Читать книгу: «Nomaden», страница 5

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Das Fahrrad stellte ich an der Kneipe ab, vor der Erkan und Thomas Schach gespielt hatten. Dann ging ich langsam die wenigen Schritte zum Haupteingang des Bunkers auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hier waren überall Spuren, wenn man sie zu lesen wusste. Zigarettenkippen. Pappbecher und Essensreste in blauen Müllbeuteln. Da stand mein Motorrad. Ich ließ meine Hand über den Sattel und den Lenker gleiten. Ich war von Überbleibseln der Welt vorher umgeben, alles um mich war Überbleibsel, aber die Maschine stellte eine Verbindung zu meinem Leben her, zu dem Freitag, an dem ich sie geliehen hatte, damit über Land und zurück nach Köln gefahren war und am Abend hierher. Erst diese Berührung machte das, was ich immer noch als „die Realität vorher“ begriff, wirklich real. Ich atmete tief durch und drehte mich zur Tür des Bunkers, die anzusehen ich bisher vermieden hatte.

„WO SEID IHR???“

Riesengroße blaue Buchstaben, jemand hatte sie auf die Tür gesprüht. Die waren vorgestern definitiv noch nicht da gewesen. Das stützte den ersten Teil meiner Theorie – außer mir waren noch weitere Menschen übrig, und sie waren mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf der Party gewesen. Was mir hier geschah, war also nicht die Folge irgendeines Ereignisses, das nur mich betraf. Die Idee vom gelungenen Suizid konnte ich getrost vergessen. Nun musste ich sehen, wie es um den Rest der Theorie stand.

Ich tippte vorsichtig an die Farbe. Sie war trocken, es musste also eine Weile her sein, dass sie aufgesprüht worden waren. Ich zog probehalber an der Tür. Sie öffnete sich nicht leicht, da sie einiges Gewicht hatte, aber sie war auch nicht verschlossen. Ich schloss kurz die Augen, atmete noch zweimal tief durch und ging hinein.

Nichts. Keine Veränderung. Der Bunker war angenehm kühl, selbst hier, direkt hinter der Tür, aber nichts deutete darauf hin, dass ich zurück in meiner Realität von vor Samstagmorgen war.

Ich drehte mich um und schaute durch den Türspalt. Auch keine Veränderung. Das Motorrad stand noch da, ein Müllsack und zwei Kippen, die ich mir eingeprägt hatte, waren unverändert an ihrem Ort. Weiterhin hörte ich keine Menschen, keine Fahrzeuge. Die Idee vom Bunker als Dimensionstor musste ich wohl zu den Akten legen. Was bedeutete: Das hier war echt. Das passierte nicht irgendwo, sondern in genau der Welt, die ich gekannt hatte. Es war wirklich echt.

Ich dachte, ich hätte mich an den Gedanken gewöhnt, aber jetzt, da er unausweichlich war, traf er mich erneut und mit voller Wucht. Die nette Concierge im Hotel. Der Trottel im Zimmer gegenüber. Die Frau von Mittwochnacht und Donnerstagmorgen, die mir beim Frühstück ihre Telefonnummer auf die Serviette geschrieben hatte. Der witzige Typ aus dem Harleyshop, der mir die Maschine vermietet hatte. Meine Eltern. Mein Bruder. Lynn … Irgendwie musste ich verstehen, dass das jetzt meine Realität war.

Als der Bunker nach dem Krieg auf eine friedliche Nutzung umgerüstet worden war, hatte man ein paar große Fenster in die dicken Wände gebrochen, so dass dieser Klotz von einem Bauwerk innen weit freundlicher und heller war als von außen zu erwarten. Eines erhellte den doppelten Treppenaufgang. Es begann etwa auf halber Höhe des ersten Treppenabsatzes – und darunter war eine Wandzeitung entstanden. Ganz offensichtlich war ich nicht der Erste, der die Idee gehabt hatte, hierher zurückzukehren. In der Mitte, wieder in riesigen Lettern, erneut der Aufschrei in blauer Farbe: „WO SEID IHR???“ Und darunter, etwas kleiner, aber aus derselben Sprühdose: „WO SIND ALLE?“

Links und rechts davon hatten sich verschiedene andere Stimmen verewigt, die meisten mit Edding oder ebenfalls mit Sprühfarbe. Die Botschaften waren kurz und alle im selben Stil:

„Bin noch da. Wo seid ihr? David.“

„Hallo! Ich bin hier, aber ich finde sonst niemanden. Wenn ihr hier vorbeikommt und das lest, sucht mich in meiner Firma, ich warte da. Doris.“

Und darunter eine Adresse. Ich kannte alle Namen. Mindestens neun von uns hatten sich hier verewigt, genau konnte ich das nicht feststellen, denn Aufschreie wie:

„Was ist passiert????“

Oder einfach:

„HILFE“

waren nicht unterzeichnet. Dann sah ich, dass auf der Fensterbank ein einzelner Zettel befestigt war, ein längerer Text:

„An alle, die das lesen:

IHR SEID NICHT ALLEINE

Ich bin auch übrig geblieben. Ich habe auch niemanden sonst gefunden, aber wir sind noch da. Ich halte es für sinnvoll, wenn wir uns zusammentun. Ich werde morgen, am Montag, in der katholischen Kirche in Quettingen sein. Wenn es geht, werde ich die Glocken läuten, um viele von uns zusammenzurufen. Nach meiner Rechnung wohnt eine kleine Mehrheit von uns heute in Quettingen (elf Leute), daher ist das der beste Ort dafür. Kommt alle dorthin! Wenn ihr dies später lest, kommt trotzdem zur Kirche, ich werde dort Nachrichten hinterlassen.

Das ist alles schrecklich und unbegreiflich, aber keiner von uns muss das alleine durchstehen! Kommt alle!

Jan“

Ich las die Nachricht mit wachsendem Unbehagen. Mir war klar, dass ich mich eigentlich hätte freuen sollen. Hier war jemand, der nicht nur, wie ich, diese namenlose Katastrophe überlebt hatte. Im Gegensatz zu mir hatte Jan seine Zeit nicht damit verbracht, zu vegetieren, zu fürchten und zu träumen. Er hatte sich konstruktive Gedanken gemacht, einen Plan entwickelt, er hatte bestimmt auch Vorstellungen, wie es weitergehen sollte. Vielleicht hatte er sogar eine Idee oder irgendeinen Hinweis, was geschehen war. Er war Soldat, Offizier, er hatte bestimmt viel Verrücktes und geheimes Zeug gesehen, er war gewohnt, sich Krisen zu stellen und zu führen. Die Verlockung, einfach nach Quettingen zu fahren und bei ihm Geborgenheit zu suchen, war gewaltig. Aber gerade dieses Zupackende, dieser Pragmatismus, war mir unbehaglich. „Keiner von uns muss das alleine durchstehen.“ Ja, aber was? Die ganze Nachricht enthielt nicht ein Wort dazu, abgesehen davon, dass er es auch „schrecklich und unbegreiflich“ fand. Und das klang eher wie eine pflichtschuldige Erwähnung von etwas, das in seiner Größe und Gewalt alles in den Schatten stellte, was ich mir je hatte ausmalen können. Und ich war Schriftsteller, mir Dinge auszumalen war mein Beruf. Für Jan schien das eher eine Nebensache zu sein. Sicher – Pragmatismus war eine gute Methode, geschockte Menschen aufzurichten und sich einer Bedrohung zu stellen. Aber das hier war kein Unwetter oder Verkehrsunfall. Ich konnte mir nicht helfen, dieser Aufruf, so gut er ohne Zweifel gemeint war, klang mir zu leichtfertig, fast frivol. Ich beschloss dennoch, nach Quettingen zu fahren. Aber ich würde, was immer es dort an der Kirche zu sehen gab, erst einmal aus einiger Distanz betrachten.

Ich ging zur Humboldtstraße, um meine Motorradschlüssel zu holen. Tatsächlich lag das Jackett immer noch da, wo ich es hatte fallen lassen. Sollte der spärliche Wind es bewegt haben, dann nicht merklich. Ich kramte in der Innentasche, fand den Schlüssel und ging zurück zum Bunker. Erst im letzten Moment fiel mir ein, dass dieser Plan einen Fehler hatte. Wenn ich wirklich diskret und heimlich nach Quettingen fahren wollte, war es eine schlechte Idee, mit einem Motorrad durch diese stille Welt zu röhren. Ich gab der Harley also einen freundlichen Klaps, um ihr zu versichern, dass ich sie nicht vergessen hatte. Dann schwang ich mich auf mein Fahrrad.

DAVID

„Wie hast du es eigentlich geschafft?“, fragte Jan leise. Er lehnte mit David im Eingang der Kirche und gab seinen Kräften Gelegenheit zurückzukehren, er hatte lange den Hammer geschwungen und die Kirchenglocke geschlagen. David sah ihn düster an. Er musste nicht fragen, was Jan meinte, es war offensichtlich – alle, die hier waren, hatten irgendeine Überlebensstrategie gehabt, die mehr oder weniger funktioniert hatte. Seine war Pragmatismus gewesen. Zuerst war er hinabgetaucht in eine chaotische Hölle aus Unglauben, Verneinung und Wahnsinn. In all dieser Leere hatte er einen einzigen Menschen gesucht – Maria, seine Freundin. Eine Nacht und einen halben Tag lang. Was vor der Nacht gewesen war, daran hatte er kaum Erinnerungen. Und dann, wie aus dem Nichts, hatte sich in seinem Kopf ein Schalter umgelegt. Das war eine unbekannte, unglaubliche und scheinbar ausweglose Situation. Damit kannte er sich aus, er hatte an Orten der Welt Menschen in und aus solchen Situationen geholfen, von denen die meisten anderen nicht einmal ahnten, dass es sie gab. Wenn er planmäßig vorging, strukturiert, analytisch …

Sein Weg hatte ihn zuerst zurück zum Bunker geführt, und dort hatte er bereits Nachrichten von anderen vorgefunden, unter anderem Jans Zettel. Alle anderen schienen einfach nur verzweifelt zu sein, so wie er selbst zunächst, aber Jan hatte denselben Ausweg gefunden wie David: Pragmatismus. David hatte überlegt, im Bunker zu bleiben und auf andere Übriggebliebene zu warten. Dann aber entschied er, stattdessen nach Hause zu gehen und seine Unterlagen und Materialien dort zu benutzen, um ein Konzept für das Überleben einer Gruppe in einer solchen Situation zu entwerfen. Er hatte bis in die Nacht gearbeitet, hatte das Ergebnis zufriedenstellend gefunden, war eingeschlafen, hatte einen fürchterlichen Albtraum über Maria gehabt, war dennoch frisch aufgewacht und hierhergekommen.

„Planung“, antwortete er auf Jans Frage. „Als ich im Bunker war und gemerkt habe, dass wir offenbar als Gruppe übrig geblieben sind, habe ich einen Überlebensplan entworfen. So was kann ich, gehört zu meinem Beruf. Und … es lenkt ab.“

Jan nickte. „Du arbeitest für so eine Charity-Organisation, oder? In Krisengebieten?“

„Ja. Kann man so sagen.“

„Habe ich übrigens auch gemacht“, sagte Jan. „Geplant, meine ich.“

David sah ihn erstaunt und erfreut an. „Und? Mit welchem Ergebnis?“

„Ein fester Ort“, beschrieb Jan. „Ein großes Haus, am besten vielleicht ein Bauernhof. Es sollte eine Wasserquelle in der Nähe sein, ein Fluss oder See oder so, und am besten auf einem Hügel und freistehend, dass man weit in die Landschaft sehen kann. Dort könnten wir uns ansiedeln, lernen, Getreide und andere Pflanzen anzubauen, Tiere zu halten, zu jagen. Weg von den Gefahren der Städte, unabhängig von dem Zeug, an das wir uns gewöhnt haben und das sowieso bald nicht mehr da sein wird.“

„Hm“, machte David. „Sehe ich ganz anders. Die Lebensmittel werden bald schlecht werden, da hast du Recht. Aber Werkzeuge, Fahrzeuge oder auch Konserven – die halten lange. Ich würde das genaue Gegenteil tun: kein fester Ort, sondern immer in Bewegung bleiben. Am besten mit Autos, da hätten wir auch gleich Laderaum. Die Welt ist voller Ressourcen, die sollten wir nutzen. Natürlich nicht einfach chaotisch, sondern nach bestimmten Regeln, nach einem Plan. Aber wir haben eine ganze Welt für uns, warum sollten wir darauf verzichten?“

„Was ist mit frischen Lebensmitteln? Obst, Gemüse, Milch, frisches Fleisch …“

„Wenn du durch die Gegend ziehst, dann kommst du doch auch an Feldern und Obstgärten vorbei“, meinte David. „Die kann man abernten. Und im nächsten Jahr wieder aufsuchen, die Obstbäume zumindest. Brombeeren wachsen in jedem Wald … ist doch alles zu finden. Jagen kann man so oder so lernen, und Milch brauchst du nicht unbedingt. Ganz Ostasien kommt ohne aus.“

„Ich weiß nicht …“ Jan ließ seinen Blick über die anderen schweifen, die seinem Ruf gefolgt waren, und vor der Kirche saßen. „Und die da machen sich völlig andere Gedanken.“

David nickte und betrachtete die sieben nachdenklich. Daniela war ein Wrack, sie erschien wie ein Geist, eine leere Hülle. Wenn sie etwas sagte, dann nur auf Fragen hin, und die Antworten klangen wie aus einem sehr schlechten Sprachprogramm. Susi war in einem ähnlichen Zustand wie sie in die Kirche gekommen, zitternd und verweint, hatte sich aber beruhigt, als sie Esther gesehen hatte, und hielt sich an sie. Die wiederum schien mit der ganzen Katastrophe nicht viel zu tun zu haben. Sie hatte sich von David wohl nicht ohne Grund nach der Party Daniels Adresse geben lassen. Die beiden waren als Paar Jans Ruf gefolgt, kauerten nun zusammen im Schatten der Kirche, sein Kopf in ihren Schoß gelegt, er döste, sie streichelte ihn, hin und wieder knutschten sie ein wenig herum. Die hatten ihre eigene Welt, und David gönnte sie ihnen. Wenigstens etwas Schönes bei all dem.

Matthias, Lars und Eva saßen vor dem Kirchtor auf dem Boden und diskutierten ausgiebig die Frage, was wohl passiert sei. Lars und Eva waren zu der Annahme gelangt, sie seien in eine andere Dimension gewechselt. Matthias hatte eine komplizierte Erklärung, in der mehrere Parallelwelten vorkamen. Die Diskussion über die Frage des „Was?“ und „Warum?“ wurde immer schwungvoller. Matthias wandte sich David und Jan zu.

„Was meint ihr denn? Jan, du hast dir doch offensichtlich eine Menge Gedanken gemacht. Was glaubst du?“

Jan sah David an und verdrehte die Augen. David grinste, er verstand ihn nur zu gut. Nutzloses Geplänkel.

„Es ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal“, sagte Jan. „Deshalb habe ich euch nicht hergerufen.“

Sie starrten ihn verständnislos an. Matthias fing sich als Erster.

„Aber wir müssen doch wissen, was passiert ist.“

„Später vielleicht. Erst mal nicht.“

Daniel setzte sich auf, auch Esther und Susi wandten sich ihnen zu. Jan grinste zu Daniel hinüber. „Ah, auch wach?“

„Erzähl“, sagte er, „wir sind ganz Ohr.“

Jan setzte sich in die Tür, David ebenfalls. Die anderen kamen etwas nach vorne, so dass sie nun fast einen Kreis bildeten.

„Es ist offensichtlich, dass alle verschwunden sind“, begann Jan. „Also fast alle. Ich denke, dass wir erst mal planen müssen, wie wir überleben. Nicht, warum. Es wird hier bald sehr gefährlich werden. Wir müssen aus der Stadt raus. Und wir müssen uns zusammentun, so viele wie möglich. Deshalb die Sache mit der Glocke.“

Die größte Gefahr, so erklärte er, war Feuer. Solange noch Strom da war, mussten Kochplatten und vielleicht auch ein paar Bügeleisen an gewesen sein. Zigaretten waren auf den Boden gefallen. Flugzeuge abgestürzt.

„Ich glaube“, erklärte er, „dass schon jetzt überall in der Stadt Brände schwelen. Über kurz oder lang wird Feuer ausbrechen und so lange brennen, bis es keine Nahrung mehr hat. Und denkt an das Bayer-Werk.“ Er stellte seinen Plan mit dem Bauernhof vor, und David musste anerkennen, dass er das Ganze wirklich durchdacht hatte. Die Flucht der Pragmatiker, sie war ja auch sein eigener Ausweg gewesen. Er fragte sogar nach Berufen, wobei aber wenig Nützliches herauskam. Lars war Architekt, Esther hatte mal Krankenpflegerin gelernt, darauf konnte man wohl aufbauen. Hoffnungen, dass seine eigenen Erfahrungen als Offizier ihnen wertvolle Überlebenstechniken bescheren würde, dämpfte Jan: „Wenn es darum ginge, unseren Platz im Bergischen gegen Luftangriffe zu verteidigen, dann könnte ich helfen. Aber das wird wohl nicht nötig sein. Und was meine Survival-Fähigkeiten angeht, schlage ich vor, dass wir aus irgendeinem Trekking-Laden ein paar entsprechende Bücher mitnehmen. Die sind besser als alles, was ich euch beibringen kann.“

Am Ende fragte er, ob die anderen mitmachen würden. Sie bejahten alle und beschlossen, sich am Abend wieder bei der Kirche zu treffen.

„Bis dahin – nehmt alles mit, was ihr für nötig haltet“, sagte Jan. „Nötig, versteht ihr? Ihr müsst es tragen können. Besorgt euch Rucksäcke und Schlafsäcke. Esther, du solltest alles besorgen, was wir deiner Meinung nach als Grundstock für eine medizinische Versorgung brauchen. Oder besser – wir gehen zuerst nach Hilden, zu meiner Kaserne. Da können wir uns mit Werkzeug, Medizin und Waffen ausrüsten.“

„Waffen?“, fragte Eva.

Sie schauten entsetzt, und David wunderte sich einmal mehr. Ihm war völlig klar, was Jan meinte. Verwilderte Haustiere, Flüchtlinge aus Zoos, wieder einwandernde Bären … und obwohl Jan diese Gefahr für vernachlässigenswert hielt, glaubte er auch, dass es notwendig sein könnte, sich vor anderen Menschen zu schützen. Wenn es außer ihnen noch weitere Überlebende gab, dann war es unwahrscheinlich, dass die alle nur edle Gemüter hatten. Die sieben ließen sich davon überzeugen, dass es notwendig sein könnte, Waffen zu tragen, und David beschloss, dass es an der Zeit sei, den Spielverderber zu geben:

„Ich finde ja“, sagte er gedehnt, „dass nicht nur die Munition noch für ein paar Generationen reichen wird.“

Jan grinste und sah ihn an. „Immer noch nicht überzeugt?“

„Nicht die Spur“, sagte David, ebenfalls grinsend. Die anderen schauten, einmal mehr verwirrt, von einem zum anderen.

„Wir haben eben schon eine Weile darüber gesprochen“, erklärte David. „Während ihr …“, ein spöttisches Lächeln huschte über sein Gesicht, „ähm … Theorien diskutiert habt.“

Matthias schaute ihn säuerlich an, sagte aber nichts.

„Was die Prioritäten betrifft“, er nickte Jan zu, „da bin ich ganz bei dir, Jan. Ich will es gar nicht wissen. Ich will auch gar nicht darüber nachdenken, ehrlich. Mir reichen meine Träume. Ich habe gestern Nacht von meiner Freundin geträumt, und …“ er schluckte. „Na, egal. Ihr seht – das führt zu nichts, das macht uns nur fertig. Jan hat Recht: Wir müssen als Erstes klären, wie wir überleben. Und ich finde auch, wir sollten zusammenbleiben. Warum wir dafür aber gleich das Mittelalter neu eröffnen müssen, das ist mir nicht klar. Ehrlich, Leute: Hier stehen überall Autos herum. Die Supermärkte sind voller Konserven …“ Er erklärte ihnen seinen Plan.

„Warum sollten wir mit Autos durch die Gegend fahren?“, fragte Esther dagegen. „Wohin? Gibt es noch irgendeinen Ort, an den wir schnell müssen? Wir haben alle Zeit der Welt, und wir haben kein Ziel. Es wird viel wichtiger sein, alles genau zu erkunden. Was wissen wir denn über die Welt, wie sie jetzt ist? Gar nichts. Ich hätte einfach Angst, irgendetwas zu übersehen, wenn ich mit hundertzwanzig Sachen daran vorbeirase. Gerade, wenn … also falls es noch andere Menschen gibt.“

„Aber Esther“, sagte David. Ihr Argument hatte etwas für sich, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass es so einfach sein würde, Menschen, die diese Zivilisation gewohnt waren, so einfach umzupolen. „Mal ehrlich – wie stellst du dir das vor? Willst du im Märzen die Rösslein anspannen? Das ist doch völlig sinnlos.“

Sie lachte. „Also gegen einen Trecker hätte ich nichts.“

Es war offensichtlich, dass ihnen Jans Idee besser gefiel, aber die Argumente, abgesehen von dem, das Esther gebracht hatte, überzeugten David nicht. Verallgemeinerte persönliche Schicksale und Romantik. Einzig Susi war auf seiner Seite.

„Ich will auch, dass wir zusammenbleiben“, sagte sie. „Ehrlich“, sie warf einen fast panischen Blick in die Runde, „lasst uns zusammenbleiben. Aber David hat doch Recht. Du redest von Blockhäusern, Jan – und es gibt Millionen von festen, sicheren Häusern und bequemen Betten, in denen wir schlafen können. Lasst uns die Welt erkunden. Lasst uns vielleicht irgendwohin fahren, wo es warm ist, wo es schöner ist als hier. Wart ihr schon mal in Norditalien, oder im Ardèche? Wenn wir uns schon irgendwo ansiedeln, warum nicht da? Klar, irgendwann ist wahrscheinlich das Benzin alle, und das Zeug aus den Supermärkten ist vergammelt, aber dann haben wir immer noch Zeit, wieder Bauern und Jäger und Sammler oder so was zu werden.“

„Warum es aufschieben?“, fragte Esther leise.

„Esther …“, begann Susi gequält. Sie saßen eine ganze Weile still beisammen.

„Ich fürchte, wir werden uns nicht einigen“, sagte Jan schließlich.

„Nein“, meinte David unglücklich. „Was sollen wir machen?“

„Abstimmen!“, schlug Matthias vor, und David sah ihn finster an. Es war offensichtlich, dass er eine Abstimmung verlieren würde. Ausgerechnet Esther redete dagegen:

„Quatsch, abstimmen. Wir können David und Susi doch kein Leben aufzwingen, das sie nicht wollen.“

„Nein!“, rief Matthias erschrocken. „Natürlich nicht.“

„Ich schlage Folgendes vor“, sagte Jan. „Wir sind so oder so zu wenige, ob wir jetzt Bauern sein wollen oder Nomaden der Landstraße oder was auch immer. Aber es scheint doch so, als ob alle, die noch da sind, auf der Party waren, oder?“

„Das ist Blödsinn“, sagte Lars. „Wieso …“ Aber Jan hob die Hand.

„Bitte – wir wollten uns mit dem Wieso doch später beschäftigen. Alle, die hier sind, waren auf unserer Party. Andere Menschen hat keiner von uns gesehen. Es klingt irre, aber es ist nun mal so. Und David und Matthias haben die Party doch organisiert. Also wisst ihr doch auch am besten, wo man die Leute eventuell finden kann, oder? Habt ihr eure Listen noch?“

„Klar“, sagte David, dankbar, dass ausgerechnet Jan und Esther, die offensichtlich Vernünftigsten in der Bauernfraktion, verhindert hatten, dass er einfach überfahren wurde. Er hatte auch Pläne, verdammt. Und gute. Bessere, als sich zu verkriechen und sich den Hintern wieder mit Gras abzuwischen. „Alles fein säuberlich ausgedruckt, liegt bei mir zu Hause immer noch auf dem Schreibtisch.“

„Dann klappert die Leute doch ab. Sucht so viele ihr könnt, erzählt ihnen von unseren Ideen, und dann treffen wir uns heute Abend hier. Vielleicht finden wir dann eine Lösung. Und wenn nicht, können wir ja vielleicht zwei Gruppen bilden, die beide groß genug sind.“ Er seufzte. „Obwohl ich es besser fände, wenn wir uns nicht trennen würden.“

„Ich auch“, sagte David und beschloss, sich für den Abend einige stichhaltige Argumente zurechtzulegen. „Was meint ihr, um acht wieder hier? Heute Abend?“

Alle nickten. David wandte sich zum Gehen. „Kommst du, Matthias?“

„Wartet“, sagte Susi und sprang auf. „Ich komme auch mit.“

***

Der Koffer war unübersehbar. Sie standen still davor, ein grellroter Trolley, und er lag mitten auf einer Straße im Quettinger Feld. David hob den Schlüsselbund auf, der dort lag. Ein Autoschlüssel, ein Sicherheitsschlüssel, wohl für eine Haustür, und ein Anhänger aus Plexiglas mit einem Bild darin, von dem ihn zwei zahnlückige Kinder anlachten. Blond, beide, vielleicht fünf und drei Jahre alt. Er konnte nicht erkennen, ob Jungen oder Mädchen, er war nicht an kleine Kinder gewöhnt. Er hatte solche seltsamen kleinen Ansammlungen von Überbleibseln schon öfter gesehen, bisher aber nicht weiter darüber nachgedacht. Nun begriff er mit einem Mal, dass etwas daran nicht stimmte. Hier war jemand verschwunden, das war klar, wahrscheinlich eine Frau, der Farbe des Trolleys nach. Sie hatte mit einer Hand den Koffer gezogen, in der anderen den Schlüssel gehalten, wohl auf dem Weg zu oder von ihrem Auto. Aber – warum waren da nur der Koffer und die Schlüssel? Warum keine Schuhe, keine Kleidung, keine Brille, Schmuck, Haarspangen, was auch immer sie an sich gehabt haben mochte? Noch nie hatte er Kleidung gefunden.

„Was ist nur passiert?“, fragte Matthias. „Jan hat das eben so abgebügelt, aber wir müssen uns doch Gedanken darüber machen. Das passt doch nicht in unsere Erfahrung, das …“

Er redete noch weiter, aber David hörte ihn kaum. Er hatte sich Susi zugewandt, die zitternd auf den Schlüsselbund in seiner Hand starrte. „Kinder“, sagte sie. „Die Kinder, die …“

David nahm sie in den Arm und hielt sie, bis das Zittern verging.

„Alles wieder gut?“, fragte er.

„Nein“, sagte Susi. „Aber es geht wieder.“

„Was ist?“, fragte Matthias.

David führte sie aus dem Quettinger Feld auf die Feldstraße. Das war nicht sein direktester Weg nach Hause, aber ihm war eingefallen, dass Sonja hier wohnte. Vielleicht könnten sie sie ja gleich aufpicken, sofern sie in ihrer Wohnung war.

„Es stimmt aber, dass du noch in Opladen wohnst?“, fragte Susi.

„Ja“, antwortete David. „Steinstraße. Die Liste liegt wirklich auf meinem Schreibtisch.“

„Aber dann ist das doch ein Umweg“, sagte Matthias. „Warum sind wir oben nicht durch die Kolberger Straße gegangen, und dann gleich runter zur Lützenkirchener?“

David erklärte ihm die Idee, Sonja zu besuchen. „Vielleicht können wir sie ja direkt mitnehmen. Wenn sie möchte.“

„Und wenn sie noch da ist“, meinte Susi düster.

David drehte sich zu ihr. „Zweifelst du daran?“ Für ihn stand es außer Zweifel – die einzige Frage war, ob sie zu Hause geblieben war. Oder dorthin zurückgekehrt, wie er selbst.

„Ja“, sagte sie.

„Werden wir ja jetzt sehen.“ Er lief über die Straße auf eine Reihe gleichförmiger Mehrparteienhäuser zu, suchte die richtige Hausnummer, las Klingelschilder und winkte dann den beiden, ihm zu folgen. Susi und Matthias trotteten zu ihm.

„Dritter Stock“, David schaute hinauf. „Das Fenster ist zu.“ Matthias drückte mehrmals auf den Klingelknopf.

„Kein Strom“, sagte David. Matthias lachte bitter.

„Ja. Alte Angewohnheiten.“

Susi deutete auf die Durchfahrt zum Garagenhof. „Bekannte von meinen Eltern haben mal hier nebenan gewohnt. Ich glaube, die hatten einen Balkon hinten raus. Vielleicht ist da ja was offen.“

„Guter Einfall“, lobte David. Sie liefen auf die andere Seite des Hauses.

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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
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612 стр. 5 иллюстраций
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9783942625203
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