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Sexing the Difference I: Nein heißt ja!

Zur Ehrenrettung der Parole »Nein heißt nein« muss man erwähnen, dass Nein lange Zeit natürlich nicht Nein hieß, sondern schlicht Ich bin weiblich. Männliche Gewalt und weibliches Sträuben waren ein integraler Teil der Konstruktion von »normaler« Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert. »Ist [ein Weib] geistig normal entwickelt und wohlerzogen, so ist sein sinnliches Verlangen ein geringes«28, bezeugte der Begründer der Sexualwissenschaft Richard von Krafft-Ebing und erklärte sich das so: »Wäre dem nicht so, so müsste die ganze Welt ein Bordell und Ehe und Familie undenkbar sein. Jedenfalls sind der Mann, welcher das Weib flieht, und das Weib, welches dem Geschlechtsgenuss nachgeht, abnorme Erscheinungen.«29 Da Frauen vermeintlich kein eigenes sexuelles Begehren hatten, war es die Aufgabe des galanten Mannes, sie zu überwältigen. Und die Frauen – die zwar nicht selber wollten, aber doch wollten, dass er wollte – stachelten ihrerseits den sexuellen Drang des Mannes durch ihre scheinbare Abwehr an, wie der Jurist Max Thal in seiner Streitschrift gegen »die sexuelle Doppelmoral« aufklärte: »(M)anch eine stammelt noch ein abwehrendes, rührend tiefes: ›Nicht doch!‹, wenn schon alles vorüber ist.«30

Damit hatte Thal die Tradition auf seiner Seite. So schrieb bereits der römische Dichter Ovid in seiner Liebeskunst: »Vielleicht wird sie zuerst dagegen ankämpfen und Unverschämter! sagen; sie wird aber im Kampf besiegt werden wollen.«31 Überhaupt geht die Idee des feurigen Mannes und der frigiden Frau auf die klassische Antike zurück,32 auf Aristoteles, der von einer größeren inneren Hitze des Mannes ausging – wortwörtlich. Das Fehlen dieses inneren Feuers führe dazu, dass die Frau in einem Stadium der Unfertigkeit verbliebe, was ihre physische, intellektuelle, aber vor allem sexuelle Potenz anginge. Schließlich sei sie noch nicht einmal in der Lage, ihre Menstruationsflüssigkeit zu kochen und damit zu Samen zu machen!33

Nachdem medizinische Erkenntnisse die Existenz eines realen Temperaturunterschieds ad absurdum geführt hatten, musste ein anderes Modell herhalten, um den imaginierten Temperamentunterschied zwischen den Geschlechtern zu erklären. Das vom Darwinismus geprägte 19. Jahrhundert fand dies in der Geschlechterordnung der Urgeschichte – nicht in der tatsächlichen Urgeschichte wohlgemerkt, sondern in einer Flintstones-Version der bürgerlichen Gesellschaft.34 Der Sexualforscher Havelock Ellis führte aus: »Die Zurückhaltung des Weibes – die in ihrer ursprünglichen Form als körperlicher, aktiver oder passiver, Widerstand gegen die Angriffe des Mannes sich darstellt – hat die Auslese gefördert, indem sie die wichtigste Eigenschaft des Mannes, Stärke, auf die Probe stellt. So kommt es, dass das Weib bei der Wahl unter Männern, die um ihre Gunst wetteifern, der Kraft den Vorzug gibt. Im Kampfe ums Dasein ist Gewalttätigkeit die erste Tugend.«35

Die sexuelle Selektion war Charles Darwins große Neuerung, und sie gestand Frauen in gewisser Form eine größere Rolle in der Fortpflanzung zu: War sie vorher komplett passiv, konnte sie jetzt auswählen, von welchem Mann sie überwältigt wurde. In Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl schrieb Darwin: »[Das Weibchen] ist spröde, und man kann oft sehen, dass es eine Zeit lang den Versuch macht, dem Männchen zu entrinnen […] Das Ausüben einer gewissen Wahl von Seiten des Weibchens scheint ein fast so allgemeines Gesetz wie die Begierde des Männchens zu sein.«36 Diese Wahl beinhaltete jedoch nicht, dass Frauen selbst nach Sexualpartnern suchten, ein solches Verhalten sei wesensfremd und würde sie für die virilen Männer unattraktiv machen.37 Wo für Männer das Überleben des Stärksten galt, schien es für Frauen das Überleben der Schwächsten und Passivsten zu sein. Wie bereits Susan Sontag bemerkte: »In unserer Kultur [ist] alles, was mit der Sexualität zusammenhängt, zu einem ›besonderen Fall‹ geworden – ein Vorgang, der zu merkwürdig widersprüchlichen Verhaltensweisen führte.«38

Die Überzeugung von der Frigidität der Frau und der heißen Begierde des Mannes durchdrang noch bis ins 20. Jahrhundert alle Bereiche: allgemeine Rollenvorstellungen, Kommunikation, gelebte und imaginierte Sexualität, so dass eine Frau, die einen Mann nicht wollte, weil sie ihn halt nicht wollte, massiv körperlich gegen ihn ankämpfen musste, da er sonst davon ausgehen konnte, dass sie einfach nur eine »echte Frau« war.

Für das deutsche Strafrecht war die Idee der nicht unwillkommenen Gewalt – das römische Konzept der vis haud ingrata – noch bis in die 1970er Jahre relevant. So wurde bei einem Strafprozess der Nachweis erwartet, dass die Frau sich nicht nur gewehrt, sondern diesen Widerstand die ganze Zeit über aufrechterhalten hatte, schließlich hätte ihre Erregung ja noch später auf verschlungenen, geheimnisvollen Wegen einsetzen können, nachdem ihr »natürlicher« sexueller Widerwille überwunden worden wäre.39

Nun hat sich inzwischen zwar die (Rechts-)Auffassung von der weiblichen »Natur« geändert, nicht aber die der männlichen. Weshalb Bestseller wie die Ratgeber von Ellen Fein und Sherrie Schneider – Die Kunst, den Mann fürs Leben zu finden: »The Rules« und Die neue Kunst, den Mann fürs Leben zu finden: The Rules II und Die Kunst, den Mann fürs Leben zu halten und so weiter – ihren Millionen von Leserinnen Passivität mühsam beibringen und ihnen erklären, dass sie, um einen Mann zu bekommen, diesen erst einmal ablehnen müssen, weil Männer von Frauen, die wissen, was sie wollen, abgestoßen seien. Ein Bewerbungstraining, das Bewerberinnen riete, sie würden einen Job nur kriegen, wenn sie bloß keine Unterlagen einschickten und sich nicht interessiert zeigten, würde sich wohl kaum verkaufen, doch Die Regeln sind so populär, dass Oprah Winfrey konstatierte: »The Rules isn’t just a book, it’s a movement, honey.«40 Und auch diesseits des Atlantiks kolportieren Frauenmagazine und Selbsthilfebücher: »Sexuelle Forderungen der Frauen törnen Männer ab. Je gradliniger eine Frau […] einfordert, was sie will, desto weniger wahrscheinlich ist, dass sie es bekommt. […] Will sie sich einen Mann ›schnappen‹, muss sie unbedingt den Eindruck erwecken, dass sie ihn nicht haben will, darf seine Anrufe nicht entgegennehmen, seine Textnachrichten nicht beantworten, muss so tun, als sei sie ›schwer zu haben‹.«41

Das führte zu der paradoxen Auffassung, dass eine Frau umso begehrenswerter sei, je weniger Lust sie habe, während eine lüsterne Frau degeneriert sei und dadurch entsexualisiert, also entweiblicht werde. Schließlich war Weiblichkeit keineswegs gleich auf alle Frauen verteilt. Im 19. Jahrhundert wurde das am Genital gemessen: Je kleiner die – vor allem inneren – Labien waren, als desto zivilisierter galt eine Frau und desto geringer sei ihr sexuelles Verlangen. Anthropologen entwickelten eine wahre Obsession für die Schamlippen der »unzivilisierten« – das heißt kolonialisierten – Frauen, die sie maßen, beschrieben, fotografierten und katalogisierten. Dabei übersahen sie geflissentlich den Widerspruch zur These, dass die Frau vermeintlich bereits in der Vor- und Frühgeschichte sexuell passiv gewesen sein sollte, während sie diese Passivität nun als Ergebnis des Zivilisationsprozesses darstellten.

Damit es bei diesen eingeschränkten Handlungsspielräumen überhaupt zum Geschlechtsverkehr kommen konnte, bedurfte es des immer bereiten Mannes. »Dem mächtigen Drange der Natur folgend, ist er aggressiv und stürmisch in seiner Liebeswerbung«42, jubelte Richard von Krafft-Ebing. Die andere Seite der Medaille war, dass Männer, die in der »Liebeswerbung« nicht erfolgreich waren, nach diesem Modell unter ständigem sexuellen Druck standen. Aber auch die Ehe hielt sexuelle Frustration für die eine Hälfte der Verheirateten bereit. Andrew Jackson Davis – dem wir den Terminus »Gesetz der Anziehung«43 verdanken – führte in Anlehnung an Aristoteles aus: »Die Frau erhält unfehlbare und regelmäßige Erleichterung durch den menstruellen Ausfluss. Die von den vitalen ehelichen Essenzen angeschwollenen Eierstöcke fließen über und werden mit jedem Mond beruhigt und abgemildert.« Der Mann dagegen: »wie viel überreichlicher und schrecklich dringend sind seine zeugungsfähigen Ressourcen.« Die körperliche Nähe einer Frau, ohne mit ihr Sex zu haben, ließe ihn »aufgeladen bis zur Auszehrung, sogar bis zum Rande der unkontrollierbaren Gewalt«44.

Jackson beschwor die Männer, sich trotzdem zurückzuhalten. Doch war das »Dampfkesselmodell« im gerichtsmedizinischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts die bevorzugte Erklärung und Rechtfertigung für Notzucht, so die damalige Bezeichnung für Vergewaltigung. Viele Ärzte betrachteten Notzucht zwar als unmoralisch, aber unausweichlich und »stets der ungesunden Onanie45 bei fehlendem Zugang zu Prostituierten vorzuziehen […], da regelmäßiger Geschlechtsverkehr ein unverzichtbares ›Remedium‹ für die Gesundheit des Mannes darstelle«46. Anfang des 20. Jahrhunderts ging der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel gegen den Mythos der schädlichen Masturbation vor, da für ihn Samenerguss Samenerguss war und schwache Männer von dem unerträglichen Druck der verbotenen Gelüste befreite: »Die Onanie hat in diesem Sinne eine wichtige soziale Bedeutung. Sie ist gewissermaßen ein Schutz der Gesellschaft […] Würde man die Onanie vollkommen unterdrücken, die Zahl der Sittlichkeitsdelikte würde ins Unglaubliche steigen.«47

Noch in den 1970er Jahren korrelierte der renommierte Medizinhistoriker Edward Shorter die Zunahme von Vergewaltigungen in bestimmten Epochen mit dem Anstieg des Heiratsalters. Zwar seien die meisten Männer in der Lage, ihre Triebe unter Kontrolle zu halten, doch bei Individuen mit psychischen Abweichungen würde die heiße Begierde überkochen und sich in sexuellen Überschreitungen Bahn brechen.48

Als das Dampfkesselmodell aufkam, stellte es erst einmal einen Widerspruch zu der allgemeinen Auffassung dar, dass Männer das rationale Geschlecht seien. Wie konnte ihr Sexualtrieb dann dermaßen irrational sein? In der Folge wurden die Bereiche der Sexualität und Intimität Schritt für Schritt aus der Vernunftvorstellung herausgenommen, so dass die Trennung zwischen Körper und Geist noch weiter voranschritt.49 Von seiner überschießenden phallischen Energie zu Genie oder Verbrechen getrieben, eignete sich der Mann nun ebenfalls nicht mehr für seine angestammte Rolle als Vertreter der moralischen Ordnung. Wer wäre besser geeignet, diese vakante Stelle zu übernehmen, als die wegen ihrer fehlenden Leidenschaft sowieso nur selten in Versuchung geratende Frau?50 Als Hüterin der göttlichen Ordnung (Hegel) oder der moralischen Ordnung (Rousseau) erhielt sie obendrein noch die Verantwortung, die männliche Sexualität zu kontrollieren, indem sie ihre Kleidung und ihr Verhalten darauf abstimmte, seine leicht erregbare Libido nicht zu entflammen.

Die Warnung an Frauen, bloß nicht zu viel Alkohol zu trinken, wenn sie ausgehen, und Männern nicht die »falschen Signale« zu senden, ist ein Überbleibsel des Dampfkesselmodells und wird zu Recht breit kritisiert.51 So formierte sich in Toronto 2011 der erste Slutwalk als Reaktion auf den Rat des kanadischen Polizeibeamten Michael Sanguinetti, Studentinnen sollten sich nicht »wie Schlampen anziehen«, um Vergewaltigungen zu vermeiden. Dagegen sind vergleichbare Forderungen an Männer, »sich gefälligst zusammenzureißen«52, den Neandertaler in sich zu bezwingen,53 oder die Handzettel, mit denen die American College Health Association männliche Erstsemester warnt: »Ihr mögt eure Lust nicht kontrollieren können, wohl aber eure Handlungen.«54 noch immer Teil der Rhetorik, mit der wir das unerklärliche Phänomen Vergewaltigung erklären.

Doch wie konnte ein solches sexuelles Szenario überhaupt so breit anerkannt werden, angesichts tatsächlicher sexueller Beziehungen? Indem alles, was diesem Bild nicht entsprach, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts als krank definiert wurde, oder, um im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit zu bleiben: als pervers. Verwirrenderweise wurden diese Perversionen gleichzeitig als normaler Bestandteil der weiblichen Psyche deklariert: die Frau, das perverse Geschlecht.

So fuhr Krafft-Ebing, nachdem er die Asexualität der Frau etabliert hatte, fort: »Gleichwohl macht sich in dem Bewusstsein des Weibes das sexuelle Gebiet mehr geltend als in dem des Mannes. Das Bedürfniss nach Liebe ist größer als bei dem, continuierlich, nicht episodisch.«55 Männer dachten also nur an Sex, wenn sie eine Frau sahen, während Frauen die ganze Zeit heiß darauf waren, es sei denn, sie hatten tatsächlich Sex mit einem Mann?

Die Psychoanalytikerin Helene Deutsch, die in den 1940er und 50er Jahren als die Spezialistin für Die Psychologie der Frau – so der Titel ihres einflussreichsten Werkes – galt, erklärte dieses Paradox mit dem weiblichen Masochismus, der nach Deutsch nicht eine Spielart, sondern die Voraussetzung für den erotischen Genuss der Frau darstellte. Nachdem sie für die Erhellung der physischen die psychischen Vorgänge herangezogen hatte, erklärte sie die Psyche wiederum mit der Physis, genauer gesagt mit der Vagina, die nach Deutsch komplett passiv sei und nur durch den Penis erweckt werden könne.56 Daraus entstünde das tiefe weibliche Bedürfnis, überwältigt zu werden. »Die ›unentdeckte‹ Vagina wird – im normal günstigen Fall – durch einen ›Vergewaltigungsakt‹ erotisiert. […] Jene Phantasie ist nur eine psychologische Vorbereitung für einen realen, wohl milderen, jedoch dynamisch identischen Vorgang. Er drückt sich in der aggressiven Penetration von Seiten des Mannes einerseits, in der ›Überwältigung‹ der Vagina zur erogenen Zone andererseits aus!«57

Damit bezog sich Helene Deutsch auf Sigmund Freuds These, die psychosexuelle Entwicklung der Frau sei erst dann abgeschlossen, wenn ihre Erogenität von der Klitoris (die nach Freud ein verkümmertes männliches Sexualorgan und damit aktiv sei) in die Vagina (das eigentliche weibliche Sexualorgan und damit passiv) gewandert wäre. In seinen Drei Abhandlungen zur Sexualität hatte er bestimmt: »Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während der Mann die Seinige von der Kindheit an beibehalten hat.« Dies barg selbstredend mannigfaltige Gefahren für Fehlentwicklungen und Regredierungen unterwegs, so dass die Voraussetzung für das »Weibwerden« gleichzeitig zur Voraussetzung wurde »für die Bevorzugung des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie. Diese Bedingungen hängen also mit dem Wesen der Weiblichkeit innigst zusammen.«58

Doch auch ohne Neurosen war die Prognose für die weibliche Sexualität pessimistisch. Nicht nur glich der Geschlechtsakt so sehr einer Vergewaltigung, dass Kinder, die ihre Eltern beim Koitus überraschten, laut Freud meinten, eine Vergewaltigungsszene zu sehen – zumindest beim Verlust ihrer Jungfräulichkeit empfände die Frau das genauso, da »die sexuellen Geschehnisse in [der Hochzeitsnacht] oft nur auf eine Notzucht hinauslaufen«59, wie der Psychiater Leopold Loewenberg ausführte. Helene Deutsch ging noch weiter und setzte voraus, dass die Penetration dies im Kern auch bliebe. »Die häufige Angst der Frau vor dem Koitus liegt in der Tatsache begründet, dass er eine Beschädigung der Körpereinheit darstellt.«60 Sexualität – und damit ist der Koitus gemeint, jede andere Form von Sexualität galt als Regression – war demnach in letzter Instanz nicht natürlich für die Frau, so masochistisch veranlagt sie auch war.61

Sexing the Difference II: Ja heißt nein!

Bei der Lektüre dieser ganzen psychoanalytischen Texte, in denen die Vorstellung von Sexualität nie einfach für Sexualität steht, sondern stets für etwas weitaus Dunkleres, Tieferliegendes, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass auch Vergewaltigung und Masochismus Stellvertreter für ganz andere Auseinandersetzungen waren und dass sich sexuelle Macht und Ohnmacht völlig banal auf reale Macht und Ohnmacht bezogen.

Tatsächlich schreiben Freud und Deutsch und Ellis nicht über Masochismus als sexuelle Phantasie, sondern als (neurotische) Charaktereigenschaft. Damit sind diese Texte streng genommen gar keine sexualpsychologischen Schriften, sondern Psychogramme ihrer Gesellschaft anhand von sexuellen Symptomen. Und so wurden sie auch gelesen. Außer einem kleinen Fachpublikum interessierte sich niemand ernsthaft für die Probleme des »Rattenmannes« oder der »Anna O.«, aber alle wollten wissen, was Männer und Frauen wirklich dachten und fühlten. Freud und Ellis informierten die gebannte Öffentlichkeit – nicht überraschend, aber doch überraschend unverblümt –, dass der Sexualtrieb nicht nur in seiner männlichen Ausprägung aktiv wäre und in seiner weiblichen passiv, sondern dass Dominieren Männlichkeit und Dominiertwerden Weiblichkeit definiere.

Der Einfluss dieser Definition erklärt, warum Masochismus noch heute ein solches Reizthema ist, dass der Erfolg eines Softporno-Bestsellers wie 50 Shades of Grey ausreichte, um eine Debatte darüber auszulösen, warum sich Frauen in der Tiefe ihrer Psyche danach sehnten, von Männern dominiert zu werden – so, als würden Menschen ihre sexuellen Praktiken eins zu eins auf andere Interaktionen, auf berufliche Ambitionen und vor allem die Politik übertragen. Newsweek widmete dem männlichen Dom und der weiblichen Sub des Romans eine Coverstory und fragte: »Warum ist der freie Wille eine solche Last für Frauen?«62

Worauf die britische Autorin und Aktivistin Laurie Penny antwortete: »Zu den Dingen, die Jean-Jacques Rousseau wirklich zu schätzen wusste, zählten neben der Freiheitsphilosophie auch junge Damen, die ihm bis zur Ekstase den Hintern versohlten. […] Nie gab es jedoch auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass Männer, die sich sexuell gern von Frauen dominieren lassen, auch sozial und wirtschaftlich von ihnen dominiert werden wollen. […] Dass Kink – besonders der Sadomasochismus – dermaßen salonfähig geworden ist, soll den Frauen aber angeblich beweisen, dass es mit unserem Emanzipationskram eben doch nicht so weit her ist, wie wir es vielleicht glauben.«63 Auch die geschlechtsspezifische Vorstellung der sexuellen Präferenzen – Männer hauptsächlich dominant versus Frauen hauptsächlich submissiv – hat mehr mit Deutsch/Freud/Ellis zu tun als mit gelebten Realitäten. 2015 belegte eine Studie an der Universität Merseburg, dass sich Männer und Frauen in Bezug auf ihre sexuellen Vorlieben statistisch schlicht nicht voneinander unterscheiden.64

Die aufgebrachten Artikel und Kommentare über die weitgehend harmlose Cinderella-Geschichte mit – nicht einmal wirklich masochistischen – Sexszenen lassen das Ausmaß des Schadens, den der psychoanalytische Masochismus-Diskurs angerichtet hat, erahnen. Besonders problematisch war, dass Freud in der Psychopathologie des Alltagslebens die berüchtigte Behauptung aufgestellt hatte, Frauen fänden es schwierig, sich gegen eine Vergewaltigung zu wehren, weil ein Teil von ihnen diese herbeisehne. Er illustrierte das nicht etwa mit einem Fall aus seiner Praxis, sondern mit einem Ausschnitt aus einem literarischen Werk: Don Quijote von Miguel de Cervantes.

Darin kommt eine Frau zu dem Richter Sancho Panza und zeigt eine Vergewaltigung an. Panza nimmt dem Angeklagten seine volle Geldbörse weg und gibt sie der Frau als Entschädigung. Sobald diese gegangen ist, schickt er ihr den Mann jedoch hinterher mit dem Auftrag, die Börse zurückzustehlen. Nach einer Weile kommen die beiden kämpfend und fluchend zurück zum Gerichtshaus. Woraufhin Sancho Panza zu der Frau sagt: Hättest du nur die Hälfte der Kraft, die du aufgewandt hast, um deine Geldbörse zu behalten, eingesetzt, um deine Keuschheit zu schützen, so wärst du nicht vergewaltigt worden.

Damit nicht genug, legte Freud nahe, »dass unter dem sittsamen Benehmen noch immer das Feuer der Begierde in der weiblichen Brust kochte und ihr eine überaktive sexuelle Fantasie verlieh, die mitunter zu falschen Anschuldigungen von Vergewaltigung führte«65. Aufbauend auf Freuds Ätiologie der Hysterie arbeitete der einflussreiche US-amerikanische Neurologe Bernard Sachs die Verbindung zwischen Hysterie und falschen Vergewaltigungsvorwürfen heraus. Nach ihm neigten »hysterische Frauen zu solchen Anschuldigungen, wenn sie sich in einem Zustand großer Erregung befanden, wie etwa während der Menstruation«. Umgekehrt war für Ärzte zu Beginn des 20. Jahrhunderts »die Neigung zu Anschuldigungen von unanständigem sexuellen Verhalten ein Nachweis für Hysterie bei einer Frau«.66 Deshalb entschied in den 1930er Jahren ein US-amerikanisches Komitee unter Vorsitz des Rechtsexperten John Henry Wigmore, dass Richter sich vor Hysterikerinnen und pathologischen Lügnerinnen in Acht nehmen und alle Frauen, die eine Vergewaltigung anzeigten, zuerst von einem Psychiater auf Freudianische Komplexe untersucht werden sollten.67

Auch wenn sie nicht logen, rückten die Opfer ab den 1940er Jahren mit dem neu begründeten Feld der Viktimologie endgültig in den Fokus der Forschung. »So es Kriminelle gibt, ist es offensichtlich, dass es (ebenfalls) geborene Opfer geben muss, autoaggressiv und selbstzerstörerisch«68, erklärte Hans von Hentig in dem Grundlagenwerk der Viktimologie The Criminal and His Victim. Vergewaltigung wurde in der Fachliteratur zu einem durch das Opfer verursachten Verbrechen (»victim-precipitated«). Der Psychoanalytiker (und ehemalige Leiter der Forschungsgruppe, die die Insassen des Sing Sing Gefängnisses in New York untersucht hatte) David Abrahamsen stellte in seiner einflussreichen Studie The Psychology of Crime fest: »Das Opfer kann ebenfalls unbewusst selbst ihren Angreifer zu der Tat verleiten. Die bewusste oder unbewusste physische und psychische Attraktion zwischen Mann und Frau besteht nicht nur auf der Seite des Täters, der sich zu der Frau hingezogen fühlt, auch sie fühlt sich zu ihm hingezogen, was in vielen Fällen zu einem gewissen Maß der Auslöser für den sexuellen Übergriff sein kann. Häufig wünscht sich eine Frau unbewusst, mit Gewalt genommen zu werden.«69

Diese nahezu telekinetische Energie, mit der Frauen Männer zu Kriminellen machten, ist umso verblüffender, als es ihnen gleichzeitig an eigener krimineller Energie mangeln sollte.70 So sich die frühen Kriminologen überhaupt mit der Frage des Geschlechts befassten, dann, um zu erklären, warum Frauen keine bemerkenswerten Verbrechen begingen. Cesare Lombroso, der Vater der Kriminologie, ging davon aus: »Wegen ihrer geringeren kortikalen Erregbarkeit haben Frauen allerdings auch weniger das Bedürfnis [nach dem Laster], das beim Manne immer stärker wird, je mehr seine Intelligenz wächst, und außerdem bildet der weibliche Misoneismus, der Respekt vor den einmal herrschenden Sitten, einen Zügel.«71

Besonders schwer war es, sich Frauen als Täterinnen vorzustellen, wenn es um Sexualverbrechen ging72 – mit Ausnahme der Prostitution. Willem Adriaan Bonger, der kurz darauf der erste Professor für Soziologie und Kriminologie in den Niederlanden werden sollte, schrieb 1916: »… die Rolle der Frau im Sexualleben (und damit auch bei Sexualverbrechen) ist eher passiv als aktiv.«73 Darüber hinaus ging man sowieso davon aus, dass Frauen gar nicht vergewaltigen mussten, weil sie jederzeit Sexualpartner finden konnten, da Männer in dieser Hinsicht nicht wählerisch seien. »Während ein Übermaß an Leidenschaft beim Mann, wenn er nicht in die angemessene Bahn geleitet wird, zu sexuellen Übergriffen und Perversionen führt«, brachte es die Sozialreformerin Frances Alice Kellor auf den Punkt, »kulminiert dieselbe bei Frauen am häufigsten in Geisteskrankheit oder physischem Siechtum.«74

Wo Männer vergewaltigen, werden Frauen halt verrückt.

Diedrich Diederichsen prägte den Satz: »Wahres Spießertum erkennt man an der Verve, mit der es auf längst überkommene Tabus eindrischt.«75 Nun ist es natürlich einfach, sich über veraltete Geschlechtervorstellungen lustig zu machen. Doch wenn wir über Vergewaltigung sprechen, hallen dabei stets die Echos vergangener Diskurse mit. Ein großer Teil unseres »Wissens über Vergewaltigung« basiert auf Menschenbildern, die uns heute an den Haaren herbeigezogen erscheinen würden, wenn sie uns denn bewusst wären. Da das aber nicht der Fall ist, haben die daraus resultierenden Haltungen eine weitaus durchdringendere Wirkung und Nachwirkung, als sie hätten, wenn wir um ihre Genese wüssten. »Geschichten prägen uns, auch die miesen und sogar die, die absichtlich simplifizieren und unsere Alltagserfahrungen ausblenden. Über Geschichten organisieren wir unser Leben […] und diese Geschichten formen dann unsere Sehnsüchte und unsere Identität.«76 Das beginnt mit der Sprache. Sex wird als etwas beschrieben, das Männer Frauen geben – oder ihnen antun. Worte wie Koitus, Penetration – und ficken – drehen sich um den Penis und vermitteln, was er und seine Substitute – wie Dildos oder Finger – machen, so als würden sich die Körperöffnungen, die penetriert werden, nicht an dem Geschehen beteiligen. Nun gibt es selbstverständlich zahllose andere sexuelle Handlungen, die auch eine größere sprachliche Aufmerksamkeit verdienen. Doch ist Penetration die offensichtlichste linguistische Scheuklappe. Deswegen schlägt die Autorin Bini Adamczak als Gegenbegriff Circlusion77 vor, eingedeutscht Zirklusion, altmodisch auch Circumclusion: »Beide Worte bezeichnen etwa denselben materiellen Prozess. Aber aus entgegengesetzter Perspektive. Penetration bedeutet einführen oder reinstecken. Circlusion: umschließen oder überstülpen. That’s it. Damit ist aber auch das Verhältnis von Aktivität und Passivität verkehrt.« Dieser Neologismus sollte sich ohne größere Probleme einführen lassen, führt Adamczak aus: »Circlusion ist ohnehin bereits häufiger in der Alltagserfahrung. Denken wir an das Netz, das Fische fängt, den Gaumen, der die Nahrung umschließt, den Nussknacker, der Nüsse zermalmt. […] Circlusion ermöglicht so, eine Erfahrung auszusprechen, die wir schon lange machen.«78 Und damit nicht nur die Sprache, sondern auch das Denken zu verändern.

Mit einem Konzept wie Circlusion als einer der treibenden Kräfte hinter Sexualität würden sich Klassiker wie Donald Symons The Evolution of Human Sexuality – das Thornhill und Palmer als Inspirationsquelle für ihre Natural History of Rape anführen – merkwürdig anhören: »Auf der ganzen Welt sind es vordringlich die Männer, die um die Gunst der Frauen werben, sie umgarnen, anmachen und verführen … Männer machen Frauen Geschenke, um mit ihnen schlafen zu können, und nehmen die Dienste von Prostituierten in Anspruch.« Vergewaltigung erklärt er als Nebenprodukt »der größeren männlichen Erregung, des größeren autonomen Sexdrives, geringerer Fähigkeit sich sexueller Aktivitäten zu enthalten, viel größerer Lust auf Sexualität per se und größerer Bereitschaft zu Sex ohne Liebe, und nicht wählerisch in Bezug auf ihre Sexualpartner zu sein«79. Mit einem Wort, als Nebenprodukt der Penetration. Kein Wunder also, dass es bis 1997 eines Penis bedurfte, um laut Strafgesetzbuch zu vergewaltigen.

Ohne den Hinweis auf Vergewaltigung läge das allerdings noch immer im Mainstream der populären Meinungen. Wenn man die Stichworte Männer und Frauen und Sex in eine Aphorismen-Suchmaschine eingibt, erhält man geflügelte Worte wie: »Männer reden mit Frauen, um mit ihnen schlafen zu können. Frauen schlafen mit Männern, um mit ihnen reden zu können.« (Jay McInerney) Bestseller wie Das weibliche Gehirn behaupten, dass Frauen pro Tag 13.000 Worte mehr als Männer benutzen müssten, während Männer nur eines wollten. Was, ist ja klar. Die Autorin Louann Brizindine führt weder aus, wie sie auf die doch recht konkrete Zahl von 13.000 kommt, noch was mit Frauen passiert, die ihr Pensum nicht erfüllen. Wahrscheinlich explodieren sie und fallen damit aus der Statistik. Das ist sozusagen das Dampfkesselmodell in Bezug auf Sprache.

2010 machte der britische Schriftsteller und Schauspieler Stephen Fry – der in England als Nationalerbe gilt, so wie die Kronjuwelen und Stonehenge – Schlagzeilen, als er in einem Interview mit dem Magazin Attitude erklärte: »Frauen interessieren sich nicht wirklich für Sex. Das ist nur der Preis, den sie für eine Beziehung bezahlen.«80

Zwar hatte er das so nie gesagt, trotzdem wurde die Debatte begeistert von allen Medien aufgegriffen. »Die Wissenschaft von Frauen und Sex: Hat Stephen Fry doch Recht?«, titelte der Independent und griff für seinen Artikel wieder auf Darwin zurück, um anhand der Evolutionstheorie zu erklären, warum Männer ständig wollen und Frauen ständig nicht wollen: »Männer liegen, was ihre Neigung zu Promiskuität angeht, zwischen Gorillas und Schimpansen. Wir können das an der relativen Größe der Hoden erkennen: Erst Gorillas (ein wenig sexuell freizügig, kleine Hoden), dann Männer und schließlich Schimpansen (sehr freizügig, sehr große Hoden).«81 Und an der Nase eines Mannes erkennt man seinen Johannes?

Laut Populär-Primatologie seien schon Affenweibchen schüchtern und sexuell zurückhaltend. Bloß lässt sich das nicht belegen, ganz im Gegenteil. So nennt die Anthropologin Meredith Small eine ganze Reihe von Affenarten, bei denen das Weibchen auf das Männchen zugeht, ihre Genitalien in sein Gesicht drückt und auf unzählige weitere Arten Sex initiiert.82 Pavianweibchen bespringen offensichtlich mit größtem Vergnügen ein Männchen nach dem anderen. Und weibliche Bonobos sind nicht nur während ihres gesamten Zyklus sexuell aktiv, sie sind auch diejenigen, die die männlichen Bonobos anführen – was den Ethnologen Frans B. M. de Waal zu der Spekulation über die Evolutionstheorie anregte: »Was wäre gewesen, wenn die Forschung mit den Bonobos begonnen hätte? Wir würden heute aller Wahrscheinlichkeit nach davon ausgehen, dass frühe Hominide in frauenzentrierten Gesellschaften gelebt haben, in denen Sex wichtige soziale Funktionen erfüllte.«83

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9783960542469
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