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Gefangen in Zeit und Raum

Die Umwege, die Clara und Johannes zunächst gingen, machten später das intensive Kennenlernen und die lebenslange Freundschaft erst möglich. Jeder hatte für sich ausreichend Erlebnisse gesammelt, um den anderen daran teilhaben zu lassen, und es hatten sich Grundhaltungen herausgebildet, die den gemeinsamen Weg durch das weitere Leben bestimmten. Dreieinhalb Jahre nach der flüchtigen Begegnung in Hamburg mag Johannes den Schumanns von dem jugendlichen Versuch der Kontaktaufnahme erzählt haben. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, denn als Clara ihn zum ersten Mal im November 1854 in der alten Hansestadt besuchte, erinnerte er in einem Brief zur Reisevorbereitung daran, er kenne das Hotel von damals: »Sie wohnen im Viktoria-Hotel am Jungfernstieg, ich behauptete schon in Düsseldorf, Sie hätten daselbst früher gewohnt, sehen Sie ich habe recht!«18

Jedoch erschien anfangs illusorisch, dass man sich überhaupt jemals wieder so nahekommen sollte wie im Frühjahr 1850. In künstlerischer Hinsicht spielten die Schumanns in einer völlig anderen Liga als jeder andere, der in Hamburg ein Instrument beherrschte. Die wirklich hochbegabten Hanseaten hatten es andernorts zu etwas gebracht: Felix Mendelssohn Bartholdy in Berlin und Leipzig sowie Carl Reinecke im Rheinland und später in Leipzig. Die Schumanns kamen aus Sachsen, arbeiteten aber seit September 1850 in Düsseldorf. Dies war für einen namenlosen Musikanten aus dem Norden ohne Kontakte in der Musikszene eine nahezu unüberwindliche Distanz, zu der sich noch persönliche und praktische Hindernisse gesellten. Johannes selbst war nicht aufdringlich. Er wurde immer wieder auf die Schumanns verwiesen und letztlich eher zu ihnen hingeleitet, als dass er den Berühmtheiten nachstellte. Zudem war das Reisen nicht nur mit hohen Kosten verbunden, sondern auch mit verkehrstechnischen und politischen Hindernissen. Johannes Brahms wurde schon in die Ära einer neuen Infrastruktur hineingeboren; hingegen hatten Robert und Clara Schumann den bisher größten Teil ihres Lebens in einer Epoche zugebracht, in der man selbst auf langen Strecken beschwerliche Kutschfahrten auf sich nehmen musste. In den Genuss der neuen Dampfeisenbahn kam man vorerst nur auf vereinzelten, kurzen Nebenstrecken wie etwa ab 1835 zwischen Nürnberg und Fürth, 1838 zwischen Potsdam und Berlin sowie 1844 zwischen Altona und Kiel. Bis das Grundkonzept eines deutschen Eisenbahnsystems, wie es dem Nationalökonomen Friedrich List vorschwebte, auch nur halbwegs Gestalt annehmen konnte, sollte mindestens eine weitere Dekade vergehen. Clara Schumann war seit ihrer Jugend mit Lists Töchtern befreundet und erlebte die Schwierigkeiten sowie die Versuche, sie zu bewältigen, unmittelbar mit. Eindringlich schilderte beispielsweise der spätere Gewandhauskapellmeister Carl Reinecke, wie er auf dem Weg zur Leipziger Ikone Mendelssohn von Grasbrook in Hamburg zunächst mit einem Dampfboot auf der Elbe stromaufwärts bis Magdeburg fahren musste, was von 8 Uhr morgens bis zum übernächsten Tag um 3 Uhr nachmittags dauerte. Erst von dort konnte er die 1840 fertiggestellte Zugverbindung nach Leipzig nehmen. Bei Geschwindigkeiten von bis zu 65 Stundenkilometern bei Dampfwagen wie »Adler« und seiner Schwestermaschine »Pfeil« sowie mehreren Haltestationen dauerte die Reise etliche Stunden; ab den 1890er-Jahren fuhren Lokomotiven im Personenverkehr in Deutschland und Österreich schneller als 100 Stundenkilometer. Reinecke erschien das Tempo, mit dem man auf den Schienen dahinrollte, »geradezu märchenhaft«.19 Bei der Einrichtung dieser Verbindung gab es ein grundsätzliches Problem, das für Clara Schumann und Johannes Brahms weit über die Hälfte ihres Lebens hinweg Alltag war: die Kleinstaaterei der deutschsprachigen Länder. Die Magdeburg-Leipziger Eisenbahn-Gesellschaft entwarf eine Strecke, die mehrere Hoheitsgebiete berührte, denn neben den Königreichen Preußen (Magdeburg, Halle) und Sachsen (Leipzig) durchquerte sie auch das Herzogtum Anhalt-Köthen. Jeder Grenzübertritt bedeutete Passkontrollen, andere Währungen, andere Preise, andere Mentalitäten und andere Uhrzeiten. Bis kurz vor ihrem Lebensende kannten Clara und Johannes deutschsprachige Gebiete nur mit unterschiedlichen Zeitzonen, denn bis 1893 änderte sich die Ortszeit von West nach Ost pro Längengrad um eine Minute. Signalisierte die Turmuhr in Düsseldorf 12 Uhr mittags, war es in Baden-Baden bereits 12:07 Uhr, in Hamburg 12:12 Uhr und in Berlin 12:27 Uhr. Um Missverständnisse bei Empfängen und Konzertbesuchen sowie Verspätungen und Zusammenstöße der öffentlichen Verkehrsmittel zu vermeiden, erschien eine einheitliche Zeitregelung dringend erforderlich. Eine Einigung lag trotz des Ausbaus der Fernverbindungen allerdings in weiter Ferne – noch viele Jahrzehnte musste man in Kauf nehmen, dass durch das Ortszeitensystem die kostbare Taschenuhr mitunter schon beim Überqueren der Stadtgrenze zwei Minuten falsch ging. Gegenüber Clara meinte Johannes einmal, er sei »ein etwas altmodischer Mensch« und »kein Kosmopolit«, sondern eher jemand, der »wie an einer Mutter« an seiner »Vaterstadt hänge«.20 Kein Wunder, dass es die Familie Brahms nicht in die Ferne zog.

In der Welt zu Hause

Johannes Brahms besaß während seines ganzen Lebens, also in fast 64 Jahren, mit Hamburg und Wien nur zwei dauerhafte feste Hauptwohnsitze. Selbst wenn der Kettenraucher und Schlemmer so alt geworden wäre wie Clara Schumann, hätte ihn nichts und niemand mehr aus Wien fortlocken können. Clara hingegen lebte im Laufe ihrer Lebenszeit von über 76 Jahren in sechs sehr unterschiedlichen Städten: Leipzig, Dresden, Düsseldorf, Berlin, Baden-Baden und Frankfurt am Main. Das Ehepaar Schumann verbrachte nach der Eheschließung 1839 zunächst fünf Jahre zusammen in Claras Geburtsort Leipzig. Ihr Mann Robert versuchte nach einem Umzug in die sächsische Hauptstadt Dresden sechs Jahre lang vergeblich, dort bei einem Orchester oder Opernhaus eine feste Anstellung zu ergattern. Als Ende 1849 ein entsprechendes Angebot aus Düsseldorf kam und das Amt des Städtischen Musikdirektors winkte, zogen beide im September 1850 ins Rheinland.

Clara Schumanns Konzerttätigkeit war bis dahin die zuverlässigste Einkommensquelle der Familie. Von ihrem Ruhm, den sie sich ab dem zwölften Lebensjahr als Tochter des namhaften Klavierpädagogen Friedrich Wieck erspielt hatte, konnte sie noch neun Jahre nach der Namensänderung zehren. Bereits als junges Mädchen hatte sie einen Radius von Breslau bis Paris und von Hamburg bis Wien. In den Ehejahren beeindruckte sie bei Konzerten von Königsberg bis Köln und von Norderney bis Elberfeld sowie bei Auslandsauftritten in Kopenhagen, Mitau, Riga, Dorpat, Wien, Brünn, Prag, Sankt Petersburg und Moskau. Robert Schumann, der Komponist, stand meistens nur als ihr Anhängsel abseits, während seine Frau als begnadete Künstlerin gefeiert wurde. Seine eigene Hoffnung auf eine Pianistenlaufbahn hatte er schon zehn Jahre zuvor aufgeben müssen: Damals trainierte er wie besessen und traktierte seine Hände mit einem mechanischen Übungsgerät, das einzelne Finger zurückhalten sollte, um sie gezielt zu stärken. Allerdings waren – wie er notierte – taube Finger, »unendlichste Schmerzen im Arm« und eine »Erlahmung« der rechten Hand die Konsequenz.21

Auch wenn bei ihr zwanzig Jahre lang mit einer anderen Technik alles gut gegangen war, hätte dies Clara eine Mahnung sein können, wie verletzlich und empfindlich die Handmuskulatur ist. Aber sie stellte keinerlei Verbindungen zwischen der Methodik ihres Mannes und den oft lange anhaltenden Muskelkontraktionen her,22 die auch die Folge einer neurologischen Erkrankung wie der fokalen Dystonie sein konnten.23 Notgedrungen verlegte sich Robert vom Interpretieren auf das Entwerfen von Musik. Dadurch beeinträchtigte er Claras Konzertvorbereitungen, denn solange er in seinem Zimmer neue Sinfonien und Sonaten ersann, durfte sie im Haus nicht Klavier spielen. Ihre Reisemöglichkeiten beschnitt Robert, da kaum ein Jahr verstrich, in dem er sie nicht schwängerte. Sie als gläubige Protestantin betrachtete ihrerseits eine ansehnliche Kinderschar allerdings auch als ›Segen Gottes‹. Während der Komponist Arthur Sullivan in den Tagebüchern sich einer Beischlafbuchführung befleißigte, um mit seiner Partnerin die exakte Woche einer unbeabsichtigten Zeugung ermitteln zu können, pflegte Robert Schumann diese Methode wahrscheinlich, um zu kontrollieren, in welchem Rhythmus er Claras erfolgreichere Karriere aussetzen konnte. Aus zehn Gravitäten in nur 13 Jahren gingen acht Kinder hervor, von denen eines im Säuglingsalter verstarb. Jede Lebensstation war damit verknüpft: In Leipzig kamen Marie (1841) und Elise (1843) zur Welt; in Dresden Julie (1845), Ludwig (1848), Ferdinand (1849) und der mit nur 16 Monaten verstorbene Emil (1846); in Düsseldorf Eugenie (1851) und Felix (1854).

Clara war vorgewarnt. Kurz vor der Eheschließung bereitete der Zwanzigjährigen Sorgen, sie könne »als Künstlerin vergessen« werden.24 Roberts schriftliche Antwort hätte sie eher beunruhigen sollen, als er schrieb: »Warte, wie ich Dir die Künstlerin vergessen machen will – denn das Weib steht doch höher als die Künstlerin.«25 Doch mit ihrem Bekenntnis »Nun, mein Leben ist Dir, nur an Dich gekettet, Du bist meine Stütze, meine Hoffnung! Deine Clara« hatte sie seine Bedingungen akzeptiert.26 Ihre Zuneigungsbekundungen entsprachen völlig dem Stil ihrer Zeit. Das Bürgertum überlieferte eine Korrespondenz voll aristokratischer Würde, denn gerade Blaublütige wie etwa die rheinische Prinzessin Elisabeth zu Wied, mit der Clara Kontakt pflegte, verwendete in ihrem Schriftwechsel Formulierungen wie »O Carl, Gott segne dich tausendmal für all’ die Glückseligkeit die Du mir ins Herz gießest, für die starke Liebe mit der Du mich an Dich gekettet hast«.27 Wie Clara hatte sie auch ihren Mann »furchtbar lieb«, war voll »demüthiger Dankbarkeit«, sagte sich »wieviel hundertmal am Tage« dann »Mein Gott, wie habe ich solches Glück verdient!« und gelobte: »O Carl, ich verspreche Dir heilig, ich will Deiner werth werden, ich will es verdienen, mit Dir Eins zu sein.«28 Eine ähnlich starke Zuneigung band Clara an ihren Gemahl, die im Ton der Epoche schwärmte, »mein Herz war erfüllt von Liebe und Verehrung für Robert, und Dank dem Himmel für das hohe Glück, womit er mich überschüttet«.29

Für ihre pianistische Laufbahn erwiesen sich die Liebe und das aufwändige Familienleben allerdings als hinderlich. Es sollte noch viele Jahre dauern, bis Marie alt genug war, um ihre Mutter als Begleiterin und Organisatorin zu unterstützen. Wegen des Nachwuchses musste sich Clara zunehmend darauf beschränken, als Klavierpädagogin zu wirken. Währenddessen agierte Robert als Düsseldorfer Musikdirektor wenig erfolgreich. Es kam immer wieder zu Konflikten mit dem Konzertkomitee, weil der respektierte Komponist sich nicht als begnadeter Dirigent erwies.

Als Brahms Ende 1853 Clara Schumann näher kennenlernte, war sie eine durch die äußeren Umstände beeinträchtigte Starpianistin, Mutter von vier Töchtern und zwei Söhnen und im ersten Monat schwanger mit ihrem letzten Sohn. Da für Brahms öffentliche Auftritte als Pianist eher Mittel zum Zweck als Erfüllung waren, lockte ihn wenig von Hamburg ins Rheinland. Aber um als Künstler aus einem kulturellen Randgebiet Verbindungen zu knüpfen, blieb ihm nichts anderes übrig, als auf die Walz zu gehen.

Ungarn an der Elbe

Für Johannes Brahms begann die Fremde bereits vor der Haustür. Das vor den Toren der alten Hansestadt gelegene Altona wurde zwar ab 1815 Teil des Deutschen Bundes, stand aber bis 1864 unter dänischer Verwaltung. An einem anderen Ende des Ortes begann man kurz nach Brahms’ Geburt damit, die Hafenanlagen vor dem Hamburger Berg, dem heutigen St. Pauli, zu erweitern, denn durch die Industrialisierung wurden Elbe, Nordsee und Atlantik zu wesentlichen Transitlinien in alle Welt. In der damaligen Geschichtsschreibung sprach man über das »in seinen Handelsbeziehungen weltbürgerliche, in seinem innersten Wesen aber kerndeutsche Hamburg«.30 Die expandierende Stadt zog viele Auswanderer auf dem Weg in die USA an. Hamburg entwickelte sich im 19. Jahrhundert zum Umschlagplatz für Waren und Kulturen: Die gescheiterten mitteleuropäischen Revolutionen von 1848/49 und etliche Missernten trieben zahllose Menschen dazu, auf einem anderen Kontinent, der ausreichend Platz bot, einen Neuanfang zu wagen. Nachdem im August 1849 der Aufstand der Ungarn gegen die Habsburger fehlgeschlagen war, strömten zudem etliche der insgesamt etwa 4000 Exilanten aus Ungarn in die Hansestadt, um von dort nach jenseits des Atlantiks auszusiedeln.

In Hamburg bildete sich eine kleine ungarische Gemeinschaft, zu der auch Eduard Reményi gehörte. Er stammte aus Nordungarn, hieß aber eigentlich Eduard Hoffmann – kaum ein Name, mit dem man feurige Rhythmen aus der Region um den Balaton verbindet. Viel eher konnte er mit einem Pseudonym wie Ede Reményi den exotischen Geigenvirtuosen mimen. Er hatte eine traditionelle Ausbildung bei Joseph Böhm am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien durchlaufen, glänzte in seinen Konzerten aber auch mit den Werken verstorbener Klassiker. Zu seinen Glanznummern zählten vor allem Stücke des magyarischen Typus »nach der Art der Zigeuner«. Durch ihn erhielt Brahms, schon lange bevor er das Land je bereiste, eine frühe Prägung und ein Faible für ungarische Melodien.

Claras berühmtester Gegenpart in der Klavierkunst kam ebenfalls aus Ungarn: Liszt Ferenc, oder wie man ihn in deutschsprachigen Gefilden nannte: Franz Liszt. Er konnte ein wenig Ungarisch, war durch seine Mutter deutschsprachig aufgewachsen und beherrschte auch fließend Französisch. Als Reményi den 19-jährigen Johannes Brahms Anfang 1853 überredete, ihn als Pianist auf einer Konzerttour zu begleiten, ahnte dieser noch nicht, dass er innerhalb von nur fünf Monaten seine Feinde und Freunde fürs Leben kennenlernen sollte.

In der Fremde

Als Johannes Brahms und Eduard Reményi am 19. April 1853 aufbrachen, um »auf die Wanderschaft« zu gehen, wie es damals hieß,31 war ihnen keineswegs klar, wo und vor wem sie musizieren könnten, ja, wohin sie der Weg letzten Endes überhaupt führen würde. Ein organisiertes Konzertwesen gab es Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht. Sofern es sich nicht um Starvirtuosen à la Paganini oder Liszt handelte, sahen sich die Interpreten selbst genötigt, Kontakte zu knüpfen, geeignete Räumlichkeiten zu organisieren, ihre Auftritte anzukündigen und mitunter sogar die Karten selbst zu verkaufen. Auch für die 20 Jahre junge Clara Wieck wurden diese Prozeduren ein wichtiger Teil ihres Abnabelungsprozesses von der väterlichen Fürsorge. »Alle Briefchen (was so zum Concert gehört) muß ich selbst schreiben, Freibillette herumschicken, Stimmer, Instrumententräger besorgen und dabei studiren? Das ist ja ein wenig viel«, klagte Clara ihrem Robert; zudem nervten sie die zur Kontaktpflege unerlässlichen »vielen uninteressanten Besuche«.32 Doch auch wenn ihr Vater hoffte, sie würde mit der Selbstorganisation ihrer Auftritte scheitern und kleinlaut an die Pleiße zurückkehren, biss sich Clara durch und fand bei ihren Auftritten in Paris zuletzt Unterstützung bei ihrer Jugendfreundin Emilie List und der Sängerin Pauline Viardot-García, die sie von Gastspielen in Leipzig kannte. »Ich sehe jetzt, daß ich ohne meinen Vater auch in der Welt dastehen kann«, erkannte sie.33

Johannes ging im gleichen Alter mit dem Segen seiner Familie in die Fremde. Sein Ehrgeiz dürfte zunächst einmal darin bestanden haben, mit handfesten Ergebnissen in den Kreis der Seinen zurückzukehren. Er hatte mit Reményi vor dieser Konzerttournee nur in Hamburg und Winsen auf der Bühne gestanden. Durch gelegentliche Auftritte in der Region weckten die beiden Musiker die Aufmerksamkeit eines gut situierten Beamten namens Blume, der als Verwalter über Kontakte in einige Bezirke nördlich der damals preußischen Provinzhauptstadt Hannover verfügte. Auf seinen Rat hin steuerten sie zunächst Lüneburg, Hildesheim und Celle an. Durchaus realistisch erscheint eine Überlieferung, derzufolge Brahms es seinem Kollegen bei einer der Darbietungen ersparen wollte, seine Geige wegen des miserablen Klaviers um einen halben Ton hinabzustimmen. Stattdessen transponierte er im Konzert selbst Beethovens Violinsonate op. 30, Nr. 2 von c nach cis-Moll. Noch als reifer Künstler ließ Johannes in einem Brief an Clara die Bemerkung fallen, das »Transponieren-Lernen« halte er für eine »Übungs- und Gewohnheitssache«, denn »wer alle Tage Sänger zu begleiten hat, wird es bald lernen«.34 Bereits sein Lehrmeister Marxsen hatte ihn stets ermutigt, bedeutende Musikstücke vom Blatt in alle möglichen Tonarten zu transponieren, um dadurch technische Flexibilität zu erlangen. Allerdings dürfte dieses Improvisationstalent den wenigsten aufgefallen sein. Was hingegen ins Auge stach, waren die unterschiedlichen Temperamente. Reményi besaß das, was dem introvertierten Brahms abging: Draufgängertum und ein Talent zur Selbstdarstellung. Der Hanseat begeisterte sich dennoch sein Leben lang für die sogenannte »Zigeunermusik« und schrieb später selbst »Ungarische Tänze« und »Zigeunerlieder«. Die für Norddeutsche exotisch anmutenden Rhythmen und der Elan dieser Musik besaßen den Hauch von Freiheit – sie schien die Musik der mutigen Außenseiter zu sein. Brahms’ eigene Musik indes, die in jener Zeit entstand, erzählte von inneren Kämpfen, wie etwa die ersten Klaviersonaten oder die frühen vom Pianoforte begleiteten Gesänge für Tenor- bzw. Sopranstimme.

Für die Reiseorganisation blieb vorerst Reményi die treibende Kraft. Große Hoffnungen setzte der Magyar in ein Wiedersehen mit seinem früheren Schulfreund Joseph Joachim, der seit Jahresbeginn Konzertmeister beim Hoforchester in Hannover war. Er ahnte nicht, dass sein Begleiter Johannes Brahms ein viel interessanterer Gesprächspartner für Joachim werden würde.

Kultur an der Leine

In dem Briefwechsel, der sich bald nach der ersten Begegnung zwischen Johannes Brahms und Joseph Joachim entwickelte, spielte Reményi nur noch eine Nebenrolle. Joachim ließ lediglich Grüße ausrichten an den »lustigen Kumpan« bzw. den »Reményi barátom«, der ungarische Ausdruck für »Freund Reményi«.35 Obwohl Joseph Joachim erst 22 Jahre alt war, nahm er bereits eine bedeutende Rolle in der obersten Liga im Kulturleben der deutschsprachigen Länder ein. Sein überragendes Talent ermöglichte ihm, als Konzertmeister der Hofkapelle in Hannover auf einen der verantwortungsvollsten Posten eines Spitzenorchesters vorzurücken. Der kunstverständige König von Hannover, Georg V. – ein Cousin ersten Grades der britischen Königin Victoria –, hatte von seinem prachtvollen Schloss aus alle Weichen gestellt, um sein Reich zu einem kulturellen Zentrum auszugestalten. Er musizierte, komponierte vor allem Lieder nebst Klavierwerken und besaß dadurch reichlich Sachverstand, um die Oper sowie das Konzertwesen zu hegen und zu pflegen. Als Johannes Brahms erstmals in die Hauptstadt an der Leine kam, war gerade das neue Hoftheater auf dem Windmühlenberg eingeweiht worden. Der Bau war nicht nur doppelt so groß, sondern auch akustisch erheblich besser als das frühere Schlosstheater an der Leinstraße.

Als Reményi und Brahms durch die Vermittlung von Joachim bei Hofe musizierten, dürften sie auch mitbekommen haben, was man in der Öffentlichkeit zu verbergen suchte: König Georg selbst, der Erleuchtung durch Bildung und Kultur in sein Land bringen wollte, war blind. Als Zehnjähriger hatte der 1819 geborene Monarch sein linkes Augenlicht durch eine Krankheit und sein rechtes vier Jahre später durch einen Unfall verloren, der zu einer Starkapsel führte. Sein Vater bildete ihn dennoch zu einem fähigen Nachfolger heran und fegte Bedenken beiseite, indem er 1842 verfügte, dass bei der Unterzeichnung von Regierungsakten einfach nur vereidigte Zeugen zugegen sein müssen. Als Georg V. nach dem Tod seines Vaters im November 1851 selbst über die weiteren Entwicklungen bestimmen konnte, sorgte Seine Majestät dafür, dass allein der ansehnliche Etat des Orchesters in den folgenden 15 Jahren mehr als verdoppelt wurde. Die Anzahl der Orchestermitglieder stieg zunehmend von 48 (1850), 67 (1858), 71 (1861) auf 75 (1866) und weitere fünf Akzessisten. Zudem hatte eine Frau die Position an der Harfe inne, was seinerzeit selbst bei diesem Instrument ungewöhnlich war. Clara Schumann zeigte sich begeistert von der hohen Qualität der Hofkapelle und schrieb Joachim, »ein solches Orchester, das finden Sie doch in ganz Deutschland nicht mehr«.36 Sie kannte den zwölf Jahre jüngeren Joseph Joachim, seit er als Zwölfjähriger in einem von Pauline Viardot-García im Leipziger Gewandhaus organisierten Konzert aufgetreten war. Am Abend des 19. August 1843 begleitete Felix Mendelssohn Bartholdy den jungen Geiger, der an dem vom Gewandhauskapellmeister gegründeten Konservatorium ausgebildet wurde, am Klavier. Mendelssohn musizierte regelmäßig mit dem kleinen »Teufelsbraten«, wie er ihn scherzhaft bei besonders guten Leistungen nannte. Joseph Joachim besaß ein eher zurückhaltendes Temperament, denn obwohl er aus Kittsee bei Pressburg stammte – dem heutigen Köpcsény bei Bratislava – hatte er, so Brahms’ Freund Max Kalbeck, eine Art, dass er »eher für einen Schwaben oder Sachsen als für einen Magyaren gelten konnte«.37 Letztendlich wurde Joachim derjenige, mit dem Clara Schumann am meisten öffentlich und wahrscheinlich auch im privaten Kreis gemeinsam musizierte.38 Auch ihr Mann Robert arbeitete gerne mit ihm zusammen und im November 1845 sprang Joachim bei einem von ihm geleiteten Dresdner Abonnementkonzert ein, weil Clara erkrankt war.

Kurz bevor Reményi und Brahms bei Joseph Joachim ihre Aufwartung machten, hatten die Schumanns im Mai 1853 beim 31. Niederrheinischen Musikfest mit ihm zusammengearbeitet. Es wurde in diesem Jahr in Düsseldorf ausgerichtet, wo Robert Schumann noch städtischer Musikdirektor war. Clara hatte mit dem Klavierkonzert ihres Gatten brilliert und Joseph Joachim glänzte mit Beethovens Violinkonzert, das bis dahin wenig Liebhaber gefunden hatte. Es handelte sich nicht nur um eines der umfangreichsten Werke dieser Gattung, sondern auch um eines, in dem die Virtuosität klassischer Konzepte allmählich der Ausdrucksvielfalt gefühlsreicher Empfindungstiefe wich, so als ob es sich um eine Sinfonie für Orchester und Geigen-Improvisationen handele. Die gemeinsame ästhetische Grundhaltung trug zu einer überzeugenden Interpretation bei. Hatte Clara an dem jungenhaften Joachim noch gezweifelt, so gestand sie ihm nun zu, »er spielte aber auch mit einer Vollendung und einer so tiefen Poesie, so ganz Seele in jedem Tönchen, wirklich idealisch, daß ich nie solch Violinspiel gehört, und ich kann wohl sagen, nie von einem Virtuosen solch einen unvergeßlichen Eindruck empfangen habe«.39

Joseph Joachim hatte mittlerweile einen ganz anderen Anspruch an seine Kunst entwickelt als der einstige Kamerad Eduard Reményi. Von diesem Temperamentbündel, das gern und gekonnt mit virtuosen ungarischen Zigeunerweisen verblüffte, wurde zu seinem Interpretationsansatz bei Beethoven der Ausspruch überliefert: »Werd’ ich spillen heut Nocht Kraitzer-Sonate, dass sich Horre flieg’n!«40 Jahre später bezeichnete Joachim die auf Gastspielreise befindlichen Reményi und Brahms als »die ungleichen Kunstgenossen«.41 Dass er ihnen eine Auftrittsmöglichkeit bei Hofe vermittelte, hing gewiss mehr mit den Fähigkeiten des Pianisten zusammen. »Nie in meinem Künstlerleben war ich von freudigerem Staunen übermannt worden, als da mir der fast schüchtern aussehende blonde Begleiter meines Landsmannes mit edlem, verklärtem Antlitz seine Sonatensätze von ganz ungeahnter Originalität und Kraft vorspielte«, erzählte Joachim über Brahms und dessen Klavierspiel, denn es war »so zart, so phantasievoll, so frei, so feurig, daß es mich ganz in seinem Banne hielt«.42 Unmittelbar nachdem er Brahms gehört hatte, wie er seine frühen Kompositionen – etwa die fis-Moll-Sonate oder das Scherzo in es-Moll – vortrug, schwärmte Joachim in einem Empfehlungsschreiben an eine einflussreiche Hofdame, Gräfin Bernstorff, wie aufgewühlt er sei durch das »intensive Feuer, jene, ich möchte sagen fatalistische Energie und Präzision des Rhythmus, welche den Künstler prophezeien«. Nicht nur der Interpret beeindruckte ihn. Er war überzeugt, auch »seine Kompositionen zeigen jetzt schon so viel Bedeutendes, wie ich es bis jetzt noch bei keinem Kunstjünger seines Alters getroffen«. Für ein solches Talent legte Joachim gerne ein gutes Wort ein. Er ließ Brahms wissen, er habe »an Dr. Liszt geschrieben, gegen den Sie unbefangen sein können, wie man großen Naturen immer am besten begegnet«.43

In der damaligen Zeit waren Empfehlungsschreiben für Künstler der entscheidende Türöffner für das Vorankommen. Allerdings wiesen die Ratschläge von Joseph Joachim in eine andere Richtung als jene, die Brahms mit Reményi an seiner Seite einschlagen konnte. Natürlich wollte Reményi sich bei seinem Landsmann Liszt vorstellen, der als Weimarer Hofmusikdirektor in einem Haus auf der Altenburg residierte. Joachim unterstützte das Vorhaben, indem er beide mit einem Schreiben ankündigte. Brahms empfahl er indes, falls er und Reményi ihren Weg nicht gemeinsam fortsetzen sollten, dann könne er bei ihm in Göttingen vorbeischauen, wo Joachim die Sommer verbrachte.

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9783955102678
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