Читать книгу: «Pardona 3 - Herz der tausend Welten», страница 4

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Er sah sie an und legte dann eine Pfote gegen die Schnitzerei des grauen Mohns.

»Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir wirklich leid. Ich werde darüber nachdenken müssen.«

Und das tat sie. Während sie sich im Nebel treiben ließ, verfolgte sie die Erinnerungsfäden von alten Befehlen und Wünschen, suchte nach einer Lösung. Als die Schöpferin sie verlassen hatte, war ihr Auftrag gewesen, ein letztes Mal als Zeichen an ihre Gefolgsleute nach Hause zurückzukehren und dann verschollen zu gehen. Die Seherin hatte ihr nicht den Tod befohlen, denn sie war nicht grausam, aber dass sie den großen Geheimnissen, den tiefen Pfaden und den festen Welten fern blieb.

Sie dachte darüber nach und während sie das tat, spielte sie weitere Spiele mit dem Vierbeinigen. Die Zeit verging und sie blieben allein.


Amadena saß im Herzen der Zitadelle, ihre Finger ruhten auf schwarzen Adern und durch sie spürte sie den Herzschlag eines anderen, der weit entfernt auf den Morast herabblickte, den ihre Schöpfung hinterlassen hatte. Sie lauschte zugleich den scheinbar geheimen Gesprächen von maskierten Würdenträgern auf dem Kontinent im Westen, den dankbaren Gesängen ihrer Kinder im Norden, dem Wispern und Scharren minderer Magie von zahllosen, umherwuselnden Menschen in ihren Städten.

Nach Bedarf ließ sie ihre Kraft an ihnen entlangströmen, stärkte eine Spielfigur hier, die einem Fürsten etwas zuflüsterte, wirkte einen Zauber durch den Körper eines ihr lange ergebenen Kämpfers, erschien als Illusion, rief Schwärme von Ratten zusammen, um strauchelnde Helden in Stücke reißen zu lassen.

Viele dieser Spielfiguren würden fallen und neue würden ihren Platz einnehmen. Sie lenkte, sie suchte, sie ließ Befehle erteilen und ihre Diener nach den Spuren von Wesen suchen, deren Kräfte ihr helfen würden, die die Herzen von Gläubigen bewegten, Überzeugung aufbauten und sich von Hingabe nährten.

Währenddessen ertastete sie die Wurzeln des Baumes, in dessen Kronen sie ruhte, schob ihren Willen und ihren Geist geduldig durch das wimmelnde Chaos der Substanz, aus dem diese Zitadelle als Spitze einer Waffe gewachsen war, die die Schöpfung spalten sollte. Es war nicht ihr Plan, nicht ihre Absicht – die Welt sollte erhalten bleiben, auch wenn ihre Form zu wünschen übrig ließ – aber diese Waffe war denkbar nützlich; nur nicht hier, nicht so.

Wie mit einer feinen Nadel im Nerv eines Zahns erfühlte sie den Wuchs und die Un-Natur dieses riesigen Geschwüres. Während sie zugleich Figuren umstieß, verschob und neue auf das Spielfeld setzte, gewann ein Teil ihrer Zukunft an Form.

Zu ihren Füßen klickte und klackte ein Spielzeug, eine kleine mechanische Kreatur. Die darin ruhende Seele schlief, blieb vor der Umgebung des Dämonenbaumes geschützt. Sie erlebte bloß eine weitere lange Zeit ohne Erinnerung, ohne Bewusstsein, ein weiteres Bisschen Unsicherheit und Hilflosigkeit.

»Bald werden wir uns voneinander verabschieden«, wisperte sie. »Es fehlt nicht mehr viel, und wir finden es bald. Die Sucher riechen die Spur von Orimas Wirken im Nebel und dann werden wir handeln, du und ich.«


»Rilmandra«, erklärte sie ihren Namen und sang ihn. Er lief aufgeregt zwischen Symbolen hin und her und sie sprach sie laut aus, fügte Laute zusammen und wenn er frustriert umhersprang, zog sie sie wieder auseinander. Ein Hauchen, ein tiefer Laut, ein sanftes Ende.

»Hond«, sagte sie und er drehte sich begeistert im Kreis, jaulte glücklich. »Du bist Hond!«, wiederholte sie und Hond sprang zu ihr, um ihr die Hände abzulecken. Nach viel, viel Verwirrung wusste sie nun, dass das Zuneigung bedeutete – Rosenzweige und Mandelblüten, Lavendel und Zaunkönig.

Sie lernte auch die Namen der beiden im Eis. Israni und Kilgan: Schwertlilie und Falke für sie und einsame Bergblüten und Siebenschläfer für ihn. Sie erfuhr, dass es andere gegeben hatte, dass sie fort waren und es Hond so tief schmerzte, dass sein Herz ihm zerreißen wollte, und dass ihr neuer Körper eine Seele gehabt hatte, eine Seele von Jasmin und Nachtigall.

»Ich will ja helfen«, versprach Rilmandra. »Ich will es ja!«

Hond seufzte und trabte die Reling entlang, auf der Suche nach anderen Symbolen für seine Botschaft, aber dann hielt er inne. Beide lauschten sie mit ihren sehr verschiedenen Sinnen. Etwas bewegte sich im Nebel, verdrängte ihn auf eine Art und Weise, die sich unangenehm anfühlte.

»Warte«, sagte sie und drehte ihre Segel.

Etwas kam aus dem formlosen Limbus geschossen, wimmelnde Tentakel anstelle eines Arms und zerfetzte graue Flügel auf den Schultern eines vor Schleim schimmernden Körpers. Das Ding griff mit Krallen und Greifarmen nach ihrer Takelage, zerrte an den seidengeflochtenen Leinen und schrie schrill und pfeifend.

Hond gab wütende, abgehackte Rufe von sich und sprang hin und her, während ihr geliehener Körper in einem Echo des Unbehagens und Schmerzes zusammensank, die ihren Geist erfassten. Der Dämon hatte ihre Schutzbarrieren durchbrochen, sie konnte das Loch wie einen Riss im Segel spüren, und sein Schrei drang auf vielen Wegen hinaus in die graue Weite. Der Klang wurde sofort verschluckt, aber das darin verborgene Signal wurde weitergetragen. Irgendwo, noch weit entfernt, ertönte eine Antwort.

»Er muss weg!«, schrie sie. »Er ruft mehr!«

Hond lief hilflos auf und ab und sie warf sich herum, schleuderte das seelenlose Ding an ihrem Mast hin und her, aber es kreischte höhnisch und wiederholte seinen Ruf in die Leere. Entmutigt sah sie mit den Augen ihres kleineren Körpers nach oben, schwankte mit ihren eigenen Bewegungen und Manövern mit und stützte sich an der Reling ab. Hond hielt inne und presste dann auffordernd seine Schulter gegen sie.

Sie sah hinab, dann wieder hoch, und verstand.

Die lange Zeit der Eingewöhnung und Übung hatte ihr eine sichere Kontrolle über den neuen Körper gewährt und mit erleichternder Mühelosigkeit zog sie sich die Griffe und Tritte am Mast hoch. Der Dämon sah ihr entgegen, öffnete ein den halben Kopf spaltendes Maul und zischte sie an. Speichel sprühte herab und brannte auf ihrer Haut ebenso wie auf ihrem Holz.

»Fort mit dir!«, schrie sie und kletterte weiter, griff mit einer Hand nach einer Leine und zog kräftig daran. Das Ding schwankte, zischte erneut und kletterte auf den Segelbaum hinaus. Erneut schrie es und erneut erklang eine Antwort – nur deutlich schneller, näher.

Sie schätzte die Position des Dämons und die von Hond ab und drehte ihre Weltenhülle, die Zeit und Schwere bestimmte, gegen die Ausrichtung ihres Leibs und schüttelte sich. Alles wurde nach oben gerissen, rauschend wölbte sich das Segel aufwärts und der Dämon, überrascht, verlor den Halt. Als er mit einem Kreischen durch die Grenzen ihrer Schutzbarrieren fiel, fing sie mit beiden Armen Hond, die Beine fest um ihren Mast gewickelt. Der Vierbeiner jaulte, wand sich in Angst, und sie presste ihn an sich, murmelte beruhigende Worte, während sie die Schwere langsam wieder zu ihrem Kiel hin ausrichtete.

Dunkle Flecken näherten sich in ihrer Wahrnehmung, aus den unbestimmbaren Richtungen des Limbus, deutlich größere Wesen als der erste Eindringling. Sie blutete Licht und Kraft ins Nichts, lockte sie mit dem Duft ihrer Magie an.

Wohin? Der Teil ihrer Aufmerksamkeit in dem Körper mit Armen und Beinen kletterte vorsichtig mit Hond über den Schultern wieder hinab, doch weit mehr konzentrierte sie sich auf ihre Position zwischen den dahinschwebenden Welten und Sphären. Sie durfte nicht dorthin. Aber hier draußen …

Etwas streifte ihre kleine Blase aus Zeit und Raum und alles geriet ins Schlingern. Eine Hand, groß wie ihr ganzer geliehener Körper, strich tastend durch ihre Barrieren und hinterließ mit einem kreischenden Geräusch lange Furchen in ihrer Flanke.

Sie griff nach einer Kraftlinie und zog sich an ihr entlang, so schnell sie konnte, füllte ihre Segel mit Willen und Macht und rannte mit ihren Verfolgern um die Wette ins Nichts hinaus.

»Wohin, wohin, wohin?«, murmelte sie panisch und Hond winselte.

Sie warf das Ruder herum, wechselte die Kraftlinie und die Leere entfaltete sich wie eine plötzlich glattgezogene Spirale. Irgendwo im Nebel erklang der wütende Ruf eines Häschers, der sie verloren hatte, aber andere blieben ihr auf den Fersen, folgten der Witterung von Magie und Furcht.

»Ich bin keine Kämpferin«, sagte sie Hond, den sie weiter fest an sich presste. »Viele Schwestern mussten es werden, das weiß ich, aber ich habe niemals Waffen getragen. Ich wüsste nicht wie!«

Er leckte über ihr Gesicht und wand sich dann halb aus ihrem Griff, um die Verfolger anzuknurren, die unsichtbar im Nebel hinter, vor und um sie waren, wie ein Kaleidoskop zerstreut in den haltlosen Dimensionen des Limbus.

»Nicht«, bat sie. »Du hättest auch keine Chance!«

Erneut duckte sie sich weg, drehte ihre Globule und ihre Hülle und wechselte die Richtung. Eine Schwinge schnitt in ihre kleine Blase Realität hinein und streifte krachend den Bugspriet. Das Holz des geschnitzten Vogels barst und sie schrie vor Schmerzen, während der Häscher einen begeisterten Ruf ausstieß.

Sie drängten sich immer enger um sie und sie presste die Zähne des neuen Körpers zusammen, bis ihr Kiefer knackte.

Orima hatte sie geleitet, wenn sie von Welt zu Welt gereist waren. Ihre blinden Augen hatten die Verbindungen der Kraft gesehen und vielmehr noch, wo neue geschaffen werden konnten. Sie hatte ihre Macht durch Rilmandra fließen lassen, war ihr Kompass gewesen.

Rilmandra war allein, aber sie erinnerte sich, erinnerte sich vage wie in einem goldenen Traum an das Gefühl, durch Schicht um Schicht von Sein und Realität zu gleiten, unberührt von Distanz und Barrieren, ob von Göttern geschaffen oder anderen. Ein Gradient, ein Fluss, von einem Ort zum anderen ohne Biegung und Hindernis.

Klauen verfingen sich im Wimpel an ihrem Mast, rissen die Seide ab, auf der Kelch und Schwert prangten. Rilmandra schrie erneut und Hond heulte, aber sie lenkte die Angst, die Wut und für einen klaren, gläsernen Moment wurde dies zu einer Kompassnadel.

Die Leere beugte sich, verformte sich und ein Tunnel tat sich auf, der sie fortspülte und die Verfolger zurückließ. Die Sphären sangen und Licht wirbelte um sie, dann fiel sie zurück in den Nebel – allein, diesmal, wenn auch nicht unversehrt.

Taumelnd richtete sie sich auf. Leinen hingen zerrissen herab, dem Vogel am Bug waren die Augen und Teil des Schnabels herausgerissen worden. Ihre Magie sickerte aus den Wunden im Rumpf und ihrer Schutzhülle. Die Globule flackerte, instabil, und für ein paar Herzschläge waren sie und Hond ohne Gewicht, bevor sie zurück zum Deck gezogen wurden.

Sie wusste noch nicht, wo sie waren. Ihre Sinne tasteten nach den Linien der Kraft im Nebel, nach Spuren von Welten und ihren Verbindungen zueinander. »Ganz ruhig«, sagte sie zu Hond, der noch zitterte. »Für den Moment sind wir sicher.«

Er schnaufte, sammelte sich dann aber und lief zu einer sich öffnenden Blüte in den Schnitzereien. Morgenlob? Es war eine Frage, neugieriges Unwissen.

»Ich weiß nicht genau, was ich getan habe«, gestand sie. »Ich habe einen Übergang geöffnet. Meine Schöpferin konnte dies, aber ich habe es noch nie … allein vollbracht.«

Er schnaufte erneut und sie stand auf, sah von ihm zu den beiden im Eis, die zwar hin und her geworfen worden, aber unversehrt geblieben waren. Sie mit Leinen wenigstens leicht zu sichern, war eine gute Idee gewesen.

»Nicht ganz allein«, gab sie zu, »aber auch alles andere als perfekt. Ich bin erschöpft. Und sie werden weiter nach uns suchen.«

Sie ging langsam auf ihrem Deck auf und ab, suchte nach schwereren Schäden. Dann ging sie unter Deck und holte Seide und die metallenen Dorne zum Spleißen und Flechten empor, die Orima einst genutzt hatte, um ihre Leinen und Segel zu richten. Etwas hilflos sah sie darauf hinab.

»Ich wusste nicht, was ich alles doch noch lernen müsste«, sagte sie. »Aber … es schmerzt, so zerrissen zu sein.«

Sie hob den Kopf und sah zu ihren Segeln, dankbar für die geliehenen Hände und Augen, die es möglich machen würden, die ärgsten Wunden zu heilen. Orimas Banner war fort und eine Woge von Trauer überkam sie.

Die Augen des Körpers weinten und ein Schmerz nistete sich unter ihrem Brustbein ein. »Ich vermisse dich«, wisperte sie. »Es ist einsam hier.«

Während Hond sie unruhig vom Deck aus beobachtete und hin und her lief, kletterte sie in ihren Leinen und Wanten und schnitt los, was nicht zu retten war, reparierte, was noch von Nutzen sein mochte. Aber noch während sie arbeitete, erahnte sie im Nebel die suchenden Geister der Verfolger, ihre dämonischen Augen, in die Tiefen des Limbus gerichtet.

»Wir brauchen einen Hafen«, sagte sie bestimmt. »Ich darf keine der gegebenen Welten besuchen, darf nicht in ihre Hände geraten, aber …«

Sie lauschte. Es gab ein leises Echo, eine Vibration entlang der Kraftlinien.

»Die Diener des Wächters«, erklärte sie Hond, der aufmerksam lauschte. »Die Wanderer von Menacor, dem Sechsgeflügelten.«

Jetzt richteten sich seine Ohren noch weiter auf und er stieß laute, klare Rufe aus. Rasch lief er zu der Schnitzerei einer Finkenmutter im Nest: Heimat, Zuhause.

»Ja«, sagte sie. »Lass uns dein Zuhause finden.«


Tharseïs erwachte knapp vor dem Signal und stand bereits neben ihrer Schlafnische, als der Gong durch die Gänge dröhnte. Zufrieden ließ sie sich auf die Knie nieder, presste die Hände gegen den kalten Stein des Bodens und betete. Erst beim nächsten Gongschlag erhob sie sich wieder und nahm sich ein paar Augenblicke Zeit, sich zu reinigen, bevor sie die Robe überwarf und die Zelle verließ.

Der schwere Stoff raschelte bei jedem ihrer Schritte und lag wie ein paar kräftiger Hände auf ihren Schultern, die sie niederdrückten und sie den rauen Stein der Korridore intensiver unter ihren bloßen Sohlen spüren ließen. Sie hielt sich stolz aufrecht und achtete darauf, ob die anderen sie ansahen. Alle Priester, ihre Diener und Akoluthen und Sklaven gingen schweigend wie sie einher und nur die wenigsten beachteten sie. Diejenigen, die es taten, warfen meist einen raschen Blick auf den Saum ihrer Robe und dann einen leicht ungläubigen auf ihr jugendliches Gesicht.

Sie hatte ein Lächeln dafür eingeübt, mit schmalen Lippen und leicht zusammengekniffenen Augen, eine Herausforderung an andere, darüber nachzudenken, wo sie schwächer waren, wo sie versagt haben mussten im Vergleich zu einer Dienerin des Schädelgottes, die so jung schon schattenlos einherschritt.

Sie hatte keine Diener, keine Helfer und keine Anhänger, die im Kielwasser ihres Einflusses mitgesogen wurden. Sie ging allein, aber mit jeder passierten Lampe ohne das Huschen von Schwärze über Wände und Boden, mit jedem überraschten Blick eines anderen besann sie sich darauf, dass der Gott sie erhoben hatte, wenn die Sterblichen es schon nicht taten.

Der Tag war erst graue Dämmerung, als sie zum westlichen Portal aus der Tempelpyramide trat. Große Feuerschalen erhellten die Stufen hinunter in die Stadt und machten es unmöglich, durch ihren flackernden Schein mehr als grobe Umrisse der niedrigeren Gebäude auszumachen. All die Tätigkeit der Sklaven und Diener war nur ein leises Wispern von fernen Worten und schnellen Schritten in der Ferne.

Der Ephore erwartete sie bereits, angetan mit dem reichen Goldschmuck und der langen Robe seines Amtes. Er warf ihr nur einen kurzen Blick zu und sie verneigte sich. Seine Zehenspitzen, die unter dem schweren Damastsaum hervorschauten, waren bloßes Fleisch. Haut und Zehennägel schienen abgeschält, doch sie wusste, dass sie sie würde fühlen können. Nur ihre Sichtbarkeit war von ihnen genommen worden, sodass Ephore Sharmun Thanak unter seinen Kleidern aussah wie eine einbalsamierte Leiche ohne Haut, alle Muskeln und Sehnen dem Auge ausgesetzt.

Sie hatte erst ihren Schatten gegeben, aber sie spürte mit größter Sicherheit, dass der Schädelgott eines Tages auch den Anblick ihrer Haut und ihres Fleisches als Gabe annehmen würde, bis sie scheinbar als Skelett zwischen den niederen Dienern einherging.

»Stärke«, verkündete der Ephore. »Wir sind die Faust des Schädelgottes.«

Murmelnd wiederholten seine Anhänger die Worte und auch Tharseïs stimmte ein.

»Er nährt sich an uns und dem Leben«, fuhr Sharmun Thanak fort. »Unser Fleisch wird sein Fleisch, unser Darben ist ihm Nahrung. Jeder Tod ist ein Funke seiner Macht. Und wenn die Welt bar der Ackerkrume ist, wenn die Knochen sich niederlegen und kein Atem mehr geht, kein Herz mehr schlägt, wird er frei sein und heil und in goldenem Licht wird wiederkehren, was sein sollte und sein wird.«

Die Worte waren in ihre Knochen gegossen, jeden Tag wieder und wieder gesprochen auf Knien, am Altar, bei endlosen eisigen Wanderungen um die Stufen der Pyramiden. Sie sprach sie so selbstverständlich mit, wie sie atmete, und unter ihrem Brustbein glommen Stolz und Hingabe.

Ein Sklave warf Weihrauch und menschliches Haar in eine der Feuerschalen. Der bittersüße Rauch wurde von schwachen Winden verwirbelt und stieg grauschwarz in die Dämmerung auf.

»Blut ist Leben, ist Wegbereiter«, skandierte der Ephore, die Arme nun gehoben, sodass die blassen Bänder der Sehnen an seinen Handgelenken sichtbar waren, die die feinen Knochen zusammenhielten. »Blut reinigt, Blut fließt von dieser Welt hinaus zu ihm und vermengt sich mit dem Blut von Generationen und Generationen in seinen Adern. Vergießt dieses Leben im Staub und beschreitet seinen Weg!«

Er zog einen schmalen, langen Dolch aus dem Gürtel, dessen goldener Knauf die Form von zwei am Nacken verschmolzenen Schädeln aufwies. Langsam drehte er sich zu den versammelten jüngeren Priestern um, während hinter ihm zwei Soldaten einen Sklaven zu den Treppenstufen zerrten und dort auf dem Rücken zu Boden drückten.

Keiner wagte, zu begierig zu sein, aber als der Blick des Ephoren über sie glitt und er für einen Moment den Griff des Dolches in ihre Richtung hielt, schlug Tharseïs’ Herz schneller. Dann drehte er sich jedoch weiter und reichte die zeremonielle Waffe an Kharum.

»Ich danke euch«, murmelte dieser, verneigte sich tief und nahm den Dolch an sich. Sein Schatten flackerte wild im Licht der Feuerschalen und Tharseïs schmeckte vor Wut Galle auf der Zunge. Sie presste die Zähne zusammen und blieb still und reglos wie alle anderen.

Der junge Akoluth ging langsam, die Hand mit dem Dolch dramatisch gehoben, zu dem Opfersklaven an der Treppe.

»Dein Leben für den Schädelgott«, intonierte er etwas holprig und wechselte den Griff an der Waffe. »Es segne den Weg der Auserwählten.«

Der Sklave bebte vor hastigen Atemzügen, immer wieder spannten sich seine Gliedmaßen im Griff der Soldaten, aber er konnte sich nicht losreißen. Er drehte den Kopf hin und her und seine Augen, tief in eingefallenen Augenhöhlen, waren weit aufgerissen. Er stammelte etwas in seiner Muttersprache, dann griff Kharum die Stirn des Opfers und drehte seinen Kopf etwas zur Seite. Mit einem schnellen, geübten Stich zwischen Kehlkopf und Muskelsträngen öffnete der angehende Priester Vene und Arterie auf der linken Seite und zog die Klinge wieder heraus.

Blut schoss hervor, durch das panisch schlagende Herz stark wie ein Guss aus einem vollen Kelch. Der Strahl pulste und bespritzte Kharums Ärmel, als er sich nicht schnell genug wieder aufrichtete. Leise glucksend rann das Blut von Treppenstufe zu Treppenstufe, während der Sklave sich noch wand und plapperte und bettelte.

Als seine Worte verstummten und seine Augen sich schlossen, erreichten die letzten Fäden von Blut die nächste Plattform auf einem Drittel der Höhe der Pyramide. Kharum kehrte zum Ephoren zurück und reichte ihm den Dolch, den Blick gesenkt. Der Priester sah ihn ebenfalls nicht an, sondern begutachtete die Menge an Blut und das Muster, das sich in Bahnen und Tropfspuren gebildet hatte.

»Zwei noch, mindestens«, entschied er.

Auch die nächsten Male ging der Dolch an Akoluthen, denen noch ihre Schatten anhafteten, dünne Gestalten mit plötzlich aufflackerndem Stolz, die die anderen mit überheblichen Blicken bedachten. Tharseïs schluckte weiter ihre Wut herunter.

Als die Treppen mit einem Schleier aus Blutspuren benetzt und die untere Plattform einen halben Fingerbreit damit bedeckt war, beendete der Ephore die Opferungen.

»Der Weg ist bereitet«, verkündete er und senkte im Gebet das Haupt. Die Opfer hingen an den Fußknöcheln aufgehangen neben dem Eingang in die Pyramide, wo letzte Blutstropfen aus ihren Halswunden über ihre Wangen rannen und sich mit den dicken Krusten auf dem dunklen Stein verbanden.

Eine ganze Weile verbrachten sie alle reglos wie die Leichen, stumm und in Andacht. Tharseïs’ Gedanken glitten immer wieder ab, mühselig versuchte sie, sie zurück auf die Stille, die Reglosigkeit in Ergebenheit zu richten, die von ihr erwartet wurde. Doch die Frage, welche hohe Persönlichkeit so aufwändig begrüßt wurde und warum Sharmun Thanak so viele seiner Helfer und Schüler versammelt hatte, drehte sich wie ein Wurm in ihrem Kopf hin und her und fraß an ihrer Konzentration.

Die Sonne erhob sich über den Horizont und ließ den Schatten der Pyramide schmelzen und immer mehr der niedrigen, dunklen Häuser der Stadt freigeben. Jenseits der Kasernen und langen Arbeitshallen lag das Land in grauen, staubigen Dünen da, über die Wirbelwinde tanzten. Dem Boden war das Leben entzogen worden, bis er fein wie Puder weder Wurzel noch Wasser Halt bieten konnte und das bittere Korn für die Speisen der Lebenden von Karawanen gebracht werden musste, von denen Tharseïs während der langen Wartezeit mehrere sah, wie sie als dunkle Perlenketten über den toten Grund wanderten. Dann huschte ein riesiger, neuer Schatten über das tote Herz Draydalâns hinweg. Aus einem Wirbel grauen Nebels, der sich plötzlich über der Stadt zusammenzog, glitt ein langer und sehniger Echsenkörper mit Flügeln wie riesige weiße Segel hervor. Ein Wispern ging durch die Menge und verstummte sofort wieder, als der Ephore wütend eine Hand hob.

Der Drache glitt heran, umkreiste zwei Mal die Pyramidenspitze und setzte dann zur Landung an. Als seine Klauen eben den mit halb geronnenem Blut benetzten Boden berührten, begannen sie zu zerfließen, und in einem raschen Wabern wie Rauch im Wind wandelte sich die massige Gestalt zu einer Frau, die ungerührt und unbekleidet vor ihnen stand.

Sie war größer als Tharseïs, größer als alle in der Gruppe, die sie schweigend erwartete. Ihre Haut war blass, aber ohne die kränklichen grauen Schatten und hindurchschimmernden Adern, die viele Tempeldiener in den dunklen Gängen der Pyramide entwickelten. Ihr Haar fiel silbrig bis in ihre Kniekehlen herab, ihre Augen waren zu groß und standen zu schräg in ihrem schmalen Gesicht, als dass sie menschlich sein konnte. Sie gemahnte an die Erzählung über die räuberischen Alben des Nordens.

»Ist alles bereit?«, fragte sie mit einem schwer zu deutenden, singenden Akzent und ohne auch nur ein Wort der Begrüßung. Die hautlosen Lippen des Ephoren wurden schmal.

»Willkommen im Schatten des Hohen Tempels«, begann er. »Euer Weg wurde bereitet und der Segen des Schädelgottes liegt auf diesem Treffen. Die Unsichtbaren haben mir befohlen, Euch zur Hand zu gehen.«

Er fügte eine kleine Pause ein und maß sie mit einem kühlen Blick, starr und intensiv durch die blanken Augäpfel in ihrem Nest aus nackten Muskeln.

»Bei welchen Plänen auch immer ich Euch helfen mag.«

Die Besucherin begann die Treppe hinaufzusteigen, ungerührt vom Blut, das an ihren Füßen klebte und rote Abdrücke hinterließ, die mit den zufälligen Mustern auf den Stufen verschmolzen. Die Frau trug ihre Nacktheit unter den Augen der Versammelten und im kühlen Morgenwind mit einer beiläufigen Gelassenheit, die Tharseïs einen Funken an Bewunderung abrang. Zu gerne würde sie selbst so wenig auf fremde Blicke geben.

Was die Frau jedoch eindeutig besaß, war ein Schatten. Zudem waren all ihre Zehen und Finger vorhanden, die Haut makellos. Wenn sie sprach, waren gerade Reihen perlweißer Zähne zu sehen, beide Augen waren echt und auch das Haar, so unnatürlich es im Vergleich zu den kurzen Stoppeln auf den Schädeln der versammelten Akoluthen wirken mochte, entwuchs natürlich ihrer Haut. Was hatte sie geopfert, um im Ansehen des Gottes so hoch zu stehen, dass ein Ephore ihr wie ein Laufbursche zugeteilt wurde?

War das etwas, das Tharseïs ebenfalls geben konnte?

»Dreizehn Eurer Priester«, sagte die Frau knapp. »Solche mit starkem Willen und Bereitschaft, alles zu geben für die Wünsche des Schädelgottes, jung, wenn möglich. Ich kann nicht sagen, ob Ihr welche wiedersehen werdet, sollte das Eure Entscheidung beeinflussen.«

Die Akoluthen tauschten überraschte Blicke aus, aber Tharseïs starrte bewusst geradeaus. Sie war sicher nicht weniger neugierig als die anderen, Dutzende Fragen türmten sich vor ihr auf, aber sie hielt sich lieber stolz aufrecht, als mit krummen Schultern Gemeinsamkeit mit den anderen zu suchen.

»Keine Akoluthen?«, fragte Sharmun Thanak und ein schnarrender Unterton verriet seinen Unwillen. »Sie müssen ein hohes Opfer gegeben und Seinen vollen Segen empfangen haben? Ihr verlangt viel.«

»Könnt Ihr es nicht bieten?«, fragte die Besucherin, die inzwischen wenige Schritte vor dem Ephoren stand. Die Soldaten in ihren gold-schwarzen Prachtrüstungen waren ein paar respektvolle Schritte zurückgetreten und gaben sich höchste Mühe, nicht so zu wirken, als würden sie lauschen.

»Mir wurde versichert, diese Abmachung wäre mühelos einzuhalten«, fuhr die Frau fort. »Dass ein Reich wie Draydalân die Geweihten des Güldenen hervorbringt wie andere das Korn. Dass dies das frommste Reich der Welt sei, wo Er die Gaben frei an seine treusten Diener gibt.«

Sie klang gelangweilt, fast spöttisch und in Tharseïs rangen Bewunderung und Empörung miteinander: Bewunderung dafür, der hautlosen Leiche von Sharmun so wenig Achtung zu zollen und Empörung darüber, die Hingabe der Draydal in Frage zu stellen.

Der Ephore schwieg missmutig, die Muskeln seines Gesichtes verspannt und eng um die Augäpfel zusammengezogen. Die Stille spannte sich und die Besucherin begegnete Sharmuns Blick mit einer schwachen Neugier, während sie abwartete.

»Ich werde mich an einen anderen Kult wenden«, sagte sie schließlich. »Ihr verschwendet meine Zeit. Ich habe meine Fähigkeiten unter Beweis gestellt und Eurem Reich neues Blut zugeführt sowie Feinde auf Euren Altären geschlachtet. Ich brauche keinen Empfang in Blut und kein Ritual, wenn es nur eine hohle Geste ist.«

Sie begann sich abzuwenden, während der Ephore mit flatterndem Nasenknorpel scharf einatmete. Ein zugleich kalter und heißer Druck brachte Tharseïs dazu, einen plötzlichen Schritt vorwärts zu machen. Beinahe versagte ihr die Stimme, aber dann überwand sie den Schrecken und sprach die Besucherin laut an: »Es sind mehr als genug ergebene Diener hier, die mit dem Willen des Schädelgottes überall Sein Werk verrichten werden.«

Die Soldaten sahen sie überrascht an, die Frau zu ihrer Rechten öffnete sogar die Lippen zu einem dann doch unterdrückten Lachen. Ein Zischeln ging durch die Reihen der Akoluthen und jungen Priester.

Die Gesandte drehte sich nicht wieder zurück, warf aber einen nachdenklichen Blick über die Schulter.

»Und wo sind diese ergebenen Diener?«

»Ich bin eine. Und ich bin sicher nicht allein, auch wenn nicht jeder hier die gleiche Hingabe empfinden mag.«

Tharseïs machte noch einen halben Schritt nach vorn, sodass getrennt von der restlichen Gruppe deutlicher wurde, dass sie keinen Schatten warf.

»Wir werden Eurem Wunsch entsprechen«, brachte Sharmun nun hervor. »Und wenn Ihr diese nicht haben wollt« – er deutete zu Tharseïs – »bieten wir Euch gehorsamere Priester.«

»Nein«, sagte die Frau. »Ich will sie. Eilt Euch. Ihr habt Riten und Protokoll zu verrichten, ich habe eine lange Reise anzutreten mit den Lämmern, die Ihr mir bieten sollt.«

Sharmun Thanak, Ephore der Tempelpyramide und hautloser Geweihter des Schädelgottes, neigte widerstrebend sein Haupt. Dann begann er eilig und kaum hörbar mit mehreren der Akoluthen zu reden und sie auf Botengänge in die Pyramide zu schicken.

Die Gesandte winkte mit einem einzelnen Finger. Tharseïs trat näher, raffte ihre Robe und kniete sich gezielt so hin, dass sie nicht mehr des vergossenen Blutes störte als nötig.

»Ich bin Amadena, Zunge und Sprecherin des Güldenen«, verkündete die Frau. »Pyrdona, Tochter des Goldenen Drachen. Pardona nennen mich viele Menschen, so sie denn einen meiner Namen kennen. Eure Zungen sind steif wie Leder.«

»Diese Dienerin des Einen Gottes heißt Tharseïs.«

Amadena – oder Pardona – sah nicht einmal zu ihr herab, sondern zu der Versammlung von jungen Priestern um Sharmun.

»Er ist ein verstockter Dummkopf«, stellte sie fest, »und versteht nicht, dass weit mehr bevorsteht als seine kleine Leihgabe von hingebungsvollen Geweihten. Jemand von höherem Rang wird ihm bald seinen hässlichen Schädel entfernen und neben die Leichen von Sklaven auf eine Opferstätte legen.«

»Danke«, sagte Tharseïs, deren Herz so laut pochte, dass es für die Gesandte sicher auch zu hören war. »Danke, dass ich dabei sein werde.«

»Das hängt davon ab, ob du überlebst.«

Den Rest der Wartezeit verbrachten sie schweigend. Stück für Stück fanden sich weitere Priester ein und ließen sich neben Tharseïs auf den Knien nieder, bis dreizehn von ihnen aufgereiht waren.

Amadena sah sie lange und nachdenklich an, bis sie nickte. »Sie werden genügen«, sagte sie.

Dann öffnete sie die Arme weit und das Blut zu ihren Füßen begann zu brodeln und zu dampfen. Mit grellen Schreien erhob sich ein Schwarm fliegender Wesen aus der brodelnden Masse. Im Himmel über der Pyramide streckten sie sich und erreichten ihre volle Größe. Drei bis fünf Schritt lange Schlangenkörper wanden sich wie unter Schmerzen und große, verformte Drachenköpfe stießen ein lautes Zwitschern und Jaulen aus. Fledermausartige Flügel hielten die Dinger in der Luft.

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9783963319785
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