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WAS DAS ALLES MIT DEM HIER UND JETZT ZU TUN HAT

In diesem Buch möchte ich berichten, wie man noch Ende der 1980er-Jahre auf die Idee kommen konnte, die DDR eher stärken zu wollen als sie bei Nacht und Nebel zu verlassen. Zu dieser Geschichte gehört all das, was davor und danach passiert ist. Dafür hatte ich schon einen schönen Untertitel, der den Ruf Rückkehr nach Leipzig wunderbar ergänzt hätte: Journalistik, Abriss, Medienkrise. Die Sprengkraft, die in diesem Dreiklang steckt, speist sich aus der Glaubenslehre, die im Moment die westlichen Gesellschaften dominiert:

•Journalistik, zumal in ihrer sozialistischen Variante: War es nicht ein Irrweg der Geschichte, die künftigen Propheten der herrschenden Ideologie an die Universität zu schicken und ihnen dort vor allem Handwerk beizubringen? Ist das, was dort Wissenschaft genannt wurde, etwa nicht zurecht eingestampft worden, mitsamt seinen Vertreterinnen und Vertretern? Es mag ja okay sein, dass die Reste im Archiv vor sich hin schimmeln und die Veteranen weiter ihre Treffen haben, aber ist es tatsächlich nötig, dieses Fass noch einmal aufzumachen?

•Abriss: Das führt hinein in den Streit um die Begriffe, der überall da besonders heftig tobt, wo die Interessen der Lebenden tangiert werden. Revolution. Wende. Wiedervereinigung. Umbruch. Neuaufbau. Wiebke Müller, die mit mir in Leipzig studiert hat und heute in Dresden für die Bild-Zeitung arbeitet, erinnert sich an die Unsicherheit, die das Wort ›Abwicklung‹ einst bei ihr auslöste: »Wir haben uns gefragt, was das eigentlich heißt. Werden wir jetzt dichtgemacht?« Die Beruhigungspille wurde offenbar direkt im Hörsaal verabreicht (noch so eine Sache, an die ich mich überhaupt nicht mehr erinnere): »Da kam eine Westdeutsche, hat tatsächlich eine Garnrolle aus der Tasche geholt und gesagt: Wir wickeln jetzt den Faden ab, aber die Rolle bleibt. Und dann kommt ein neuer Faden. Neue Leute, neue Inhalte«.32 Das Wort ›Abriss‹ weckt andere Assoziationen. Es trifft das, was passiert ist, viel besser, auch wenn das die Leute mit der Garnrolle bis heute heftig bestreiten. Ich hätte auch ›Landnahme‹ sagen können wie Hans Poerschke, einer meiner Professoren von früher,33 aber zwischen ›Journalistik‹ und ›Medienkrise‹ klingt so ein Wort mit drei Silben einfach nicht gut.

•Medienkrise: Wenn ich meinen Kolleginnen und Kollegen in der Medienforschung glaube, dann gibt es diese Krise gar nicht. Die Presse, vielleicht. Kaum noch Anzeigen und der Abonnentenstamm so alt, dass sich jede Zukunftsplanung fast von selbst verbietet. Noch weniger Anzeigen durch Corona und so noch weniger Zukunft. Aber sonst? Alles nur Gerede. Die herrschende Lehrmeinung sagt: Das Vertrauen in die Medien wächst wieder leicht oder stagniert auf hohem Niveau. Wenn das auf der Straße oder im Netz anders aussieht, dann liegt das an einer Gesellschaft, die sich polarisiert und eher dorthin schaut, wo es besonders laut ist. Und die Qualität der Berichterstattung? Alles gut, im Prinzip jedenfalls. Ein »relativ breites Meinungsspektrum«, eine »pluralistische und professionelle journalistische Medienlandschaft«.34

Ich sage, gestützt nicht nur auf die vielen Gespräche, die ich für dieses Buch geführt habe: So ganz stimmt das leider nicht. Auch hier muss ich gar nicht zu hoch greifen und zum Beispiel auf die doppelten Standards verweisen oder auf die politischen Loyalitäten der Alpha-Journalisten, die Berichte über Freunde und Verbündete anders aussehen lassen als die über Konkurrenten und Gegner und vieles von dem aus der Öffentlichkeit verbannen, was wir eigentlich diskutieren müssten.35 Ich kann beim Thema bleiben. Das Bild, das Presse und Fernsehen seit 1990 von der DDR zeichnen, hat wenig mit dem zu tun, was sich die Zeitzeugen über die Vergangenheit erzählen – vor allem, wenn sie damals im Osten Deutschlands gelebt haben.36 Die herrschende Geschichtspolitik hat es geschafft, die kritischen Geister in den Redaktionen entweder einzulullen oder ihnen die wichtigsten Publikationsplätze zu verbauen, und so sicher nicht nur mich zum Journalismuskritiker gemacht.

Natürlich: Jeder Staat (in Anlehnung an Gramsci hier verstanden als »Kristallisation der Machtverhältnisse und als umkämpftes Terrain«37) hat ein Interesse, das zu kontrollieren, was über ihn in der Öffentlichkeit gesagt wird.38 Das gilt erst recht, wenn es um die nationale Identität geht und um die Legitimation des politischen Systems. Egal ob im Ersten, in der FAZ, im Spiegel oder in der Süddeutsche Zeitung: Die DDR, die wir dort sehen, spiegelt nicht die ›Realität‹, sondern die Definitionsmachtverhältnisse. Wer hat es geschafft, seine Sicht der Dinge in der Öffentlichkeit durchzusetzen? Dass dabei mit ungleichen Waffen gekämpft wird, muss ich hier nicht wiederholen.

Die DDR der Massenmedien ist trotzdem für uns alle ganz real. Diese DDR (anders als zum Beispiel die DDR der digitalen Nostalgiegruppen) kann niemand ignorieren – selbst der nicht, der sich an etwas anderes erinnern will und vielleicht sogar alle Geschichtsberichte meidet, um sich nicht mehr ärgern zu müssen. Medien definieren, was ist. Sie ordnen die Welt. Sie liefern Kategorien, mit denen wir die Welt beschreiben können (etwa: ›Diktatur‹ oder ›totalitär‹), und sorgen so dafür, dass ihre Realitätskonstruktionen Alltagshandeln und Weltanschauungen bestimmen.39 Medienrealität ist eine Realität erster Ordnung, wie die Mauern eines Hauses, durch die wir nicht einfach hindurchmarschieren können. Die symbolische Gewalt, die von der Medienrealität ausgeht, erklärt, warum bei jeder Kritik am Journalismus auch dann das große Ganze auf dem Spiel steht, wenn es nur um die kleine DDR geht, und warum Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ganz gut leben in einem bestimmten politischen System, gar nicht so selten auf der Seite der Verteidiger zu finden sind, obwohl ihr Ethos eigentlich etwas anderes erwarten lassen sollte.

Die Begriffe ›Gewalt‹ und ›Verteidiger‹ sind mir nicht zufällig unterlaufen. Ich gehe mit Chantal Mouffe, einer belgischen Politikwissenschaftlerin, davon aus, »dass Gesellschaften stets gespalten sind« und »durch hegemoniale Praktiken diskursiv konstruiert werden«.40 Die Geschichtspolitik, die ein bestimmtes Bild der DDR durchgesetzt hat, ist eine solche ›hegemoniale Praxis‹. Sie hilft, eine Ordnung zu stützen, die das Privateigentum vergöttert und einen Kult um das Individuum entfacht, obwohl weite Teile der Bevölkerung gar nicht die Möglichkeit haben, das auszuleben, was in ihnen steckt. Ich will nicht zu tief in die Theorie einsteigen, aber wenigstens darauf hinweisen, dass Hegemonie hier mit Antonio Gramsci als eine Form der Herrschaft verstanden wird, die neben Zwang (Polizei, Gesetze, Gerichte) auch auf Konsens setzt. Die gerade »führende Gruppe« muss »die Zustimmung der Beherrschten zu ihrem Projekt gewinnen« und von »konkurrierenden gegnerischen Gruppen« zumindest akzeptiert werden. Die Konstruktion der DDR als Diktatur hat geholfen, eine »gemeinsame Perspektive« zu finden, die zum Beispiel Enteignungen und alle sonst denkbaren ›Zwangs‹-Maßnahmen zum Wohle des Kollektivs im Moment utopisch wirken lassen.41

In diesem Kampf um Definitionsmacht sind Sozialwissenschaftler nicht Beobachter, sondern Teilnehmer.42 Wer Ideen produziert, will mitmischen. Die Öffentlichkeit (oder: »die Politik«), sagt Geoffroy de Lagasnerie, ein französischer Soziologe, »ist immer schon da«, wenn wir anfangen zu forschen – in den Gegenständen, in den Untersuchungsdesigns, in unseren Interpretationen. Es gibt die DDR des hegemonialen Diskurses, und es gibt das, was ich erlebt und längst hundertfach neu geordnet und umgedeutet habe. Durch die Brille von Geoffroy de Lagasnerie ist das kein Problem. Der »Raum des Wissens« und die Politik sind für ihn ein einziger Raum – und in diesem Raum wird gekämpft. De Lagasnerie hat auch keine Scheu, Front und Gegner zu benennen. Sein Axiom: »Die Welt ist ungerecht, die Welt ist schlecht, sie ist durchzogen von Systemen der Herrschaft, der Ausbeutung, der Macht und Gewalt, die es aufzuhalten, infrage zu stellen und zu überwinden gilt«.

Ich könnte das als Programm für dieses Buch so stehen lassen, zumal ›Wahrheit‹ für Geoffroy de Lagasnerie ein »oppositioneller Begriff« ist und »objektiv« alles, was zeigt, wie und warum eine Praxis oder eine Institution »falsch« ist (»wie sie uns schlecht behandelt, wie sie lügt und auf irrationalen Überzeugungen und Praxen beruht«).43 Die Zeiten rufen aber eher nach den ganz großen Themen und nicht nach der kleinen DDR, schon gar nicht nach dem Winzling Journalistenausbildung. Matthias Krauß, 1960 in Hennigsdorf geboren, Absolvent der Leipziger Sektion Journalistik und heute in Potsdam, hat nach einem »dreißigjährigen Privatkrieg« gegen die »Aufarbeitungsindustrie« einen »Waffenstillstand« angekündigt. Schluss mit dem Kampf gegen den »einseitigen Mainstream«. Zum einen sei alles gesagt, und zum anderen würden »möglicherweise in Kürze Dinge eintreten«, die die Debatte um die deutsch-deutsche Vergangenheit »völlig überwalzen und gegenstandslos machen werden«.44

Auch wenn hier kurz vor Corona ein Prophet zu schreiben scheint: Konkreter wird Matthias Krauß nicht, vielleicht ein Erbe aus den wenigen Jahren, die er für die Parteipresse gearbeitet hat. Andeutungen genügten damals. Im November 2019 haben Uwe Krüger und ich in Leipzig ein Seminar zu einem Text von Jem Bendell angeboten. Deep Adaptation: A Map for Navigating Climate Tragedy.45 Bendell bietet dort einen neuen Blick auf das, was er »Klimatragödie« nennt. Sein Ausgangspunkt: Es ist zu spät. Der Zusammenbruch unvermeidlich, die Katastrophe wahrscheinlich, das Aussterben nicht auszuschließen. Unser Seminar in Leipzig war großartig, weil dieser Blick jeden zwingt, existenzielle Fragen zu stellen. Was will ich im Leben? Würde ich das selbst dann noch wollen, wenn ich wüsste, dass alles vergeblich ist? Jem Bendell liefert darauf keine fertige Antwort, wie sollte er. Er referiert aber Literatur zur Resilienz (verkürzt: zum Umgang mit Schicksalsschlägen46), zum Verzicht (Dinge loslassen, die man lange geliebt hat und für selbstverständlich hielt) sowie zur Erneuerung (längst verschüttete Einstellungen und Ansätze wiederentdecken) und macht daraus eine Agenda der Anpassung an das, was er für unvermeidlich hält, und damit einen Silberstreif an einem düsteren Horizont.

Mir hat Jem Bendell geholfen. Ich schreibe hier über eine eher kleine Menschheitsfrage (Journalismus und Journalistenausbildung), fordere aber trotzdem das heraus, was wir für selbstverständlich halten (etwa: zentrale Kommunikationskanäle in Familienbesitz), und grabe nach Erfahrungen, die die Sieger der Geschichte auf den Müllhaufen geworfen haben. Journalistik, Abriss, Medienkrise: In meiner Argumentation gehören diese drei Schlagworte zusammen. Der Kahlschlag in der akademischen Journalistenausbildung in Deutschland beginnt mit dem Abriss des ›roten Klosters‹, und der Vertrauensverlust der Medien, den wir heute beobachten, hat auch damit zu tun, dass der hegemoniale DDR-Diskurs ostdeutsche Journalisten in aller Regel in Nischen verbannt und sich so lange Zeit selbst verstärkt hat.

WIE DAS DDR-GEDÄCHTNIS GERADE NEU VERMESSEN WIRD

In meiner Rezension hatte ich vermutet, dass das Buch von Matthias Krauß die eigene Blase (Märkische Allgemeine, Leipziger Volkszeitung, Junge Welt, Neues Deutschland) nur deshalb verlassen konnte, weil die Süddeutsche Zeitung auch einen Dresdner beschäftigt (Cornelius Pollmer, Jahrgang 1984).47 Diese Rezension ist im April 2019 geschrieben worden – und damit (um nur zwei Beispiele herauszugreifen für die These, die gleich folgt) vor dem Film Traumfabrik und der schon zitierten Spiegel-Sonderausgabe zu 30 Jahren Mauerfall. Es sieht im Moment so, als ob auf dem ›Kampfplatz der Erinnerungen‹ eine neue Schlacht begonnen hat. Der Historiker Martin Sabrow, 1954 in Kiel geboren und seit anderthalb Jahrzehnten einer der beiden Direktoren des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam, hat 2008 drei Typen des DDR-Gedächtnisses unterschieden:

Diktaturgedächtnis (der »Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989/90«): Stasi, Unrechtsstaat, Parteiherrschaft, Eiserner Vorhang, Mauerschützen, Doping (im Sport), »Verbrechen, Verrat und Versagen«, »Leid, Opfer und Widerstand«, kommunistischer Terror (von den sowjetischen Lagern in der Besatzungszeit über Schauprozesse und Militäraktionen in ganz Osteuropa bis zu den Gefängnissen und Methoden des DDR-Geheimdienstes), Missachtung von Menschenrechten und politischer Freiheit, Zwangsadoptionen, Zensur und Medienlenkung, Bürgerrechtler, Demonstrationen und Runde Tische;

Arrangementgedächtnis (Verknüpfung von »Machtsphäre und Lebenswelt«): Freude und Leid im Alltag, Stolz auf das Erreichte (persönlich und im Betrieb, aber auch in der Gesellschaft insgesamt, gerade mit Blick auf die Bedingungen im Kalten Krieg), Zwang zur Anpassung und Ohnmacht des »kleinen Mannes«;

Fortschrittsgedächtnis (Festhalten an der »Idee einer legitimen Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung«): »moralische und politische Gleichrangigkeit der beiden deutschen Staaten«, kommunistische Ideale wie die Brechung des Bildungsmonopols der besitzenden Klassen, die Gleichstellung der Geschlechter, Arbeit und Wohlstand für alle, Nahrung und bezahlbaren Wohnraum sowie eine Welt, in der der Mensch sich und seine Arbeitskraft nicht verkaufen muss, keinen materiellen Reichtum begehrt und keine Kriege führt.48

Als ich 2013 meine (so dachte ich damals) letzte Studie zum Thema DDR fertig hatte, ging es mir ein bisschen wie Matthias Krauß. Genug jetzt. Egal ob Schulbücher, Museen oder Leitmedien: Es dominierte Typ 1, seit 1990, Tendenz eher steigend. Typ 2 gab es noch, immerhin. Typ 3 dagegen schien langsam auszusterben.49 Und dann kam die AfD.

Im Film Traumfabrik, produziert unter anderem von Tom Zickler, drei Jahre älter als ich und ab 1988 Student an der Hochschule für Film und Fernsehen in Babelsberg, ist die DDR ein Land, in dem die Menschen zusammenhalten. In dem man sich hilft, in dem man Spaß hat (sogar mit den Russen), in dem Aufstieg von ganz unten Normalität ist und in dem man zwar um die Kontrolleure und Beobachter weiß, sich aber im Alltag nicht groß um sie schert. Jeder wird gebraucht (sogar ein farbenblinder Kameramann), jede trägt etwas bei (hier vor allem die Sekretärin und die Maskenbildnerin). Und: Familie ist wichtig. Wichtiger jedenfalls als Karriere und Partei. Ohne seinen Bruder wäre der Held ein Nichts.

Einmal regnet es in diesem Film. Einmal wird die DDR trist und grau. Das ist die DDR, wie sie die Nachgeborenen kennen. Zwei Polizisten springen aus dem Auto und prügeln mit Schlagstöcken um sich, ohne wirklich einen Grund zu haben, nicht einmal in der Logik einer Überwachungsgesellschaft. Man kann Schwierigkeiten haben mit dieser Szene. Man kann sie aber auch als groteske Überzeichnung dessen lesen, was die Geschichtspolitik uns sonst so erzählt über die DDR. Milou, die Angebetete des Helden, ist dabei und fährt am Ende doch nicht zurück nach Frankreich, in eine Welt, in der sie von einer launischen Chefin abhängt und von einem cholerischen Mann.

Freiheit Ost vs. Freiheit West: Das ist hier die Frage. Tanzen und feiern auf den Straßen von Paris, ja. Aber zu welchem Preis? Der Preis, der in der DDR zu zahlen ist, wird in der Traumfabrik ausgesprochen und bebildert. Eingemauert sein im eigenen Land. Stacheldraht und Maschinenpistolen an der Grenze. Das Diamant-Fahrrad als größter Luxus (dies erst im Abspann, genau wie ein Zeitungscover, das die Ausreise des Traumpaars meldet). Und trotzdem. Milous Augen werden riesig sein und strahlen, wenn sie in diesen Osten zurückläuft. Man kennt dieses Bild. Aber nur für die andere Laufrichtung.

Man kennt auch den selbstherrlichen Funktionär (hier: Heiner Lauterbach), immer mit Lakai, zu allen Schandtaten bereit. In der Realität war es komplizierter, und in der Traumfabrik ist es das auch. Der Film zeigt, wie man das Kompetenzgerangel zwischen SED und Staat ausnutzen konnte für das, was man wollte. So mächtig dieser Heiner Lauterbach als Defa-Boss auch sein mag, irgendwo sitzt jemand, der noch mächtiger ist und der vor allem Angst hat, in der Westpresse negativ aufzufallen. Was hier wie ein ›Märchen‹ erzählt wird (das Filmprojekt, um das es geht, wird über die Bild-Zeitung publik gemacht und ist genau deshalb nicht zu stoppen), hat einen realen Hintergrund.50

Die Traumfabrik war ein Flop (knapp 122.000 Zuschauer und damit nur Platz 121 der deutschen Kinocharts 2019, aber immerhin in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis 2020) und führt zunächst weg von der AfD, die weniger auf den DDR-Diskurs an sich zielt, sondern eher auf die Gewichtung. Der Ausverkauf der Wirtschaft. Die Zweifel und die Unsicherheiten der 1990er.51 Das »Erfolgsnarrativ«,52 wieder und wieder heruntergeleiert und immer unglaubwürdiger, je weiter die Ereignisse von 1989 und 1990 zurücklagen. Martin Sabrow meint inzwischen, dass die »staatlich gestützte Erzählung vom alles überstrahlenden Fluchtpunkt Freiheit« eigentlich bereits 2014 gekippt sei. 25 Jahre Mauerfall. Ein Lichterfest, in der Berliner Luft Tausende Heliumballons und auf dem Boden Hunderttausende Menschen. »Höhepunkt« und »Wendepunkt« in einem, sagt Sabrow und verweist auf die beiden »Erfahrungswelten«, die verdrängt werden mussten, damit die »Revolutionserzählung« dominieren konnte. Das »Treuhand-Trauma«, erstens. Und zweitens: Die »Vorkämpfer des Umbruchs 1989« wollten die DDR nicht abschaffen, sondern erneuern.53

Das will die AfD sicher nicht, aber wie jede Verschiebung in der politischen Landschaft erschüttert auch der Erfolg dieser Partei die Forschungslandschaft und beschert den Historikern so ein wenig Geld. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat 2018 gleich 14 (!) Forschungsverbünde bewilligt, mit einer Laufzeit von jeweils vier Jahren. Die Pressemitteilung zum Start zitiert im Untertitel einen belanglosen Satz von Anja Karliczek, der Ministerin (»Wer seine Vergangenheit kennt, kann Zukunft gestalten«), und setzt in der Überschrift ein Ziel, das nach all den Jahren fast grotesk anmutet: »Wissenslücken über die DDR schließen«.54 Ich will nicht lästern: Als Sprecher des Verbundes »Das mediale Erbe der DDR« habe ich von diesem Füllhorn profitiert und dieses Buch auch mit Hilfe der entsprechenden Ressourcen schreiben können.

Wem das noch nicht genügt als Beleg für die These, dass eine neue Runde im Kampf um die DDR begonnen hat, der greife zum Spiegel, zum Heft Ziemlich beste Deutsche, erschienen im Herbst 2019. ›Sagen, was ist‹ – ein Motto, das trotz Relotius auch dann stimmt, wenn man nicht daran glaubt, dass Journalismus eins zu eins abbilden kann, was ›da draußen‹ passiert.55 Der Spiegel spiegelt die Definitionsmachtverhältnisse. Wenn dort Deutsche aus Ost und West ihre Geschichten erzählen, ungeschminkt und ohne Rücksicht auf das Diktaturgedächtnis, dann ist das gerade angesagt.

Alexander Osang, Jahrgang 1962 und heute vermutlich der erfolgreichste Absolvent der Sektion Journalistik, erzählt in diesem Heft, wie er im Sommer 1990 fünf Wochen »durch Amerika fuhr«, auf Kosten der United States Information Agency. »Später sagte mir jemand, die Agentur werde von der CIA betrieben. Ich glaube, ich wäre auch gefahren, wenn ich das gewusst hätte«. Eine »Politschulung« (oder: »die Erziehung des Ostmenschen«), die »nie wieder« aufgehört habe. Osang hat damals bei der Berliner Zeitung gearbeitet und dort in den 1990ern die wirtschaftliche Kehrseite der neuen Welt erlebt. Westdeutsche, die »so lange mit der Maus gespielt« haben, bis sie keine Lust mehr hatten und die Maus erst recht nicht. »Chefredakteure kamen und gingen. Neue Investoren, neue Besitzer, die Zeitungskrise, Umzug, Syndikation, Content-Management«. Osang ist dann zum Spiegel gewechselt. Stefan Aust habe beim Einstellungsgespräch nur wissen wollen, ob er »denn überhaupt Englisch« könne. Heute weiß Osang, dass die Vergangenheit nicht aufhört. Nie. Und er wettert gegen das Gerede von der ›Lebensleistung‹, die wer auch immer endlich ›anerkennen‹ soll: »Ich möchte nicht pausenlos bewertet werden. Ich möchte nicht vom Spiegel erklärt haben, wie der Ossi so ist. Aber es geht nie darum, dass der Westler sich ändern muss. Der Osten soll aus der Gesellschaft rauswachsen wie eine Dauerwelle«. Das wird er nicht. Aber der Diskurs über ihn kann sich ändern, wenn Menschen wie Alexander Osang sprechen. Als mir das klar war, habe ich den Titel des Buches geändert.

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533 стр. 22 иллюстрации
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9783869625768
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