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Draußen lief ich in eine wattige Wand aus Wärme. Die Luft schien tatsächlich Substanz zu haben, nach der leichten Kühle des Bunkers. Die Hitze des Sonnenlichts, das schon jetzt, am Vormittag, auf der Haut brannte, war hart und erfrischend. Dieser Frühsommer war der heißeste seit Jahren, und heute wollte er, so schien es, sein Meisterstück abliefern. Ich ging an meinem Motorrad vorbei, ohne es weiter zu beachten. Als ich die Humboldtstraße überquerte, warf ich mein Jackett von mir. David hatte recht gehabt, es war wirklich viel zu heiß dafür. Während es auf den Gehsteig segelte, schaute ich mich um, ob irgendwer diesen Akt der Befreiung mit ansah und vielleicht missbilligte, aber die Straße war menschenleer. Mich wunderte das nicht. Ich wäre bei der Hitze auch nicht vor die Tür gegangen, hätte ich nicht etwas Wichtiges vorgehabt.

Früher, vorher, hätte ich weitere Erleichterung gesucht, wäre vielleicht durch die kühlen Hinterhöfe spaziert, in den Schatten der Häuser und Bäume. Aber je näher ich meinem Ziel kam, desto gleichgültiger wurde ich. Ich spürte, dass ich die Welt der Lebenden bereits verlassen hatte, und es schien mir nur passend, dass mir auch keiner von ihnen begegnete. Mein Körper lebte noch, bewegte sich, fühlte, wenn auch zunehmend gedämpft. Die Hitze war da, aber sie betraf mich nicht mehr. Von den Schmerzen in Kopf und Gliedern hätte ich nicht einmal sagen können, ob ich sie noch spürte oder ob sie nur eine schwache Erinnerung waren. Etwas hatte sich grundlegend geändert, und ich fühlte mich, als wäre ich bereits an einem anderen Ort, nicht mehr lebendig, noch nicht tot. Seit ich beschlossen hatte, dass ich mein Leben beenden würde, hatte ich mir seltsamerweise keine Gedanken mehr darüber gemacht, ob es danach irgendwie weitergehen könnte. Wenn ja, würde ich es merken. Wenn nicht, dann nicht. Nun stahl der Gedanke sich zurück, aber weder als Furcht noch als Hoffnung, nur als eine vage Neugier. Binnen kürzester Zeit würde ich entweder mehr wissen als alle lebenden Menschen – oder gar nichts mehr. Darauf war ich gespannt. Und all dies, die Gefühllosigkeit, die Gleichgültigkeit und die Neugier machten mir klar, dass ich nun wirklich so weit war. In Köln, auf der Hohenzollernbrücke, hatte ich nichts dergleichen gespürt. Deshalb war ich wahrscheinlich so unfähig gewesen zu springen oder auch nur Erkans Lockung zu widerstehen. Nun hätte er mir bieten können, was er wollte – nichts würde mich noch umstimmen.

In dieser Verfassung überquerte ich den großen Parkplatz an der Bahnallee. Ich war ganz schutzlos, und die Sonne brannte auf mich herab, aber mich beschäftigte lediglich ein amüsanter Gedanke: Wenn ich mich jetzt in die Büsche hinter dem Parkplatz schlagen, die Gütergleise überqueren und die Böschung hinunter zu den Personengleisen klettern würde, um den Bahnsteig an seiner entferntesten Spitze zu betreten, wer oder was sollte mich aufhalten? Von allen verbotenen Dingen, die ein Todgeweihter tun konnte, war dies sicherlich eines der harmlosesten, andererseits: Es hatte etwas Verruchtes, dass die Drohung der heranrauschenden Züge, die mich seit meiner Kindheit ganz hier in der Nähe verfolgt hatte, nun zur Hoffnung geworden war. Ich tat also genau das, durchquerte das Gestrüpp und schlenderte durch ein Gleisbett nach dem anderen. Niemand hielt mich auf. Kein Bahnarbeiter kam, um mich aus der Gefahrenzone zu brüllen. Kein Zug kam, um mir ein Ende zu machen. Während meiner Vorbereitungen auf den Sprung in Köln hatte ich mir viele Gedanken gemacht, auch über traumatisierte Zugführer. Das alles war nun so egal. Es gab nur noch mich, den heißen, seltsam stillen Samstagvormittag rings um mich, vielleicht noch die Erinnerung an die Menschen, mit denen ich meine letzten Stunden verbracht hatte, Esther, Sonja, David, Erkan, meine alten Stufenkameraden. Sonst gab es keine Menschen mehr, schon gar keine Zugführer, Zeugen oder Sanitäter, die mit meinem Tod und seinen Folgen würden leben müssen. Das war alles schon weit fort.

Dennoch war ich einigermaßen erstaunt, als ich nach meinem Marsch vom äußersten Zipfel des Bahnsteiges her im eigentlichen Bahnhof ankam und dort tatsächlich niemanden vorfand, nicht einen Menschen. Das war ungewöhnlich für einen Samstag, normalerweise war hier immer eine kleine Menge, die darauf wartete, sich zum Shopping nach Köln fahren zu lassen. Ich schaute über die anderen Bahnsteige – nichts, kein einziger Fahrgast. Ich ging in die Wartehalle, auch dort – kein Mensch. Dann kam mir ein Gedanke, und ich verglich den Fahrplan mit der Uhr auf dem Bahnsteig: natürlich. Der Zug nach Köln war gerade weg und hatte den Bahnhof geleert. Irgendwo in dieser Logik gab es einen ganz gewaltigen Fehler, fand ein besserwisserischer Teil meines Verstandes, aber ich war nicht in der Stimmung, dem nachzugehen. Auch die Logik lag hinter mir, und für die Tatsache, dass ich an einem Samstag um Viertel nach zehn der einzige Mensch am Opladener Bahnhof war, reichte mir diese einfache Erklärung völlig. Was gingen mich die Seltsamkeiten der Lebenden an.

Der Moment war nun nah. Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich hier im Bahnhof vor einen einfahrenden oder besser vor einen durchfahrenden Zug zu werfen, aber nun kam mir eine noch hübschere Idee. Ich stieg vom Bahnsteig in das Gleisbett hinab und begann, in Richtung des nächsten Bahnhofes zu schlendern, nach Leichlingen. Der Spaziergang hierher hatte mir gefallen, nicht trotz, sondern gerade wegen der betäubenden Hitze. Ein Marsch war etwas anderes, als im Bahnhof zu warten. Ich würde tätig sein, in Bewegung bis zum Schluss, mit dem Rest meines Verstandes auf die Schwellen und den Schotter und die Hitze gerichtet, bis etwas kommen und mich mitnehmen würde.

Eine Weile liefen das Güter- und das Personengleis nebeneinander her, dann trennten sie sich, zwischen einem großen Feld zur Rechten und dem letzten Rand einer Schrebergartenanlage. Hier bog der Güterverkehr nach Nordwesten ab, während die Personenzüge weiter scharf nach Norden fuhren – oder von dort kamen. Ich entschied mich für die Personenstrecke: Ein durchfahrender ICE, auf dem Weg von Köln nach Solingen oder entgegengesetzt, war das Beste, was mir passieren konnte. Immer wartete ich auf die Vibration, die das Herannahen eines Zuges ankündigen sollte, doch nichts geschah. Die Vögel zwitscherten, die Sonne brannte, und ich schlenderte das Gleis entlang, während der Tod sich verspätete. Das kam eben davon, wenn man sich die Bahn als ultimatives Beförderungsmittel aussuchte. Hätte ich denselben Spaziergang auf der A3 gemacht, wäre ich vermutlich schon einen wichtigen Schritt weiter.

Ein paar hundert Meter später wurde meine Wanderung angenehmer. Ich trat in den Schatten der Bäume, die zu beiden Seiten der Wupper wuchsen, und war bald darauf auf der Brücke über den Fluss. Auch so eine Kindheitserinnerung – die hohe, auf schlichte Weise schöne Eisenbrücke und die kleinere, überdachte Fußgängerbrücke darunter, durch die zu rennen es sich einfach des Klanges wegen gelohnt hatte. Glückliche Zeiten. Wenn ich nicht mit meinen Freunden gespielt hatte, hier an der Wupper, verbotenerweise, oder an einem der vielen anderen magischen Orte der Zauberzeit, dann hatte ich zu Hause gesessen und Comics gemalt, kleine Bildergeschichten für meine Eltern oder meinen kleinen Bruder. Gute Zeiten, gute kleine Geschichten. Lange bevor ich eine sehr gute und sehr große Geschichte niederschrieb, die zu meinem Fluch werden sollte.

Nachdenklich trat ich an den Rand des Gleises und schaute hinunter. Die Wupper war flach, der heiße Frühsommer hatte schon Anfang Mai begonnen und den Fluss ausgetrocknet. Aber sie war immer noch schnell und reißend, viel wilder als der Rhein, der auf eine riesige, gemächlichere Weise bedrohlich war. Hier konnte ich es zu Ende bringen, jetzt, hier gab es keinen Zweifel. Einen Kopfsprung in die Wupper würde ich nicht überleben, nun, da sie nicht mehr war als ein sehr wilder und breiter Bach. Aber ich musste an Benny denken, Benjamin, meinen kleinen Bruder, der jetzt in Bonn wohnte und Theologie studierte. Wir hatten schöne gemeinsame Zeiten gehabt dort unten, und ich wollte ihm den Ort nicht verderben. Außerdem erschien mir die zermalmende Kraft eines Zuges immer noch einladender als die schädelspaltendeten und genickbrechenden Steine auf dem Grund des Flusses. Ich schöpfte noch eine Weile Kraft und machte mich auf den letzten Teil der Reise.

Die Bahnstrecke zwischen Opladen und Leichlingen misst fast sechs Kilometer. Ich ging auch hinter der Brücke gemächlich weiter, in Abschiedsgedanken versunken, und so dauerte es wohl mehr als eine Stunde, bis ich aus dem Schatten der Bäume trat, den Bahnübergang passierte, in Leichlingen die Schienen verließ und auf den Bahnsteig kletterte, ratlos inzwischen. Nicht ein Zug war gekommen, um mich mitzunehmen, weder ein Schnellzug auf der Durchfahrt noch eine der regelmäßigen Nahverkehrsbahnen, von denen wenigstens vier in die eine oder andere Richtung hätten fahren müssen. Nichts war geschehen, nicht einmal eine Vibration oder irgendein Zeichen einer Störung. Und dann drängte sich der Fehler in meiner Logik, den ich in Opladen noch so abgetan hatte, mit Macht zurück in meinen Verstand. Es war so: Wenn die Regionalbahn nach Köln wenige Minuten vor meiner Ankunft die Menschen dort aus dem Bahnhof abgeholt hätte, dann hätte ich sie unweigerlich sehen müssen, sie wäre an mir vorbeigefahren, während ich über den Bahnsteig ging. Oder sie hätte mich einige Minuten vorher erwischt, als ich auf den Gleisen unter dem Parkplatz war. Aber da war keine Bahn gewesen. Und trotzdem ein leerer Bahnsteig.

Ich sah mich um. Auch der Leichlinger Bahnsteig war einsam und verlassen. Gut – hier wurde gebaut, aber auch rund um den Bahnhof: kein Mensch. Niemand ging hinunter in die Stadt, niemand kam herauf. Das Lager der Raiffeisengenossenschaft dem Bahnhof gegenüber – verwaist, kein Auto auf dem Parkstreifen davor. Und auf der Hochstraße, die die Gleise querte und eine der wichtigsten Zufahrtstraßen zum Stadtzentrum war, fuhr nicht ein Auto. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Nichts. An einem Samstagmittag. Kein Auto. Kein Mensch. Nichts, gar nichts.

Irgendetwas stimmte hier absolut nicht.

***

Kein Mensch.

Ich stand mitten auf dem Bahnhofsvorplatz und drehte mich buchstäblich um mich selbst. Von der Häuserzeile gegenüber dem Bahnhofsausgang zur Straße und zurück zum ehemaligen Bahnhofsgebäude, das nun ein Café beherbergte, und der Bushaltestelle davor, zum Parkplatz hin und wieder zur Häuserzeile. „Bioladen“ stand da. Ich ging hinüber, aber da war nichts, was einem Geschäft glich, der düstere Raum hinter der verschlossenen Tür sah eher nach einer Praxis aus. Auch hier kein Mensch, ich musste durch die Lamellen eines Vorhangs linsen. Und dann, mit einem Mal – Erleichterung. Natürlich. Die Welle der Erleichterung war so stark und so warm, dass mir die Knie weich wurden, ich sank an der Wand des Hauses zusammen und musste mich auf den Bordstein setzen.

Natürlich.

Es war in Wirklichkeit Sonntag. Und das hier war Leichlingen. Ein grüner Fleck am städtischen Rand des Bergischen Landes, der davon profitierte, dass Leverkusen so unattraktiv war, dass seine wohlhabenden Bewohner gerne ins Umland flohen, um dort einzukaufen, zu siedeln und Steuern zu zahlen. Ein hübsches Städtchen, in dem der Hund verfroren war. Wenn nicht gerade irgendein Erdbeer-, Apfel- oder anderes Obstfest stieg, war Leichlingen an Sonntagen so tot, toter ging es nicht mal metaphorisch. Halb so groß wie der Friedhof von Chicago, aber doppelt so … Ich lachte laut auf, hysterisch, und versuchte die Stimme der Logik zu übertönen, die schon wieder anfing zu nerven.

„Der Leichlinger Bahnhof mag vielleicht sonntags verlassen sein“, nörgelte sie, „aber Opladen? Am Vormittag? Und so tot, dass zehn, zwanzig Minuten lang nicht ein einziges Auto fährt, ist es nicht mal hier. Und was die Züge betrifft …“

„Halt die Fresse!“ Ich schlug mir unwillkürlich die Hand vor den Mund – hatte ich das wirklich gerade laut gerufen? Ich glaubte, einen Widerhall zu hören, und sah mich peinlich berührt um, aber niemand starrte mich an. Logisch – es war ja niemand da. Ich schob den Gedanken an die Züge von mir, denn dahinter lauerte ein anderer, den ich nicht denken wollte. Stattdessen machte ich mich auf, der nölenden Stimme das Maul zu stopfen. Es mochte vielleicht seltsam aussehen, aber so seltsam war die Einsamkeit hier gar nicht. Es war Sonntag. Es war brütend heiß. Da konnte es in so einem Kaff durchaus mal passieren, dass niemand auf der Straße ist. Aber natürlich gab es auch Menschen, die am Sonntag arbeiten mussten, zum Beispiel die Typen, die den Bahnhof überwachten. Ich schritt entschlossen um das Bahnhofsgebäude herum. Auf der Rückseite befand sich ein Gebäudeteil, der an einen kleinen Flughafentower erinnerte – große Fenster unter einem flachen Dach.

Hinter den großen Fenstern war es völlig dunkel, dort war niemand, und ich versuchte mich zu erinnern, ob da in den letzten Jahren überhaupt wirklich jemand gewesen war. Schließlich hatten die ja den ganzen Bahnverkehr mehr und mehr automatisiert, wahrscheinlich waren die Gestalten in dem Tower nicht mehr als eine sentimentale Jugenderinnerung. Genauer betrachtet wirkte das Gebäude wirklich, als sei es lange ungenutzt, die weiße Farbe an den äußeren Rahmen der Fenster war abgeblättert, und die großblättrige Zimmerpflanze dahinter schien ungepflegt …

Andererseits – was sollte eine Zimmerpflanze in einem ungenutzten Tower? Egal, eigentlich. Wichtiger war, dass es durchaus logisch sein mochte, dass das Gebäude, welchem Zweck es auch diente, sonntags nicht genutzt wurde.

„Wenn man davon absieht, dass heute Samstag ist“, ließ sich die verdammte Stimme vernehmen.

Was?

Wieder taumelte ich, diesmal setzte ich mich aber nicht, sondern stützte mich an dem niedrigen Metallzaun ab, der die Gleise vom rückwärtigen Teil des Bahnhofs trennte. Eine heiße Kugel breitete sich in meinem Bauch aus. Samstag? Blödsinn. Das hatte ich vorhin in Opladen gedacht, aber es war Quatsch. Schließlich hatte ich eine Party hinter mir, und wer feierte denn eine Revival-Party am Freitag? Dieses Nachpartygefühl war eine typische Sonntagsempfindung. Das war doch …

… völlig richtig. Ich hatte mich nicht wirklich dafür interessiert, weil ich nie vorgehabt hatte, die Party zu besuchen, dennoch hatte ich es mitbekommen. Ursprünglich war die Party für den Samstag geplant gewesen, ja. Doch dann hatte es in der Newsgroup unseres Abiturjahrgangs eine Diskussion gegeben, denn die Absagen hatten sich gehäuft. Jeder und jede schien an diesem Samstag einen wichtigen Termin zu haben, also hatten David, Kerstin und Matthias den Termin auf den Freitag gelegt. Ich erinnerte mich daran, wie ich Lynn von den Mails erzählt hatte, die über die Newsgroup kamen und meinen Posteingang zuspamten. Also musste das noch vor März passiert sein.

Lynn. Was sie wohl gerade machte? Samstags hatte sie meist bis zum Nachmittag geschlafen. Also lag sie vermutlich noch im Bett, neben dem Mann, dessen Name nicht gedacht wird. Oder machte er ihr ein spätes Frühstück? Lynn liebte das.

„Scheiß auf Lynn!“

Ich hatte schon wieder gebrüllt und trat, wütend ob meiner Schwäche, vor den Metallzaun. Das tat nur ein bisschen weh und erfrischte mich genug, mich von meinem Selbstmitleid zu meinen aktuellen Problemen zurückzubringen. Es war Samstag, leider völlig zweifelsfrei. Samstagmittag am Bahnhof einer mittelgroßen Stadt in Deutschland, und ich hatte seit mittlerweile geschätzten zwei Stunden keinen einzigen Menschen gesehen. Für meinen Marsch über die Gleise mochte das ja noch angehen („Abgesehen davon, dass kein Zug …“ – „Halt! Die! Fresse!“), aber hier? Hier ging das überhaupt nicht. Etwas stimmte hier nicht, etwas war hier profund und allumfassend falsch, absolut falsch.

Ich ging die Bahnhofstraße hinunter, die Hauptstraße, die zum Zentrum der Stadt führte, anfangs noch neugierig. Das vor allem. Die durchsichtige Mauer, die in den vergangenen Stunden schnell um mich gewachsen war und tiefe Fundamente in den Wochen und Monaten und Jahren davor hatte, schützte mich. Das war ja gar nicht mehr meine Welt. Es war die Welt der Lebenden, von der ich mich verabschiedet hatte, auch wenn die Lebenden gerade nicht anwesend schienen. Diese Welt ging mich nichts an, dass ich immer noch darin herumlief, war ein Unfall, ich war ein Toter auf Urlaub. Und solange ich Urlaub hatte, konnte ich dieses interessante kleine Problem erforschen. Immerhin eine spannende Art, meine letzten – was? Minuten? Stunden? Mehr doch nicht – hier zu verbringen. So kam es, dass ich die breite, abschüssige Straße hinabschritt, vorbei an Restaurants, einem altehrwürdigen Café, einer Apotheke, Wohnhäusern, eifrig von Straßenseite zu Straßenseite wechselnd, in Fenster spähend und nach Aushängen suchend, die mir erklärten, wohin all die Leichlinger verschwunden waren. Unterwegs kam mir der Gedanke, dass es vielleicht einen Unfall gegeben habe, irgendeine technische Katastrophe, und man hatte die ganze Stadt evakuiert. Vielleicht nicht nur diese Stadt, vielleicht auch die angrenzenden Städte oder Stadtteile, also auch Opladen. Das würde auch erklären, warum der Bahnhof dort so verlassen gewesen war. Und uns übriggebliebene Partygäste in unserem Bunker hatte man einfach vergessen. Ich fing an, mich mit der Idee anzufreunden, und überlegte schon, wie ich ergründen könne, welcher Art die Katastrophe gewesen sei. Angst hatte ich keine. Was immer passiert war – wenn man dafür ganze Städte evakuierte, musste es eine tödliche Bedrohung sein. Genau, was ich suchte.

Dieses hübsche Wolkenkuckucksheim hielt so lange, bis ich die Autos sah. Die Straße fiel steil vom Bahnhof zum Tal der Wupper hin ab. Am Fuß des Hügels kreuzte sie die Straße, die zur zentralen Brücke über den Fluss führte, verlief in einer sanften Kurve und folgte dann dem Lauf der Wupper, die knapp hundert Meter zur Linken hinter zwei Häuserzeilen floss. Auf der Kreuzung standen zwei Autos, und dahinter, im Scheitelpunkt der flachen Kurve, hatte sich ein Knäuel aus fünf weiteren gebildet. Von weitem hatte ich das noch ignorieren können, aber je näher ich kam, desto deutlicher war es. Nicht zu leugnen. Die Autos auf der Kreuzung – ein Toyota Yaris und ein alter 3er BMW – standen ohne jedes logische Verhältnis zum Straßenverlauf einfach da, als hätte ein Riesenkind sie nach seinem Spiel dort vergessen. Die Wagen, die das Knäuel bildeten, erzählten keine Geschichte eines dramatischen Unfalls. Die drei, die am nächsten zum Bürgersteig standen, hatten Blechschäden, Beulen, dort, wo sie mit offensichtlich geringer Geschwindigkeit ineinander gestoßen waren. Die beiden äußeren waren sogar ganz unbeschädigt, jedenfalls soweit ich das sehen konnte. Ich schaute ins Innere eines Wagens und schauderte. Der Schlüssel steckte noch, der dritte Gang war wohl eingelegt. Vom Fahrer keine Spur. Zum ersten Mal hatte ich Angst, denn ich begriff. Es war offensichtlich, was passiert war. Die Fahrer mussten sehr plötzlich verschwunden sein. Abgewürgt und vom Motor gebremst waren die Autos den Hügel hinabgerollt oder -gerutscht, einige waren schon auf der Kreuzung zum Stehen gekommen, die anderen glitten in den äußeren Rand der Kurve und dort ineinander. Diese Evakuierung musste wirklich sehr plötzlich gekommen sein. So plötzlich, dass die Fahrer ihre Autos während der Fahrt verlassen hatten – und ohne die Türen zu öffnen. Meine schöne Idee von der Flucht vor der Katastrophe war mit einem Mal sehr, sehr dünn. Leider. Denn was war die Alternative?

Ich wich vor dem Autoknäuel zurück auf die Kreuzung und wankte benebelt in die kleine Fußgängerzone, eine einzelne beruhigte Straße zwischen zwei hohen Häuserzeilen. Die Läden hier – Schnäppchenmarkt, Eiscafé, Buchhandlung, Bäckerei und eine skurrile Vielzahl an Modegeschäften – waren verrammelt, und für einen Moment stahl sich wieder das beruhigende Bild eines Sonntagmittags in meinen Geist. Sinnlos. Es war Samstag, und selbst wenn es Sonntag gewesen wäre – das Geschäft dieses heißen Tages hätte sich das Eiscafé sicher nicht entgehen lassen. Aber es war ebenso verschlossen und dunkel wie alle anderen Läden. Und nicht nur die Geschäfte, auch die Wohnungen darüber waren still. Ich überquerte die Wupper auf einer Fußgängerbrücke, von der aus ich einen guten Blick auf die Rückseite der Wohnbebauung am anderen Ufer hatte – mehrgeschossige Häuser allesamt, mit verschieferten Giebeln und großen Balkonen, die ohne Ausnahme still und leer waren. Unter der Brücke rauschte der dünn gewordene Fluss. Und als hätte das Plätschern meine Ohren geöffnet, hörte ich plötzlich die Geräusche, die mich umgaben. Der Wind war schwach, doch ich hörte ihn in den Bäumen am Wupperufer. Und die Vögel. Vogelstimmen überall, ein Zwitschern und Tschilpen, das ich noch nie so gehört hatte, jedenfalls nicht in einer Stadt. Hatte ich gedacht, es sei still? Das Gegenteil stimmte. Der Mittag war laut von all den Geräuschen, die normalerweise von den Menschen übertönt wurden.

Am anderen Ende der Straße spuckte die Fußgängerzone mich wieder aus, ich stolperte über die Straße und durch einen Kreisverkehr. Dabei achtete ich nicht mehr auf etwaige Autos, meine Instinkte hatten offenbar schon beschlossen, dass diese Gefahr hinter mir lag. So schnell ging das? Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdeckte ich ein großes, hellrot verklinkertes Gebäude mit Türmchen, die Wappen auf den vergitterten Fenstern wiesen es als Sparkasse aus. Aber das war Vergangenheit, wer heute hier residierte, verkündete weiße Schrift auf blauem Grund über dem Eingang: Polizei. Noch einmal Hoffnung. Wenn die nicht übrig geblieben waren – wer dann?

„Die Polizeiwache Leichlingen ist regelmäßig besetzt zu folgenden Zeiten: Montag bis Samstag, 7 : 30 Uhr – 16 : 00 Uhr“, versprach ein Schild an der Tür. Ich drückte auf die Klingel und wartete. Dann drückte ich noch einmal. Dann noch einmal. Ich rüttelte an der Tür, die verschlossen blieb. Ich drückte noch einmal auf die Klingel. Ich sprach in die Gegensprechanlage darüber:

„Guten Tag. Hallo?“

Ich sagte meinen Namen, in der Hoffnung auf einen Promibonus. Lasen Polizisten mein Buch?

„Hallo? Ich glaube, Sie haben mich vergessen. Ich bin noch hier. Alle anderen sind weg. Da … Da ist ein Unfall am Wallgraben. Da, an der Kreuzung, wo es hoch zum Bahnhof geht. Hallo?“

Nichts. Noch mal klingeln, weiter nichts, dann riss die Sicherung. Ich hämmerte auf die Klingel ein und brüllte in den Lautsprecher.

„Hey! Kommt raus, ihr Scheißbullen! All Cops are Bastards! Sausäcke …“ Ich erging mich in einer Beschimpfungsorgie, die ungeheuer befreiend wirkte. Als ich dazu überging, Filmzitate zu verwenden und die offensichtlich nicht vorhandenen Polizisten als „Nazikommunisten“ und „Äugler“ titulierte, lachte ich bereits atemlos und unter Tränen. Ich rannte die Stufen der Polizeistation hinab und in den benachbarten Stadtpark, ließ mich in den Schatten einer riesigen Kastanie fallen, heulte und lachte, trommelte mit beiden Fäusten auf den Boden ein und brüllte. Dann kuschelte ich mich an den Stamm des Baumes und schluchzte vor mich hin, bis ich völlig erschöpft einschlief.

***

Ich erwachte von einer sanften Berührung. Jemand strich mir leicht über die Wange. Ich öffnete die Augen und erwartete, ein Gesicht zu sehen, die Augen des Menschen, der mich hier gefunden hatte und zurückbringen würde in die Gewissheit, dass ich nicht allein war auf der Welt.

Da war kein Gesicht, nur ein kleiner dunkler Schatten am Rande meines Sichtfeldes, direkt unter meinem rechten Auge. Wieder dieses sanfte Kitzeln, mit einer instinktiven Bewegung wischte ich mir durchs Gesicht, die Spinne fiel zu Boden und suchte eilig Deckung im Gras. Zurück blieb ein Phantomkitzeln, das ich wegwischte, bevor ich mich umsah. Die Sonne war tiefer gesunken, ich schätzte, dass es Abend war, 19 oder 20 Uhr vielleicht. Meine Erinnerung sprach von Grillabenden, und für einen Moment vermeinte ich wirklich, den Geruch bratenden Fleisches zu erspüren, irgendwo, nicht allzu weit entfernt. Aber auch das war eine Täuschung und sofort wieder verflogen. Vage wurde mir klar, dass mein Verstand begann, sich seine eigene Wirklichkeit aus Versatzstücken dessen zu kleistern, was er erwartete: ein Mensch, der mich weckte, Freundeskreise, die das taten, was man eben an Sommerabenden wie diesem tat. Einmal glaubte ich, ein entferntes Auto zu hören, bevor mir klar wurde, dass es der Abendwind in den Bäumen des Parks war. Ich musste schleunigst etwas tun, wenn ich nicht wahnsinnig werden wollte.

Ich stand entschlossen auf, schwankte kurz, ließ mich wieder auf meinen Hintern fallen. Wenn die Verwirrung, die ich empfand, mir ins Gesicht geschrieben stand, gab ich sicher ein lustiges Bild ab. Schade, dass niemand da war, um zu lachen. Denn daran hatte sich nichts geändert: Der Park war leer, die Straße war leer, der kleine Busbahnhof, den ich von hier aus sehen konnte – menschenleer. Während meine Instinkte noch versuchten, davor zu fliehen, hatte mein Bewusstsein diese Leere vorerst akzeptiert und beschäftigte sich mit einer anderen Frage: Warum war ich so schwach, dass ich kaum aufstehen konnte?

Die erste Antwort kam von meinem rechten Bein – es war eingeschlafen und begann nun, kribbelnd wieder zu erwachen. Während ich daran rieb und massierte, wurde mir wieder schwindelig, und ich verstand, dass ich den ganzen Tag über weder gegessen noch getrunken hatte, abgesehen von einer Ibuprofen und einem Becher Wodka mit Multivitaminsaft am Vormittag. Ich musste völlig ausgetrocknet sein, und Hunger hatte ich auch. Erneut versuchte ich aufzustehen, und da mein halberwachtes Bein nun zur Mithilfe bereit war, gelang mir das leidlich. Mein Kreislauf protestierte weiterhin, während meine Blase meldete, dass ich, Durst hin oder her, erst einmal ein wenig Wasser loswerden musste. Ich drehte eine schwankende Runde um die Kastanie und fand, dass sie von keiner Seite Schutz gegen unerwünschte Blicke bot (Wessen Blicke? Halt den Mund!). Also wankte ich zur Rückseite der Polizeiwache, drückte mich in den Schatten und ließ Hose und Unterhose runter. Nichts geschah. Mein Unterleib pochte, aber ich war nie gut darin gewesen, unter den Augen anderer zu pinkeln. Und sosehr alle Sinne auch meldeten, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie ungestörter gewesen war, mein Über-Ich war ganz anderer Ansicht und versagte mir die Erleichterung. Meine Blase verschärfte daraufhin ihre Drohung und begann zu schmerzen, die Harnleiter beteiligten sich, das Über-Ich blieb stur, und mir stiegen vor Frustration die Tränen in die Augen. Da stand ich nun, verschwitzt und verheult, die Hose auf den Knien, mit einer Hand an die Wand des Gebäudes gelehnt, die andere an meinem Schwanz, der nutzlos herumhing, und war nicht mal in der Lage, die primitivste aller denkbaren Handlungen zu verrichten. Ging es demütigender?

Ein weiterer Schwächeanfall rettete mich. Meine Beine wurden weich, ich taumelte wieder, und als ich mich fing und aufrichtete, nutzte mein Stammhirn den Moment, in dem mein innerer Kontrolleur anderweitig beschäftigt war, und öffnete den Damm. Ich konnte verhindern, dass allzu viel auf meine Schuhe geriet, und fühlte dann die tiefe Befriedigung eines Mannes, der nach vielen Mühen und Gefahren endlich seinen Schatz gehoben hatte. Jetzt ging es mir besser. Jetzt konnte ich wieder konstruktiv denken und mich meinen wirklichen Problemen widmen, deren vordringlichste hießen: Durst und Hunger.

Eigentlich gab es da gar kein Problem. Ich befand mich inmitten einer Stadt in Deutschland, um mich herum, in jedem Gebäude, angefangen mit der Polizeiwache neben mir, gab es sicher Unmengen von Lebensmitteln. Ich musste nur reingehen und sie mir holen. Nur – das war nicht so einfach. Zu sehen, dass ringsumher kein Mensch ist und alle Zeichen darauf hindeuten, dass auch so bald keiner erscheinen wird, ist eine Sache. In ein fremdes Haus einzubrechen, darin zum Kühlschrank zu gehen und sich satt zu essen, ist eine völlig andere. Von diesem Widerspruch getrieben, taumelte ich im Kreis durch die Straßen rund um den Park, starrte ratlos auf stumme, geschlossene Fenster und rüttelte halbherzig an den Türen eines Netto-Marktes und eines Eiscafés. Geschlossen, beide, wie in der Fußgängerzone.

„Geh zur Wupper“, schaltete sich die Stimme in meinem Kopf endlich mal konstruktiv ein. „Flusswasser ist leicht zu haben und für alle da.“ Das klang vernünftig, außerdem lag auf dem Weg zur Wupper der große Kaufpark an der Neukirchener Straße, vielleicht war der ja wider jede vernünftige Erwartung nicht verschlossen. Ich durchquerte den Park ein weiteres Mal, und als ich über die Straße lief, sah ich, dass die Lösung sehr viel einfacher sein würde: An einer der Säulen der Aral-Tankstelle auf der anderen Straßenseite stand ein Auto. Wann immer also passiert war, was hier passiert war: Die Tanke war schon geöffnet gewesen.

Ich hatte die Auswahl unter diversen Getränken, Süßigkeiten, in geizigen Portionen verpackter Wurst und Käse, Konserven und anderen haltbaren Speisen. Ich öffnete den Kühlschrank und stellte befriedigt fest, dass er brav kühlte. Strom gab es also noch. Eine Flasche Wasser und eine halbe Flasche Fanta löschten meinen Durst, richteten den Kreislauf wieder auf und töteten sogar den brennendsten Hunger. Dem Rest davon machte ich mit Kochschinken, Goudascheiben und Snickers den Garaus. Besser.

Was machte ich hier? Wie ein Erwachender schaute ich mich um. Ich stand inmitten des Tankstellenshops, umgeben von Verpackungen und Flaschen, die ich achtlos rings um mich hatte fallen lassen. In meinem Mundwinkel klebte noch ein schokoladiger Rest des Snickers. Ich fischte ihn mit der Zunge weg, ging zur Tür, schaute hinaus, dann wieder zurück in den Verkaufsraum.

956,63 ₽
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Дата выхода на Литрес:
22 декабря 2023
Объем:
612 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783942625203
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