach Brownmiller war Vergewaltigung Ursprung und Urszene des Patriarchats. Entsprechend beginnt auch ihre Argumentation wie bereits Krafft-Ebings – und Ellis’ und Darwins und so weiter – in der Urgeschichte mit der Überwältigung der schwachen Frau durch den starken Mann. Allerdings hat sie für diese Szene eine deutlich andere Interpretation: »In der gewalttätigen Welt der primitiven Menschen hatte eine Frau irgendwo einmal die Zukunftsvision ihres Rechts auf eigene körperliche Integrität, und ich sehe sie vor mir, wie sie wie der Teufel darum kämpfte. Urplötzlich war ihr klar geworden, dass dieses spezielle Exemplar eines behaarten Zweibeiners nicht gerade der Homo sapiens war, mit dem sie sich gern zusammengetan hätte, und so war sie es vielleicht, und nicht ein Mann, die den ersten Stein aufnahm und ihn warf. Wie verblüfft muss er gewesen sein, und welch ein unerwarteter Kampf muss dann stattgefunden haben.«92

Trotz ihrer progressiven Ansichten über das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper konnte Brownmillers Urfrau den Kampf jedoch nicht gewinnen, denn sie hatte etwas, das sie inhärent verletzlich machte: ihre Genitalien. »Die im Mann angelegte Fähigkeit zu vergewaltigen und die entsprechende Verletzlichkeit der Frau liegen ebenso in unserer Physiologie begründet wie der eigentliche Geschlechtsakt selbst. Ohne diesen biologischen Zufall, ohne diese Vorrichtung, die zwei ineinander passende Teile, Penis und Vagina, erfordert, gäbe es weder Geschlechtsverkehr noch Vergewaltigung.«93 Es war heikel, dass Brownmiller ihre Kulturgeschichte mit einer Fiktion einleitete.94 Auch wurde sie, vor allem von afroamerikanischen Autor*innen, für ihre unreflektierte Reproduktion von rassistischen Stereotypen im weiteren Verlauf des Buches kritisiert. Doch stieß sich damals niemand sonderlich an der biologistischen Grundannahme: »Es ist dem Bauplan der Geschlechtsorgane, um den man nicht herumkommt, zuzuschreiben, dass der Mann der natürliche Verfolger des Weibes war und die Frau seine natürliche Beute.«95

Das muss man nun im Kontext der Zeit lesen, in der Ehemänner den Arbeitsvertrag ihrer Frauen kündigen durften, wenn sie meinten, dass diese wegen ihres Berufs den Haushalt nicht sorgfältig genug machten,96 Frauen für die gleiche Arbeit geringere Stundenlöhne bekamen und ihnen ganze Berufszweige (wie beispielsweise die Polizei97) verschlossen waren. Bei diesen ungleichen Ausgangsbedingungen ist es wenig verwunderlich, dass Brownmiller der Verdacht kam, Männer hätten vielleicht einen schlechten Charakter. Und da wir alle aus den gleichen Zellen bestehen, musste der Grund für den Machtunterschied – und die damit einhergehende Möglichkeit für Machtmissbrauch – auf einer anderen Ebene zu finden sein. Was lag also näher, als ihn in den einzigen Teilen des Körpers zu suchen, die offensichtlich unterschiedlich waren?

In der politischen Theorie der 1970er Jahre bestand die Persönlichkeit aus zwei Anteilen, nature und nurture. Wo nature unveränderlich war, lag nurture in der Hand der Gesellschaft. Und bei genauerem Lesen fällt auf, dass Gegen unseren Willen durchaus beide Anteile berücksichtigt: Vergewaltigung als durch die Genitalien determinierte Handlung und als Ergebnis kultureller Prägungen. So beschreibt die imaginierte Urszene den »ersten Vergewaltigungsversuch«98 als Schlüsselerlebnis für die fliehende Frau ebenso wie für ihren männlichen Verfolger, der nun die zweite Vergewaltigung plant. »Ja, eine der frühesten Formen männlicher Gruppenbildung wird die zur gemeinsamen Vergewaltigung einer Frau gebildete Bande plündernder Männer gewesen sein. Und nachdem dies vollbracht war, wurde Vergewaltigung nicht nur ein männliches Privileg, sondern auch das entscheidende Machtinstrument des Mannes gegenüber der Frau, der Durchsetzung seines Willens und Hauptursache ihrer Furcht. [Der] Triumph seiner Männlichkeit.«99

Bis heute ist die Schilderung von körperlichen Grenzüberschreitungen als »Triumph« (des Vergewaltigers) ein Topos in Vergewaltigungserzählungen, ebenso wie die »Entdeckung des Mannes, dass seine Genitalien als Waffe zu gebrauchen sind«. Wobei man meinen sollte, dass sich kaum etwas weniger als Waffe eignet als ein Penis, doch ist diese Analogie noch deutlich älter als Gegen unseren Willen. Brownmiller kommt zu dem Schluss: »Die Frau war für den Mann der erste bleibende Wert, den er erwarb, sein erstes echtes Besitzstück und somit Grundstock und Eckpfeiler des ›Vaterhauses‹.«100

Als Buch einer Bewegung hatte Gegen unseren Willen das erklärte Ziel, die Verhältnisse zu verändern, und an diesem Eckpfeiler sollte das Vaterhaus in der Folge angegriffen werden. Wobei Vaterhaus selbstverständlich eine literarische Umschreibung für das Patriarchat war, das nun als System zur Vergewaltigung von Frauen verstanden wurde, ebenso wie Vergewaltigung im Umkehrschluss als System zur Stabilisierung des Patriarchats. Der berühmteste Satz des Buches lautete: »[Vergewaltigung] ist nicht mehr und nicht weniger als eine Methode bewußter systematischer Einschüchterung, durch die alle Männer alle Frauen in permanenter Angst halten.«101

Diese Definition hatte ein solches Gewicht, weil Susan Brownmiller damit die Gretchenfrage des Feminismus beantwortete: »Wie hat das alles angefangen?«102 Dadurch ist Vergewaltigung jedoch nicht nur der Ursprungsmythos des Patriarchats, sondern auch der der zweiten Welle der US-amerikanischen Frauenbewegung. Denn für die Frauenrechtlerinnen des 19. Jahrhunderts hatte die Frage der sexuellen Gewalt nur eine marginale Rolle gespielt. »Es ist in der Tat auffällig, wie wenig Aufmerksamkeit die Feministinnen des 19. Jahrhunderts für Vergewaltigung übrig hatten«, bemerken die Historikerinnen Ellen Du Bois und Linda Gordon. Den Rang der »zentralen weiblichen Angst«103 hatte – zumindest in den bürgerlichen Teilen der Frauenbewegung – die Prostitution eingenommen. Anti-Vice-Organisationen104 debattierten, wie sie die männliche Lust stoppen und die Ehre der Frauen reinhalten könnten.105 Wenn die britische Suffragette Frances Swiney feststellte: »Die Erlösung der Frau vom Mädchenhandel kann nur durch die Erlösung des Mannes von seiner Sexbesessenheit erreicht werden«106, dann hörte sich das nicht zufällig nach dem frigide-Frauen/feurige-Männer-Modell von menschlicher Sexualität an. Denn diese Ansichten darüber, was uns zu Männern und Frauen – und damit erst als Menschen vorstellbar – macht, waren so weitreichend, dass sie die Grenzen der politischen Lager überschritten, und auch die Feministinnen der 70er Jahre griffen auf diese bereits vorhandenen Argumentationsstrukturen zurück. Nur dass der Kampf gegen Prostitution und Geschlechtskrankheiten inzwischen vom Kampf gegen Vergewaltigung als gemeinsames Ziel abgelöst worden war.

Zu sagen, dass sich die US-amerikanische Frauenbewegung der 70er Jahre um Anti-Rape-Gruppen organisiert hätte, würde dieser wichtigen sozialen Bewegung jedoch nicht gerecht. Doch nahm die Auseinandersetzung mit Vergewaltigung in den USA eine ähnliche Position ein wie zeitgleich in Europa der Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen: Sie lieferte eine vereinende Erfahrung und wurde zur Metapher für all das, was mit den Geschlechterverhältnissen nicht stimmte. Oder, wie die Autorin und Mitgründerin der New York Radical Women Robin Morgan es ausdrückte: »Vergewaltigung ist die ultimative Metapher für Unterdrückung, Gewalt und Herrschaft.«107

Nun wird der Diskurs über etwas so Allgegenwärtiges wie Geschlecht gleichzeitig immer wieder radikal in Frage gestellt. Und so wartete die »neue Vergewaltigungsgeschichte«108 mit einigen grundlegenden Änderungen auf. Vor dem Anti-Rape-Aktivismus der 70er Jahre hatte es ein mehr oder minder festes Set an Vorstellungen über Vergewaltigung gegeben:

– Vergewaltigung ist Sex.

– Frauen sagen nein, wenn sie ja meinen.

– Opfer sind schöne, junge Frauen, deren Attraktivität einen Mann so erregt, dass er sich nicht mehr beherrschen kann.

– Alternativ sind Opfer Flittchen, die Männer bewusst provozieren und es nicht besser verdienen.

– So oder so trägt das Opfer (Mit-)Schuld an der Vergewaltigung, weil es den Täter durch seinen Minirock oder aufreizendes Verhalten eingeladen hat.

– Denn Frauen wünschen sich im Grunde ihres Herzens, vergewaltigt zu werden.

– Vor allem Frauen, die mit einem Mann beim ersten Date nach Hause gehen, wollen in Wirklichkeit Sex.

– Eine Frau, die sich wehrt, kann nicht vergewaltigt werden. (Gleichzeitig allerdings paradoxerweise: Keine Frau kann sich erfolgreich gegen eine Vergewaltigung wehren, also kann sie sie genauso gut genießen.)

– Echte Vergewaltigungen sind sehr selten,

– Falschanzeigen dagegen häufig, weil Frauen entweder Hysterikerinnen sind oder sich an einem Mann, der sie abgewiesen oder sitzengelassen hat, rächen wollen oder versuchen, eine uneheliche Schwangerschaft zu rechtfertigen.

– Täter sind gesellschaftliche Außenseiter, Psychopathen und/oder Sexmonster.

– Vergewaltigungen geschehen im öffentlichen Raum und nicht zu Hause, und Täter und Opfer sind nicht miteinander bekannt (der Fremde hinter dem Busch) usw.

Und nun kam die Anti-Vergewaltigungs-Bewegung und bezeichnete diese Überzeugungen durch die Bank als Vergewaltigungsmythen (rape myths), deren Existenz darauf hinweise, dass wir in einer Kultur der Vergewaltigung, also in einer Rape Culture109 lebten. »Das ist ein zentraler rhetorischer Trick. Er nimmt alle Elemente des alten Narrativs und kehrt sie in ihr Gegenteil um. Er liefert die knappste und effektivste Erklärung für die alte narrative Struktur, indem er sie als ›Mythen‹ bezeichnet, und macht sie damit auf einen Streich ungültig. Tatsächlich liefert die Umkehrung jedes einzelnen Mythos die Hauptelemente für die neue Story«110, erklärt der Sozialpsychologe Ken Plummer, der in seiner Arbeit die Bedeutung der Geschichten heraushebt, die wir (uns selbst und anderen) über unsere sexuelle, psychische oder spirituelle Identität erzählen, und untersucht, wie wir dadurch Sinn – und in vielen Fällen auch eine politische Agenda – erzeugen. In Bezug auf Vergewaltigung bedeutet das: Wo vorher nur schöne, junge Frauen vergewaltigt wurden, galten nun alle Frauen als potenzielle Opfer, keine Frau trug Schuld an ihrer Vergewaltigung, Falschanzeigen waren unglaublich selten und so weiter. »Das ist ein klassisches rhetorisches Mittel: Die eigene Haltung als Gegensatz zu einer bestehenden Haltung zu entwickeln. Geschichten werden nicht in Abgeschiedenheit formuliert, sondern im Widerspruch zu anderen Geschichten. Das wird an ›Myth debunking‹ – also dem Entlarven von Mythen – besonders deutlich.«111

Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Vergewaltigungsmythen in Wirklichkeit der Wahrheit entsprochen hätten, sondern dass der alte Diskurs den neuen noch immer bestimmte, wenn auch als Negativfolie. (Und in einzelnen Aspekten auch ganz direkt, so galten nach wie vor nur Frauen als Opfer, nur Männer als Täter, wegen der wesensimmanenten Verletzlichkeit der Frau und des ebenso wesensimmanenten Wunsches des Mannes, sie zu beherrschen.)

Im Zentrum des Debunkings standen zwei Punkte: Aus ›Nein heißt ja!‹ wurde ›Nein heißt nein!‹, und Susan Brownmiller definiert in Gegen unseren Willen, dass Vergewaltigung nichts mit Sex zu tun habe, sondern ein reines Gewaltverbrechen sei; echter Sex basiere auf Konsens und sei frei von Gewalt. Auf diese Weise entkräftete sie zugleich alle weiteren Punkte, in denen es um die Verantwortung oder Mitverantwortung der Frau ging, denn durch die neue Definition als Gewaltverbrechen wurden das Aussehen des Opfers, ihre Kleidung und ihr Verhalten irrelevant. (Kurz: Es war egal, wie »sexy« die Frau war, da es ja gar nicht um Sex ging.) Das war vor allem in Bezug auf Gerichtsverfahren wichtig, in denen Opfer noch bis in die 1980er Jahre ausführlich zu ihrem Sexualleben befragt wurden, da eine Frau, die freiwillig Sexualverkehr hatte, nicht dem Bild des »echten« – also möglichst jungfräulichen – Vergewaltigungsopfers entsprach. Das ist der Grund, warum Feministinnen heute von sexualisierter – und nicht von sexueller – Gewalt sprechen, um deutlich zu machen, dass Sex zwar die Waffe, nicht aber die Motivation bei einer Vergewaltigung ist. Dabei war das damals keineswegs unumstritten. So hatte die feministische Rechtswissenschaftlerin und Anwältin Catharine MacKinnon, die ansonsten weitgehend mit Brownmiller übereinstimmte, sie mit der berühmten Frage kritisiert: »Wenn es nur um Gewalt und nicht um Sex ging, warum hat er sie dann nicht einfach geschlagen?«112

Als der Philosoph Michel Foucault 1977 bei den Round-Table-Gesprächen113 zu dem Problem der Vergewaltigung gefragt wurde, klangen seine Ausführungen wie eine zeitversetzte Antwort auf MacKinnons Frage: »Ob man irgend jemandem seine Faust in die Fresse oder seinen Penis ins Geschlechtsteil schlägt, bezeichnet keinen Unterschied«, schlug Foucault vor. »Die Sexualität kann auf keinen Fall Gegenstand einer Bestrafung sein. Und wenn man die Vergewaltigung bestraft, dann sollte man ausschließlich die physische Gewalt bestrafen.«114 Er ging noch einen Schritt weiter, dass es sogar problematisch sei, Vergewaltigung explizit von anderen Formen von Gewalt zu unterscheiden, »Denn damit sagt man Folgendes: Die Sexualität als solche hat im Körper einen entscheidenden Platz, das Geschlecht, und nicht eine Hand, nicht die Haare, nicht die Nase. Man muss es folglich schützen, es umgeben, auf jeden Fall mit einer Gesetzgebung ausstatten, die nicht die sein wird, welche für den Rest des Körpers gilt.«115 Obwohl Foucault mit seiner Aussage, Vergewaltigung sei »nicht mehr und nichts anderes als eine Aggression«116, sozusagen Brownmiller paraphrasierte, gab es keine Hurra-Rufe, sondern deutliche Kritik von den anwesenden Frauen und in der Folge von zahlreichen feministischen Theoretikerinnen, er würde Vergewaltigung banalisieren.117

Das lag daran, dass Foucault und Brownmiller über komplett unterschiedliche Aspekte der komplexen Verstrickung, die Vergewaltigung ist, gesprochen hatten. Während er – aus der Sicht des (männlich imaginierten) Täters – versuchte, die Macht des Sexualitätsdiskurses (als Instrument der sozialen und politischen Kontrolle) zu verringern, wollte sie – und mit ihr die zweite Welle der Frauenbewegung – Vergewaltigungsopfer von der Mitschuld an dem an ihnen begangenen Verbrechen exkulpieren, außerdem sollte es durch die Neudefinition von Vergewaltigungen für Frauen leichter werden, (vor Gericht) darüber zu sprechen, ohne sofort sexualisiert zu werden.

Die Verheerungen, die sexualisierte Gewalt anrichtete, sollten jedoch keineswegs relativiert werden. Und wo die Motivation des Vergewaltigers Gewalt und nichts als Gewalt war, unterschieden sich die Auswirkungen der Vergewaltigung auf das Opfer radikal von denen sonstiger Gewalt, da das Ziel nicht der Körper ist, sondern sein Selbstbestimmungsrecht über eben jenen Körper – was sich nach einer marginalen Unterscheidung anhört, bis man bedenkt, dass die (physische, psychische und legale) Selbstbestimmung – versus die Fremdbestimmung durch einen Mann – ja das Ziel der Emanzipation war. Die Autorin Susan Griffin erklärt: »[Vergewaltigung ist] ein Akt der Aggression, bei dem dem Opfer seine Entscheidungsfreiheit genommen wird. Es ist eine gewaltsame Tat, die auch, wenn das Opfer nicht zusammengeschlagen oder ermordet wird, in ihrem Kern stets eine Morddrohung beinhaltet.«118

Da der Anti-Rape-Aktivismus mit der Hochzeit der Massenmedien einherging und die Vereinigten Staaten die Hauptexporteure für politische und kulturelle Produkte in die westliche Welt waren, wurden die Theorien und Bücher der amerikanischen Frauenbewegung international extensiv rezipiert. Die deutsche Übersetzung von Gegen unseren Willen erschien im selben Jahr wie das amerikanische Original. Kurz darauf folgte Marilyn Frenchs bekanntester Roman The Women’s Room – auf Deutsch schlicht Frauen. Darin griff die Autorin Virginia Woolfs berühmtes Gleichnis von Shakespeares Schwester auf. Doch während bei Woolf die hypothetische Schwester des Schriftstellers daran scheiterte, dass sie keine Ausbildung, keine Arbeit und keine Möglichkeit bekam, sich im öffentlichen Raum Inspirationen zu suchen, wurde sie bei French vergewaltigt, stellte fest, dass sie schwanger war und heiratete den nächstbesten Mann, um ihr Kind zu ernähren. French schloss: »Shakespeares Schwester hatte die Lektion gelernt, die alle Frauen lernen: Männer sind der ärgste Feind.«119

Ein Großteil der Feministinnen grenzte sich vehement von diesem ebenso wie von dem am häufigsten zitierten Satz des Buches ab: »In ihren Beziehungen zu Frauen sind alle Männer Vergewaltiger und nichts anderes.«120 Dagegen wurde die These von Vergewaltigung als einem der Hauptpfeiler des Patriarchats grundsätzlich übernommen, weshalb die Erfahrung von sexueller Gewalt in zahlreichen Texten der 1970er und 80er121 Jahre eine essenzielle Rolle spielte. Die Amerikanistin Maria Lauret nennt diese Romane »feministische Fiktion der Subjektwerdung« oder expliziter: Geschichten darüber, »wie ich zur Feministin wurde«122.

1 435,42 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
352 стр. 4 иллюстрации
ISBN:
9783960542469
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip

С этой книгой читают