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Anmerkungen

1Didier Eribon: Rückkehr nach Reims. Berlin: Suhrkamp 2016

2Rückkehr nach Reims wurde zum Beispiel 2017 in der Schaubühne Berlin aufgeführt (Regie: Thomas Ostermeier) und 2019 am Schauspiel Köln (Regie: Thomas Jonigk)

3Michael Meyen: »Wir haben freier gelebt«. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Bielefeld: transcript 2013, S. 178

4Vgl. Anke Fiedler: Medienlenkung in der DDR. Köln: Böhlau 2014

5Vgl. Michael Meyen: Breaking News: Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren. Frankfurt/M.: Westend 2018

6Robert K. Merton: The Matthew Effect in Science. In: Science Vol. 159 (1968), Nr. 3810, S. 56-63

7Vgl. Meyen, Freier gelebt

8Vielleicht am prägnantesten ausgearbeitet ist dieser Gedanke bei Anthony Giddens: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Mit einer Einführung von Hans Joas. Frankfurt/M.: Campus 1995

9Vgl. Ilko-Sascha Kowalczuk: Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR. München: C.H. Beck 2013, Daniela Dahn: Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute. Die Einheit – eine Abrechnung. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2019, S. 96

10Dahn: Schnee von gestern, S. 93

11Wolfgang Wippermann: Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich. Berlin: Rotbuch 2009, S. 90

12Ebd., S. 105

13Vgl. Rolf Geserick: 40 Jahre Presse, Rundfunk und Kommunikationspolitik in der DDR. München: Minerva 1989, Fiedler: Medienlenkung

14Vgl. Wippermann: Dämonisierung, S. 80f.

15Andreas G. Graf: Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in der geschlossenen Gesellschaft der DDR. Eine Annäherung. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode des Deutschen Bundestages). Band IV/2. Bildung, Wissenschaft, Kultur. Baden-Baden: Nomos 1999, S. 1689-1744, hier 1704

16Gunter Holzweißig: Jeder Affe konnte eingreifen. Journalismus in der DDR. In: Horch und Guck 2/2011, S. 78f., hier 79

17Vgl. Michael Meyen: Rezension zu Gunter Holzweißig: Die schärfste Waffe der Partei. Eine Mediengeschichte der DDR. – Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2002. In: Publizistik 47. Jg. (2002), S. 488f.

18Gunter Holzweißig: Die Presse als Herrschaftsinstrument der SED. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Band II/3. Baden-Baden: Nomos 1995, S. 1689-1722, hier 1715, 1722

19Michael Meyen, Anke Fiedler: Die Grenze im Kopf. Journalisten in der DDR. Berlin: Panama Verlag 2011, S. 354

20Vgl. Horst Pöttker (Hrsg.): Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Klassiker der Sozialwissenschaft über Journalismus und Medien. Konstanz: UVK 2001, S. 26

21Vgl. Tricia M. Kress: Critical Praxis Research. Breathing New Life into Research Methods for Teachers. Dordrecht: Springer 2011, S. 219-231

22Interview mit Jörg Simon, 6. November 2019

23Ausführlich hierzu: Karl Mannheims Theorie von der Seinsgebundenheit des Wissens. Vgl. Karl Mannheim: Wissenssoziologie. In: Ideologie und Utopia. Frankfurt/M.: Klostermann 1931, S. 227-267; Michael Meyen, Maria Löblich, Senta Pfaff-Rüdiger, Claudia Riesmeyer: Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft. Eine praxisorientierte Einführung. 2. Auflage. Wiesbaden: Springer VS 2019, S. 26f.

24Mannheim: Wissenssoziologie, S. 258

25Vgl. Bettina Heintz: Wissenschaft im Kontext. Neuere Entwicklungstendenzen der Wissenschaftssoziologie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 45. Jg. (1993), S. 528-552, hier 532

26Wulf Skaun: Es gibt keine unpolitische Wissenschaft. In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2015. http://blexkom.halemverlag.de/wulf-skaun/ (31. Januar 2020)

27Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus. Berlin: Rowohlt 2019, S. 26

28Brigitte Klump: Das rote Kloster. Eine deutsche Erziehung. Hamburg: Hoffmann und Campe 1978, Brigitte Klump: Das rote Kloster. Als Zögling in der Kaderschmiede der Stasi. Frankfurt/M.: Ullstein 1991

29Interview mit Bernd Okun am 7. Januar 2020 in Leipzig. – In der Online-Fassung fehlt dieses Zitat: Bernd Okun: Reizt das doch aus, bevor ihr die Flinte ins Korn werft. In: Michael Meyen, Thomas Wiedemann (Hrsg.): Biografisches Lexikon der Kommunikationswissenschaft. Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/okun-interview/ (7. Mai 2020)

30Dahn: Schnee von gestern, S. 17, 19f.

31Jochen-Martin Gutsch: Nachwendejahre. In: Ziemlich beste Deutsche. Warum es uns so schwerfällt, ein Volk zu werden. 30 Jahre Mauerfall. Spiegel Spezial vom Oktober/November 2019, S. 43

32Interview mit Wiebke Müller am 1. November 2019 in Dresden

33Vgl. Hans Poerschke: Gedanken zur Abwicklung (zum Abriss) der Sektion Journalistik. In: Michael Meyen: Leipzig nach der Wende: Landnahme, Verwestlichung oder Strukturwandel? Köln: Herbert von Halem 2020. http://blexkom.halemverlag.de/landnahme/ (7. Mai 2020)

34Vgl. (zugleich exemplarisch für die Mainstream-Forschung zum Medienvertrauen) Johanna Schindler, Claudia Fortkord, Lone Posthumus, Magdalena Obermaier, Nayla Fawzi, Carsten Reinemann: Woher kommt und wozu führt Medienfeindlichkeit? Zum Zusammenhang von populistischen Einstellungen, Medienfeindlichkeit, negativen Emotionen und Partizipation. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 66. Jg. (2018), S. 283-301, hier 287

35Vgl. Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten – eine kritische Netzwerkanalyse. 2. Auflage. Köln: Herbert von Halem 2019, Maren Müller, Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer: Zwischen Feindbild und Wetterbericht. Tagesschau & Co. – Auftrag und Realität. Köln: PapyRossa 2019

36Meyen, Freier gelebt, S. 225

37Chantal Mouffe: Für einen linken Populismus. Berlin: Suhrkamp 2018, S. 59

38Vgl. Michael Meyen: Journalists’ Autonomy around the Globe: A Typology of 46 Mass Media Systems. In: Global Media Journal, German Edition 8. Jg. (2018), Nr. 1

39Vgl. Nick Couldry: Media, Society, World. Social Theory and Digital Media Practice. Cambridge: Polity Press 2012, S. 84-91

40Mouffe, Populismus, S. 20

41Lia Becker, Mario Candeias, Janek Niggemann, Anne Steckner (Hrsg.): Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte. Hamburg: Argument Verlag 2013, S. 19f.

42Vgl. Uwe Krüger, Michael Meyen: Auf dem Weg in die Postwachstumsgesellschaft. Plädoyer für eine transformative Kommunikationswissenschaft. In: Publizistik 63. Jg. (2018), S. 341-357

43Geoffroy der Lagasnerie: Denken in einer schlechten Welt. Berlin: Matthes & Seitz 2018, S. 14, 24f., 55, 102

44Matthias Krauß: Die große Freiheit ist es nicht geworden. Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat. Berlin: Das Neue Berlin 2019, S. 9-11

45Jem Bendell: Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy. Ambleside: IFLAS Occasional Paper 2, 27. Juli 2018, http://lifeworth.com/deepadaptation.pdf (2. Juni 2020)

46Vgl. Andrew Zolli, Ann Marie Healy: Resilience: Why Things Bounce Back. New York: Simon & Schuster Paperbacks 2013

47Vgl. Cornelius Pollmer: Flaute Ost. In: Süddeutsche Zeitung, Literatur. Beilage zur Leipziger Buchmesse vom 19. März 2019, Michael Meyen: Wider die »Aufarbeitungsindustrie«. In: Michael Meyen (Hrsg.): Das mediale Erbe der DDR @LMU 2019. https://medienerbe.hypotheses.org/213 (3. Februar 2020)

48Martin Sabrow: Die DDR erinnern. In: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR. München: C. H. Beck 2009, S. 11-27, hier 16-20. Vgl. Meyen, Freier gelebt, S. 59

49Vgl. Meyen, Freier gelebt

50Vgl. Fiedler: Medienlenkung

51Vgl. Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. Berlin: Suhrkamp 2019

52Lorenz Abu Ayyash: Editorial. In: Das letzte Jahr der DDR. Aus Politik und Zeitgeschichte 69. Jg. (2019), Nr. 35-37, S. 3

53Martin Sabrow: »1989« als Erzählung. Ebd., S. 25-33, hier 30-32

54BMBF-Pressemitteilung Nr. 48/2018: https://www.bmbf.de/de/wissensluecken-ueber-die-ddr-schliessen-6346.html (3. Februar 2020)

55Vgl. Moreno: Tausend Zeilen Lüge


FDJ-Versammlung am Institut für Publizistik und Zeitungswissenschaft, Anfang der 1950er-Jahre. Quelle: Fotoalbum von Ilse Faeskorn


Hörsaalatmosphäre, Anfang der 1950er-Jahre. Quelle: Fotoalbum von Ilse Faeskorn

Hermann Duncker (zweiter von links) zu Gast. Ganz links: Klaus Raddatz, damals Student und später einer der führenden DDR-Journalisten. Quelle: Fotoalbum von Ilse Faeskorn


Arbeiten im Wohnheim in der Leipziger Kurt-Eisner-Straße. Quelle: Fotoalbum von Ilse Faeskorn

Ernteeinsatz, Anfang der 1950er-Jahre. Quelle: Fotoalbum von Ilse Faeskorn


Heinrich Bruhn (links), 1951 bis 1977 Professor in Leipzig, und Georg Förster, in der Abteilung Agitation des ZK der SED zuständig für die Journalistenausbildung. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Karl-Heinz Röhr)

Otto B. Roegele (links), Professor in München, und Emil Dusiska, Direktor der Leipziger Sektion Journalistik, auf einer IAMCR-Tagung. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Karl-Heinz Röhr)


Journalistikstudenten Mitte der 1970er-Jahre. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Sigrid Hoyer)

Sigrid Hoyer lehrt Kreativität und Schöpfertum im Journalismus. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Sigrid Hoyer)


Wolfgang Tiedke (links) und Wulf Skaun bei der Verteidigung ihrer Dissertation am 16. Juli 1976. Quelle: Privatarchiv Wulf Skaun

Leipziger Journalistikdozenten, Ende der 1970er-Jahre: Wolfgang Böttger (ganz links), Wolfgang Wittenbecher (daneben, verdeckt), Emil Dusiska (mit dem Rücken zum Fotografen), Karl-Heinz Röhr, vermutlich Armin Hopf (Sächsisches Tageblatt), Peter Hamann, Siegfried Schmidt (mit Brille), Dieter Weihrauch (im dunklen Anzug), Hans Hüttl (hinter der rechten Schulter von Weihrauch), vermutlich Klaus Thielicke. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe von Karl-Heinz Röhr)


Hedwig Voegt, Hermann Budzislawski, Heinrich Bruhn (von links). Quelle: Privatarchiv Michael Meyen (Leihgabe Karl-Heinz Röhr)


Protestplakat, Ende 1990. Quelle: Privatarchiv Michael Meyen

Arnulf Kutsch bei einem Vortrag in München (2004). Foto: Christoph Hage


Karl Friedrich Reimers (2003). Foto: Michael Meyen


Werner Michaelis (stehend) mit Wolfgang Wittenbecher (links) und Emil Dusiska im Senatssaal der Universität in der Leipziger Ritterstraße. Quelle: Privatarchiv Werner Michaelis

4.WARUM DIE VERGANGENHEIT NICHT VERGEHT
Ein Podium, in dem alles drin ist – sogar die Ostsee-Zeitung

Heute werde ich entscheiden, dieses Buch zu schreiben. Es ist wieder Herbst in Leipzig, ein Novemberabend, kalt und nass, fast wie damals, vor 30 Jahren. Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und vor allem nicht zurückholen, was man damals gedacht und gefühlt hat, selbst wenn der Rahmen dafür so perfekt ist wie heute. Aber den Versuch ist es wert, für mich jedenfalls. Das Netzwerk Kritische Kommunikationswissenschaft hat, wie man so schön sagt, weder Zeit noch Mühe gescheut, um meine Geschichte in einem Raum zu versammeln. Natürlich: Es geht nicht um mich. Der Abend wird Hans Poerschke gehören, um den die Veranstalter bis zum letzten Moment zittern. Die Gesundheit. Poerschke wird 83. Er hört schon lange nicht mehr gut und mag sein Haus in Holzweißig nicht wirklich verlassen. Zur S-Bahn in Bitterfeld sind es fast drei Kilometer. Hans Poerschke hat seine Rede daheim am Computer vorbereitet, aber er traut seinem Körper nicht mehr. Wer weiß, was morgen sein wird.

Heute wird Hans Poerschke noch einmal in Leipzig gebraucht. Wer soll sonst sprechen, wenn es um den »Abriss des roten Klosters« geht, Untertitel: Wie die Leipziger Journalistenausbildung verwestlicht wurde. Es gibt niemanden, der Hans Poerschke auf diesem Podium ersetzen kann, auch Karl-Heinz Röhr nicht, anderthalb Jahre älter und trotzdem noch so fit, dass er dienstags zum Englischkurs ins Stadtzentrum fährt und hin und wieder sogar in die Red-Bull-Arena geht. Für das, was da geplant sei, schreibt Röhr eine Woche vorher, sei er »nicht der richtige Partner«.1

Röhr, der in diesem Buch noch eine Rolle spielen wird, war wie Poerschke Professor an der Sektion Journalistik. Beide sind fast parallel durch das Leben gegangen, Röhr immer diese anderthalb Schritte voraus auf dem weiten Weg von ganz unten. »Ich stamme aus ganz ärmlichen Verhältnissen«, sagt er. »Ein echter Proletarier«.2 »Zu Hause gab es nicht einmal einen ordentlichen Stuhl«.3 Bei Hans Poerschke klingt das ähnlich (»im wörtlichen Sinne aus einfachsten Verhältnissen«4), und auch sonst ist das mit der Parallele nicht einfach so dahingesagt. Die Mütter haben genäht, um die Familie durchzubringen, und die Väter waren nicht da, als die Jungs sie gebraucht hätten. Der eine, ein Schlosser im Braunkohlenwerk Borna, nahm sich 1936 das Leben, nachdem er arbeitslos geworden war und auch in Berlin nichts gefunden hatte, und der andere starb in jugoslawischer Gefangenschaft. Röhr wuchs bei einer Tante auf, einer Reinemachefrau in Borna, und Poerschke in einer »Laube in Friedrichsfelde«, ohne »Spielkameraden« und auch sonst so gut wie allein, da Mutter und Stiefvater in Schichten gearbeitet haben.5 Ohne die DDR, so lässt sich das zusammenfassen, wären Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke höchstwahrscheinlich nie an eine Universität gekommen und schon gar nicht auf eine Professur.

Trotzdem, schreibt Karl-Heinz Röhr. »In den entscheidenden Monaten« sei er ein Stück zu weit weg gewesen, in der Gewerkschaftsleitung der Universität, jenseits von »Lehre und Forschung«. Er habe »die diskriminierende Einladung zur Evaluierung« ausgeschlagen, »freiwillig gekündigt und Herrn Reimers mitgeteilt, dass wir auch eine akademische Ehre haben«. Karl Friedrich Reimers, Neugründer der Kommunikations- und Medienwissenschaft in Leipzig und wie Röhr 1935 geboren, ist an diesem Abend nicht da und doch sehr präsent. Er hat ein Interview mit sich führen lassen und das so breit wie möglich gestreut.6 Jeder soll wissen, dass der Titel dieser Veranstaltung ein Aberwitz ist und mindestens genauso unmöglich wie ein Podium ohne ihn. Ich werde den Text ein paar Wochen später im Büro in München finden und ihn sofort anrufen, weil Reimers für mich in gewisser Weise das ist, was die DDR für Karl-Heinz Röhr und Hans Poerschke war. Dazu gleich mehr.

Vorher ist noch zu erzählen, wo sich die Wege der beiden Leipziger Professoren getrennt haben. Karl-Heinz Röhr spricht von einem »Knick« in seiner Laufbahn, den niemand sieht, der die DDR nicht kennt. Ende der 1970er-Jahre war das, kurz nach der Habilitation, die damals Promotion B hieß und genau wie heute die Weichen stellte für die Berufung zum Professor. Röhr war ohnehin schon die Nummer 1 im Bereich journalistische Methodik, Emil Dusiska aber, der Sektionsdirektor, suchte jemanden, den er zum Parteisekretär machen konnte. Sein Argument: Du musst »erst Leitungserfahrung sammeln«, Genosse. Vermutlich wäre das auch ohne Argument gegangen. Wer sein Leben an die SED gebunden hatte wie Karl-Heinz Röhr, konnte bei so einem Vorschlag selbst dann nicht nein sagen, wenn er wusste, dass aus dem Direktor nicht die herrschende Klasse sprach, sondern nur der sehr persönliche Wunsch, einen Posten so schnell wie möglich zu besetzen.

Röhr wurde dann doch noch ordentlicher Professor, 1989, kurz vor Toresschluss, der »Knick« aber, das zeigte sich wenig später, hat ihn mehr gekostet als ein Jahrzehnt Funktionärsumleitung. Seine Fahrt war von einem Tag auf den anderen zu Ende, mit Mitte 50, in dem Alter, in dem ich jetzt bin und in dem ich fest damit rechne, dass das ›große Buch‹ noch kommt. Karl-Heinz Röhr ist damals zu den Klinkenputzern gewechselt. Anzeigenakquise, in einer Agentur, die einem seiner Studenten gehörte, und in einem Gebiet, in dem es nur Treuhandfirmen gab und damit so gut wie niemanden, der Geld für Werbung hatte. Er hat das eine Weile versucht und dann nach dem Strohhalm Frühverrentung gegriffen. Wer älter als 55 war, konnte bis Ende 1992 Altersübergangsgeld beantragen, 65 Prozent vom letzten Nettolohn. Ein Massenschicksal. Gut eine Million Fälle standen Anfang 1993 in der Statistik,7 eine Zahl, die viel größer ist als das, was wir uns normalerweise vorstellen können. Dass es an der Universität keinen Platz mehr für ihn geben würde, habe er »sofort« gewusst, sagt Karl-Heinz Röhr. »Ich war ja mal Parteisekretär. Das war ein Makel. Ich hätte bei der Evaluierung keine Chance gehabt. Die Westkollegen wären erschrocken«.8

Hans Poerschke ist schon 1983 ordentlicher Professor geworden, ganz regulär, ein Jahr nach der Promotion B. Heute Abend wird er berichten, dass er »ein Anhänger Lenins« gewesen ist und dabei in Leipzig »als eine Art Papst« galt, »zu Unrecht freilich«.9 Auch darüber ist gleich noch zu sprechen. »In den entscheidenden Monaten«, in denen Karl-Heinz Röhr schon auf dem Abstellgleis steht, fährt Hans Poerschke ins Rampenlicht. Ein bisschen wird er auch geschoben, von Studenten wie mir, die im Oktober 1990 nur ihm das Vertrauen aussprechen und damit Günter Raue und Klaus Preisigke, seine beiden Kollegen im Direktorium, zum Rücktritt zwingen. Poerschke ist am 21. Dezember 1990 bei Wissenschaftsminister Hans Joachim Meyer in Dresden, um gegen die Abwicklung der Sektion Journalistik zu protestieren, organisiert dann das Lehrprogramm, als der Minister seinen Beschluss zurückzieht, und ist schon deshalb für Karl Friedrich Reimers, den neuen starken Mann aus München, der wichtigste Ansprechpartner.

Reimers wird mir ein paar Wochen später am Telefon von ihren gemeinsamen Spaziergängen durch Leipzig erzählen, von einer Attacke der Bild-Zeitung (Tenor: Münchner Professor rettet den roten Poerschke) und davon, wie er bei Minister Meyer und Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ein Jahr ›Sabbatical‹ für Hans Poerschke erkämpft hat. Das sei eine Frage des »Anstands« gewesen und eine »Charakterfrage«, sagt Reimers. Poerschke habe Zeit gebraucht, auch in der Bibliothek, »um sich mit seiner Linie entfalten zu können«. Der Ministerpräsident, der in meinem Ohr fast zu einem alten Kumpel von Reimers schrumpft, habe das zwar für »Luxus« gehalten und der Minister für etwas, das er, der Katholik Hans Joachim Meyer, in der Poerschke-DDR nie bekommen hätte, am Ende aber sei ihm, Reimers, dieser Wunsch vom »Imperium« Biedenkopf-Meyer gewährt worden, als »persönliches Entgegenkommen«.10

Von Bayern aus gesehen ist das alles ganz einfach, immer noch. Hans Poerschke hat da eine große Chance gehabt, auf dem Silbertablett serviert sozusagen von einem verständnisvollen und einfühlsamen Bruder aus dem Westen, gegen den Widerstand der Machtmenschen, die jetzt das Kommando hatten, und er hat diese Chance nicht genutzt, genau wie Bernd Okun, noch so ein Liebling meiner Studentengeneration. Poerschke wird heute Abend sagen, dass ihm damals »die Gelassenheit« gefehlt habe, »die man braucht, um Abstand zu finden«. Er habe zwar »nie wieder so viel gelesen wie in diesem Jahr«, aber »ich wollte mich nicht einfach auf den Schoß von Onkel Niklas setzen oder von Onkel Jürgen oder von Onkel Karl«. Luhmann, Habermas, Popper. »Die waren ja frisch im Angebot, und die Studenten waren zum guten Teil begeistert. Ich habe gemerkt, dass ich dort keine Erklärung finde, die für mich akzeptabel ist. Damit hatte sich jeder Wunsch erledigt, weiterzumachen als wäre nichts gewesen. Ich habe mich nicht beworben aus gutem Grund«.11

Wie Karl-Heinz Röhr hat auch Hans Poerschke das Altersübergangsgeld genommen, fünf Jahre lang. »Heute glaubt keiner mehr, dass es so etwas gegeben hat«, sagt er. »Eine Form der Arbeitslosigkeit, bei der man ordentliches Geld bekam und nicht vermittelt werden musste«.12 Das Publikum im Zeitgeschichtlichen Forum wird ihm nachher an den Lippen hängen, wenn er erzählt, wie er seitdem mit seinem Lenin gerungen hat. Jeder spürt: Dieser Kampf ist noch nicht vorbei. Hans Poerschke sagt, dass er »zum Untergang der DDR« beigetragen hat, und will deshalb wissen, wie es dazu kommen konnte, selbst wenn es nur ihn allein interessieren sollte und wenn das Grübeln alle vergrault, die er von früher kennt. Wie konnte er zur »Spinne im Netz« werden, zu dem Professor, der in Leipzig »die Theorie des Journalismus« vertreten hat, »das Ideologischste vom Ideologischen«, und dabei auch rechtfertigen konnte, dass die Medien den Menschen nur die Welt zeigten, die die »damals Herrschenden« dort sehen wollten?13

Karl-Heinz Röhr hat seinen Frieden auf dem Land gefunden, in einem Häuschen, das er Datsche nennt und das ihn, den gelernten Bergmaschinenmann, noch einmal zum Handwerker werden ließ. Heute wohnt er wieder in Leipzig, nicht weit weg von den beiden Kindern und ihren Familien. Wenn der Computer streikt, kommt ein Enkel. Dass ich das hier erwähne, sagt viel über den deutschen Osten. Meine Tochter arbeitet in Stuttgart und mein Sohn in München. Wie oft sehen sie da ihre Großeltern auf Rügen und in Flöha? Wie oft würde die Omi an der Ostsee etwas von ihrem Enkel hören ohne WhatsApp, wo er ihr das schickt, was er für den Zündfunk macht, ein Radiomagazin beim Bayerischen Rundfunk, obwohl er weiß, dass sie so eine Datei ohne ihn nur mit Mühe öffnen kann? Wer alt ist, hat überall auf der Welt »viel Vergangenheit und wenig Zukunft«.14 In Mecklenburg-Vorpommern und in Sachsen aber wird das eine (die Vergangenheit) noch größer und das andere (die Zukunft) noch kleiner, weil die, die trösten könnten, oft weit weg sind. Im Westen. Da, wo die Arbeit ist.

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9783869625768
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